»Das Grimmsche Wörterbuch ist, nicht nur für Dichter, ein Zauberkasten«, urteilte Adolf Muschg. Lustigerweise lautet der französische Ausdruck für ein Zauberbuch »Grimoire«. Alan Moore, der magiekundige Comicfürst aus Northhampton, formulierte es ähnlich: »Grimoire is simply a fancier French way of spelling ›grammar‹. To cast a spell, as far as I understand it, is simply to spell.« Es gibt in der Tat keine andere Publikation in deutscher Sprache, in der mehr verzauberte Nischen, heilige Winkel, unheimliche Höhlen und geborgene Täler existieren, als das in gedruckter Form dreiunddreißig Bände umfassende Wörterbuch der verehrten Brüder Jacob und Wilhelm Grimm.
Wofür wird dieses Zauberbuch normalerweise gebraucht? Man schlägt zum Beispiel MAULAFFEN nach, weil es einem lästig fällt, dass man über sie nur weiß, dass sie offenbar gelegentlich »feilgehalten« werden, aber nicht, was sie sind. Man erfreut sich an der Kunterbuntheit der Worterläuterungen, deren Gestalt von langen gelehrten Aufsätzen über »Best-of-Jean-Paul«-Medleys bis hin zu zen-artig unwiderlegbaren Minimalerklärungen reicht, wie etwa: »VIELSTRICHRAUPE, f.: raupe mit vielen strichen« oder »TODTENFRAGER, m. der die todten fragt«, eine Königsdisziplin einzeiliger Poesie. Oder man sucht nach der Buchstabenfolge des eigenen Namens und entdeckt, wie in meinem Fall, höchst geschmeichelt, dass der SETZKOPF über dreierlei Bedeutungen verfügt: 1) oberd. eigensinniger mensch, starrkopf. 2) rundliches hohlgefäsz, zur käsebereitung dienend. Und 3) der kopf der gewöhnlichen niete.
Jedem Grimm-Leser fallen mit der Zeit viele Wörter auf, die er noch nie gehört hat. Vielleicht ist der Ausdruck »noch nie gehört« nicht ganz korrekt, denn vertraut klingen sie alle, GÜRBEL, SPRENZERLING und SPRÖSEN oder WIELICHKEIT, LÜBIG, ZOLPEL und ABERSEL. Die Bedeutungen sind dabei selten etwas Besonderes; aber die magischen Silbenfolgen bleiben im Gedächtnis zurück.
Nun ist es mir leider nicht gegeben, in magischen Silbenfolgen selbst zu dichten. H. C. Artmann konnte es. Von den lebenden deutschsprachigen Dichtern ist Oswald Egger mit diesem Talent gesegnet. Also habe ich es mir seit etwa einem halben Jahr zur Gewohnheit gemacht, für die alten Wörter, die niemand mehr verwendet, neue Bedeutungen zu erfinden. Ich verbreite sie danach in meinem Freundeskreis und achte darauf, die neuen Begriffe aktiv, selbst in Gedanken, zu verwenden. In drei Fällen ist mir die »Übertragung« geglückt: Ich beobachtete, wie Freunde die alten Wörter in ihrer neuen Bedeutung im Gespräch verwendeten, zwei Mal live, einmal in einer Chatunterhaltung. Die Wörter, die so in noch sehr begrenzten Umlauf gerieten, waren »walpern«, »Diech« und »Zweil«.
Die Idee, Wörter mit neuen Bedeutungen zu versehen, ist nicht neu. Ein sehr berühmtes Beispiel ist das Buch The Meaning of Liff von Douglas Adams und John Lloyd. Die Autoren nahmen schottische Ortsnamen und verbanden sie mit Phänomenen aus dem Alltag, die den meisten bekannt sind, aber keinen eigenen Namen tragen.
Meine Sammlung neuer Bedeutungen alter, im tiefen Gedächtnis des Deutschen wohnenden Silbenfolgen entsteht ein bisschen anders, aber folgt im Grunde demselben Prinzip. Sie wird, glaube ich, meine Autobiografie. Mein Leben ist so eindimensional, dass man es gar nicht nacherzählen könnte. Geboren in Graz, dann da geblieben. Mit so was füllt man keine Bücher. Einzig das edle, uralte Genre der persönlichen Vokabelliste scheint sich dieser äußerlich so sediert und pflanzenhaft wirkenden Lebensform auf ganz natürliche Weise anzuschmiegen.
ICHELEI, f: eigenbegeisterung, selbsttrunkenheit. Vor lauter Ichelei behielt er seinen vornehmen weißen Strohhut beim jährlichen Wettschwimmen im Wörthersee auf dem Kopf.
GIRSTE, f.: schneetropfen auf den schultern eines frisch zugestiegenen zugschaffners.
QUURREN, n.: das gurrgeräusch, welches katzen zur begrüszung machen, mit geschlossenem munde; ähnlich einem schnurren, nur mit lautem stimmton.
VERZWUNZEN: auf eine unangenehme frage nur mit geblinzel antworten, mit einem blick, als würde man von grellem licht geblendet.
DIDELINEN, f. plur.: menschliche gestalten in der ferne, die sich, gegen einen sonnigen oder feuererhellten hintergrund betrachtet, in kerzendochtartige figürlein verwandeln. Die Suchmannschaften durchstreiften das Gelände bis zum Abend, und der ganze Bergrücken war voll unheimlicher Didelinen.
STEICH, adj.: starr vor fremdheit. Als er die flinke Ameise an der Fensterluke näher betrachtete und sich fragte, wie kommt eine Ameise in ein Flugzeug, fiel sein Blick auf die Wolkenflächen draußen, und er sank zurück in seinen Sitz, steich und stumm.
DINGSAL, f. stumme auseinandersetzungen mit gegenständen, in stunden fehlender konzentration; festhalte- und wiederfindungsstörungen. Ich konnte nicht schlafen und trieb mich in wachsender Dingsal im Haus herum.
TITSCHE, m. plur.: freche, unvorhersehbare sprünge, die ein rotierender kreisel macht, wie um den betrachter zu unterhalten. Ohne die gelegentlich vorkommenden Titsche wären wir vor den tristen Präsentationsständen der Kreisel-Messe im Stehen eingeschlafen.
DWATSCH, interj.: mit einem nassen fisch geohrfeigt werden.
GARREZEN: beim sichausstrecken am morgen den punkt suchen, an dem man das gefühl bekommt, in ausgestrecktem zustande stecken zu bleiben, worauf man, halb genussvoll, halb in steckenbleibpanik, zu quurren beginnt.
FIDERTSCHE, f.: ein galanter schlag auf den rücken, für gew. vom rücken eines pferdes aus. Ein schnurrbärtiger Reiter kam vorüber und streckte Klärchen, obwohl er sah, dass sie einen Korb Eier nach Hause trug, mit einer schneidigen Fidertsche zu Boden.
FIEK, m.: der nadeldünne lichtstrahl, der nachts durch den türspion in ein hotelzimmer fällt. Ein Fiek lag auf ihrer schlafenden Gestalt, wie ein Angelhaken, ausgeworfen von einer fremden Intelligenz.
EITSTEIN, m.: stein im schuh, der sich, nachdem man ihn einbeinig hüpfend herausgekitzelt und mit einem leisen »plink« am asphalt springen gehört hat, beim gehen wieder aus der fuszsohle herauszubilden scheint.
RÖSCH, adj.: in stummer anklage. Ab dem dritten Ehejahr trug sie ihr Haar nur noch rösch zurückgebunden.
FECHSEN: mit den fingernägeln auf den schneidezähnen tippen, um eine panikattacke abzuwehren. Die Ameise krabbelte das Fenster ab, in elf Kilometern Höhe, er dachte an die Wörter ‘Kabinendruck’ und ‘Sinkflug’ und fechste hinter vorgehaltener Hand, sodass sein Zeitung lesender Sitznachbar nichts mitbekam.1
DIECH, n. gefühl, dasz in genau diesem augenblick, dieser erdensekunde, millionenfach tiere gequält und kinder gefoltert werden. Er setzte sich hin, um zu lesen, aber ein plötzliches Diech kam ihm dazwischen; er schaute zum Fenster hinaus, sein Blick verzwunzen, seine Hände steich im Schoß.
FLAIEN: die rockschöße eines fracks bewegen. Flaiend bewegte er sich durch den Saal, links und rechts Fidertschen andeutend; den Damen stockte der Atem.
FLARRAUGE, n.: auge, das kleine gesichtsfeldausfälle erlebt, ohne erkennbare ursache. Das Mittelmeer sei das Flarrauge Europas, sagte der Minister.
UPPEREI, f.: die tendenz gewisser männer, sich beim reden immer am nächstbesten türrahmen festzuhalten oder und klimmzüge anzudeuten.
URF, m.: mensch in einer warteschlange, der sich so verhält, als stünde er nur zur verhöhnung der anderen, wirklich wartenden, in ihr. An der Gepäckausgabe beneidete er den dunkelgekleideten Urf vor sich, der nur gekommen war, um sich das Karussell der kummervoll bunten Koffer anzusehen.
FLERRE, f.: osterbrauch, südsteirisch, bei welchem kleine weiße kreuze aus holz verschluckt werden. Zur Kirchflerre fand sich die ganze Gemeinde ein, und mein flarräugiges Herz wurde plötzlich gesund.
FLUST, f.: stummes daliegen einer frau. Mit Langmut und Flust ließ sie das Ganze über sich ergehen, während draußen das Korn reifte und die Nobelpreise vergeben wurden.
EBNETTE, f.: die höflichkeit einer frau gegenüber einem mann, den sie körperlich abstoszend findet. Ich sonnte mich eine Weile in ihrer makellosen Einhaltung der Ebnette, aber nach einer Weile wurde ich traurig und erlöste sie, indem ich, Müdigkeit vortäuschend, nach Hause ging.
ELTE, f.: konduktartig langsam dahinschreitende frauengruppe in einem amtskorridor.
ERÖSIGEN: rührung eines deutschen gegenüber österr. ausdrücken, ähnlich der wirkung von kleinen tieren oder kindern. Sie hielt die Redewendung hoch und mochte gar nicht aufhören, sich immer wieder über sie zu erösigen.
WANNENWORP, m.: klagendes rutschgeräusch beim umdrehen eines doch allmählich älter werdenden körpers in der badewanne.
WALPERN: 1) einfach weitersprechen, während die stimme von einem lauten geräusch auf der strasze, zb presslufthammer oder vorbeidonnernder lastwagen, übertönt wird, als besitze der gesprächspartner eine direkte gedankenverbindung zum sprecher, unabhängig von der aktiven geräuschkulisse. 2) innerlich ein selbstgespräch fortführen, obwohl man von einem starken und eigentlich unabschüttelbaren Diech gepackt wird.
WAZEL, m.: mann, der um jeden preis dazugehören will. Auf der Tanzfläche trieben sich nur noch einige Wazel herum, die von den echten Menschen gemieden wurden.
LUMMLICHT, n.: dieses eine jede nacht durchgehend erhellte fenster an einer krankenhausfassade, verziert mit scherenschnitten. Am Neujahrstag ging das Lummlicht endlich aus und die Bewohner konnten freier atmen.
LUMMERICHT, m.: 1) wie kehricht; die nassen fuszspuren auszerhalb eines badezimmers. Kannst du nicht aufwischen, nachdem du geduscht hast, ich rutsch jedes Mal auf deinem Lummericht aus! 2) zellophanhüllen von cigarettenpackungen in einer wiese.
LUCH, f.: mädchen aus der schulzeit, dessen schüchternheit einen noch viele jahre später, über die reine erinnerung, zu rätselhafter grobheit inspiriert. Um sich von der Ameise abzulenken, dachte er, schon im Vorgefühl der Erinnerung die Faust ballend und an die Lippen führend, an eine kleine Luch aus seiner Volksschulzeit.
VORDEL, n.: kleiner kecker faden, der, die gesprächskonzentration zerstörend, zupfbereit aus einem kleidungsstück hervorragt, aber den man nicht ohne grobe belästigung des gegenübers herausziehen kann.
WIEMEN, n.: ein brummgeräusch oder ein schnalzen, welches man von sich gibt, um eine sich während des lesens einstellende peinliche erinnerung zu vertreiben.
ZWEIL, m.: mensch auf der strasze, der verschlungen dahingehende paare teilt, indem er absichtlich oder in schlafwandlerischer zielsicherheit genau ihre mitte ansteuert. Ihr verliebtes Flüstergespräch wurde von einem Zweil unterbrochen, was beide dazu brachte, für ein paar Sekunden leise zu walpern.
WIFTIG.: randvoll mit mitteilungsbedürfnis. Er trieb sich wiftig am Rand des Buchmessestandes herum, deren Betreiber ihn längst als Wazel erkannt hatten.
FRUTTE, f.: das doppelkinn eines bauches.2
1 Fechsen scheint als Wort bekannter zu sein, als ich dachte. Ein Buch von Peter Altenberg heißt Fechsung.
2 Eigentlich handelt es sich hierbei um eine Bedeutungsübertragung bzw. -erweiterung, denn der Originaleintrag bei Grimm lautet: »länglicher einschnitt in bäumen, felsen; in der schweiz.«
Die Collage auf der Startseite basiert auf einem Foto von Dr. Meierhofer(CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons).