Beginnen wir zuerst mit einem eigenartigen Namen: Alexius Meinong. So hieß ein eigenartiger Philosoph Ende des 19. Jahrhunderts, der in Graz lehrte, wo sich noch heute sein Nachlass befindet. Meinong ging vor allem deshalb in die Philosophiegeschichte ein, weil sein gesamtes Denksystem von einem ungleich berühmteren Kollegen, Bertrand Russell, in einem kurzen Aufsatz entkräftet wurde. Danach war Meinong weg vom Fenster. In seinem Essay On Denoting zerfetzt Russell Meinongs Gegenstandstheorie mit einer Leichtigkeit, die in mir gewisse Ringarztgefühle weckt. Ja, ja, er hat ja recht. Aber trotzdem. Es ist schon schade um Meinongs Lehre. Denn in ihr geht es vor allem um etwas, das naturgemäß auch einen Schriftsteller täglich beschäftigt: das Wesen nichtexistenter Dinge. Meinong räumte ihnen ein gewisses Existenzrecht ein. Der Aufenthaltsort der nicht-existierenden Dinge (Einhorn, Pegasus, eckiger Kreis, Robinson Crusoe, Luzifer usw.) wird in der Geschichte der Logik seither als »Meinongs Dschungel« bezeichnet.
Jeder Mensch könne, so Meinong, ohne weiteres auf nicht-existierende Dinge Bezug nehmen, also hätten sie auch eine bestimmte Seinsqualität: in ihrem Sosein. Der eckige Kreis ist eckig, so viel weiß man über ihn. Es ist falsch zu sagen, der eckige Kreis sei rund. Also gibt es eindeutige Wahr- und Falsch-Aussagen über ihn. Also ist er ein Gegenstand, der irgendwie vorhanden ist. Der Pegasus hat Flügel. Es gibt ihn nicht, aber: Er hat Flügel. Die Menschen würden, völlig zu Recht, protestieren, wenn jemand behauptete: »Der Pegasus hat keine Flügel.« Oder sie würden zumindest eine Geschichte erwarten, in der erklärt wird, wie er sie verlor.
Meinong sah die beiden »Es gibt« in folgendem Satz als voneinander getrennte Ebenen an, wusste aber gleichzeitig nicht genau anzugeben, welche Ebenen das sein könnten: Es gibt Dinge, die es nicht gibt. Dieser Satz fühlt sich eindeutig wahr an, denn wir können sie benennen. Damit der Satz »Es gibt Dinge, die es nicht gibt« kein unangenehmes logisches Schneckenhaus bildet, hatte Meinong sich das Sosein ausgedacht (»Etwas ist so und nicht anders«), eine Kategorie also, in der alle nicht-existierenden Dinge aufgehoben und geborgen bleiben, ein wilder Dschungel, den die analytische Philosophie als unsinniges Dickicht abtun musste, um nicht in Widersprüche zu geraten. Aus irgendeinem Grund hasste die analytische Philosophie Widersprüche am meisten. Aber ich bin froh, dass es ihn zumindest einmal gab: den Dschungel aus Wesen und Dingen, die es nicht gibt. Ob Meinongs Dschungel wohl selbst zu den Dingen gehört, die es nicht gibt? Und wenn ja, müsste er sich dann selbst enthalten?
Um die Jahrhundertwende war Graz für kurze Zeit – Russells Widerlegung erschien bereits 1905 in der Zeitschrift Mind – also die Hauptstadt der nicht-existierenden Wesen und Gegenstände. Heute werden solche Hauptstädte auf vielfältigste Weise errichtet, etwa in Form dieser charmanten Webseite, die es seit einigen Tagen gibt: thiscatdoesnotexist.com. Auf ihr kann man einer künstlichen Intelligenz dabei zusehen, wie sie sich Katzen ausdenkt. Das ist sehr entspannend. Die KI hat im Vorfeld, so darf man annehmen, Millionen von Katzenbildern im Internet studiert und dadurch gelernt, wie diese Wesen aussehen.
Natürlich befinden sich auf den meisten Katzenfotos nicht ausschließlich Katzen, sondern auch Gegenstände, Menschen usw. Da es dem schlauen Programm aber vor allem um Katzen geht, was an sich schon ein löblicher Charakterzug ist, arbeitet es auch an gewöhnlichen Objekten oft das Katzenhafte heraus, und so bekommt man häufig Bilder vorgesetzt, auf denen man der Welt beim schmerzlichen Versuch zusehen kann, sich an allen möglichen Stellen in eine Katze zu verwandeln. Bestimmte Oberflächen und Muster haben es leicht, andere quälen sich sehr und gewähren uns einen Blick mitten ins Herz der Finsternis:
Kunsthistorisch lassen sich viele dieser laufend und spontan entstehenden Bilder leicht einordnen. Hier haben wir etwas von Francis Bacon:
Oder das hier, ein wenig erinnert es mich an Markus Lüpertz, wenn er seine abstrakten »Dithyramben« malt, vor allem der große runde Bereich in der Mitte des Bildes, der wie eine Mischung aus einem vergrößerten Daumennagel und einem Mickey-Mouse-Ohr aussieht:
Oder Leonora Carrington:
Oder hier etwas heiter-lichtdurchstrahltes Amerikanisches mit häuslicher Wärme wie von Jane Freilicher oder Joe Brainard:
Oder eine seltsame Alchemiestunde à la Neo Rauch:
Gottfried Helnwein:
Nun muss die künstliche Intelligenz, die zuerst durch das Studium von Bildern gelernt hat, was Katzen sind, und nun selber welche erfindet, notwendigerweise auch Millionen von Memes studiert haben. Memes sind, oberflächlich gesagt, einfach Bilder mit Text. Meist steht der Text oben und unten, und traditionellerweise besitzen die Buchstaben einen scharfen schwarzen Rand. So ist es nicht verwunderlich, dass die künstliche Intelligenz in den vorliegenden Fällen Buchstaben offenbar für so etwas wie einen erweiterten Körperteil der Katze hält:
I RANAR TIMAN TERIE ist die noch am besten lesbare Meldung aus dem Bewusstsein der von Katzen besessenen Intelligenz. Auch über den magischen Spruch DO WOV COVOR RITONOV PEPETRI könnten wir uns den Kopf zerbrechen. Der Rest der Äußerungen ist eine eher schwer im Wachzustand deutbare Traumsprache, deren probeweise Entzifferung dennoch überraschend wohltuend wirkt.
Es ist dies alles übrigens nicht nur ein Blick in ein friedvoll unterhaltsames Zaubertheater, sondern auch in die reale Zukunft. Künstliche Intelligenzen werden mehr und mehr Teile unseres Lebens verwalten, und sie werden dabei uneinholbar genialer und geistesgegenwärtiger agieren als Menschen – allerdings immer mit gewissen Leerstellen. So wie beim Hervorbringen von Buchstaben als geisterhafte Körperglieder der Katzen werden sich auch unvorstellbar kluge Programme irren. Und wir werden sie vermutlich dabei beobachten können. Ich bin gespannt, ob uns diese Irrtümer im Alltag stören werden. Vielleicht werden sie uns zwischendurch sogar real gefährden, so wie Naturkatastrophen (was sie ja auch gewissermaßen wären), vielleicht werden sie uns eher unterhalten und ablenken, sodass wir, beruhigt über welchen Aspekt unseres Lebens auch immer, unser quod erat demonstrandum murmeln können. Oder, wie es im neuen Fachjargon der nichtexistenten Katzen heißt: