»Il me suffit de descendre dans le métro pour entrer dans une
catégorie logique totalement différente … des catégories logiques
où change la sensation du temps. Découvrir brusquement que,
dans certains états de distraction, on a dans le métro cette
impression qu’il est possible d’habiter un temps n’ayant rien à
voir avec le temps qui existe à la surface …«
(Julio Cortázar in einem Interview)
Als Glitches bezeichnet man Fehler im Programmcode eines Computerspieles. Es sind meist visuelle Effekte oder Abläufe, die von den Spielentwicklern so nicht beabsichtigt waren. Sie gehören also zu der kostbaren Kategorie absichtslos entstandener Kunst. Für mich sind sie die vielleicht bedeutendsten, mich am stärksten umtreibenden und elektrisierenden Beispiele surrealer Poesie in unserer Zeit.
Vieles, was als moderne Erzählstrategie gilt, verläuft im Grunde entlang der Logik von Glitches: Fehler, Blasen, Verwerfungen im Gewebe der Wirklichkeit. Sie weisen darauf hin, dass die Parameter, nach denen wir existieren, alle veränderbar sind. Gegenstände kommen abhanden, Menschen springen durch Zeit und Raum, jemand begegnet seinem Doppelgänger, ein anderer entdeckt eine Parallelwelt. In einem wenig bekannten Fragment Franz Kafkas etwa beugt sich ein Mann, der mit seiner Frau ins Theater gegangen ist, über die Logenbrüstung und entdeckt etwas sehr Seltsames:
»Was wir für die Samtpolsterung der Brüstung gehalten hatten, war der Rücken eines langen dünnen Mannes, der, genau so schmal wie die Brüstung, bis jetzt bäuchlings da gelegen war und sich jetzt langsam wendete, als suche er eine bequemere Lage.«
Ein klassischer Glitch.
Auch die einzigartige Erzählwelt von Bruno Schulz besteht fast nur aus Glitches. In Isaac Bashevis Singers großem Roman Schatten über dem Hudson sind Glitches die Zeichen eines nachlassenden Gelehrtenverstandes: »Professor Schrage besaß einen Hausschlüssel, doch jedesmal, wenn er gezwungen war, ihn zu benutzen, mußte er erst ewig tasten, bis er das Schlüsselloch gefunden hatte. Es war, als würde die Öffnung verschwinden, und sosehr er auch suchte, er fand sie nie. Seelenlose Dinge spielten mit ihm Verstecken, machten ihn meschugge, tricksten ihn aus. […] Wie oft waren seine Hausschuhe verschwunden! Zehnmal konnte er sie suchen unterm Bett, sie waren nicht da. Und beim elftenmal standen sie direkt vor seiner Nase, als wäre nichts geschehen. Anscheinend besaß jeder Gegenstand die Fähigkeit, sich zu verstecken, zu sehen und selber unsichtbar zu sein.«
Fehler, Sprünge, Kurzschlüsse, Diskontinuitäten. Dies ist das Vokabular der Welt, wie sie den Menschen der Moderne mehr und mehr erscheint, oder auch: wie sie sich Menschen bisweilen sehnsüchtig erträumen.
Es gibt Glitches, die eine rein ästhetische Qualität besitzen. Sie sind im Bestiarium unbeabsichtigter Spielfehler mit Sicherheit die häufigsten. Sie kommen, in überraschend universaler Gestalt, in zahlreichen Spielen vor. Oft sehen sie so aus, dass Figuren plötzlich von Zuckungen heimgesucht werden und sich in ein Gliedergeflimmer verwandeln, das plötzlich kilometerweit zu reichen scheint, bis zum Horizont oder quer durchs Universum. Wer es zum ersten Mal sieht, erschreckt sich. Danach wird es genießbar.
Das Spiel Skate 3 ist bekannt für die vielen majestätischen Glitches dieser ersten Kategorie: unerklärliche Geisterpistolen, die einer Figur folgen, Mauern und Straßen, die an irgendeiner Stelle durchlässig werden und mit dem Spieler verschmelzen, plötzliche Verzerrungen, die den Körper eines Skaters befallen, verrückter Slapstick unbelebter Gegenstände:
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
An einer Stelle des Videos (2:48) fällt der Spieler sogar vollständig aus der Welt, unter ihm ein schwarzes, von keinem Programmierer mit Textur versorgtes Loch, auf das er zustürzt. Die Stadt über ihm schwebt davon, reduziert auf ihre plane Landkarte. Es ist schwer, nicht an den Tod zu denken, wenn man das sieht.
Etwas Erhebendes und sonderbar Tröstliches geht von diesen Glitches aus, die ästhetische Wirkung urbaner Körper-Poesie. Sie zeichnen eine Welt, in der alles eine weiche Membran ist, ein ungefährliches, universal bedienbares Panorama. Alles ist aus Flächen zusammengefügt, die für einen gemacht sind, die man berühren und mit denen man endlos interagieren kann. Klar, man kann ohne Vorwarnung einfach aus der Welt kippen, wie ein Zeitreisender, aber das ist nur ein geringes Pfand für die Aufenthaltserlaubnis zu einer solchen Welt. Möglicherweise spiegelt die Welt der Skate-3-Glitches auch etwas von dem neuen Lebensgefühl wieder, das uns in den zahlreichen auf Youtube zu findenden Videos russischer Jugendlicher begegnet, die betrunken und weltvertrauensvoll auf hohen Stahlgerüsten und Hausfassaden herumturnen, an einer Kante hängend einarmige Klimmzüge oder einen Handstand auf einem Stahlträger machen, während der Wind an ihnen reißt, wie um sie zu erinnern, dass das kein Traum ist:
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Die zweite Kategorie von Glitches sind jene, die eine – ebenfalls unbeabsichtigte – Geschichte erzählen, die sowohl innerhalb der Spielwelt als auch unseres Universums eine bedeutungsvolle Symbolkraft besitzen. In einer alten Ausgabe der Zeitschrift Grand Street (Nr. 72) entdeckte ich vor einigen Jahren einen Text der amerikanischen Autorin Sarah Emily Miano (die, wie Wikipedia mitteilt, 2003 einen Roman in Form eines Schneekristalls veröffentlichte). Es ist ein poetischer Erinnerungsessay über W. G. Sebald, bei dem Miano studierte und mit dem sie, so zumindest deutet sie an, ein kurzzeitiges Liebesverhältnis hatte (»I placed my cold hand on his cheek«). In dem Text zitiert sie einige Schreib-Empfehlungen, die »Max« seinen Studenten gegeben hatte, darunter eine, welche besagt, die Anwesenheit von Geistern sei immer eine guter erzählerischer Einfall: »Spirit presence is always a good idea.«
Die 2001 veröffentlichte Wirtschaftssimulation Zoo Tycoon enthält einen legendären Glitch, der wie eine Illustration dieser uralten narrativen Weisheit wirkt: Geistertiere.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Wenn man in einem der Zoogehege herumwandert, erscheinen häufig Schemen bestimmter Tiere. Diese geben sogar Laute von sich. Fans des Spiels hielten sie für einen beabsichtigten Effekt und interpretierten die Erscheinungen als verstorbene Tiere, die noch ihre alten Gehege abschreiten. Aber der Spielentwickler dementierte diese Vermutung. Neugierig geworden, untersuchten Programmierer den Code des Spiels, ohne Ergebnis. Bis heute wurde kein Hinweis auf die mögliche Ursache der geisterhaften Tiere gefunden.
Wenn ich darüber nachdenke, haben viele Glitches der Kategorie Zwei mit Tod und Sterben zu tun. So etwa der in Skyrim, dem fünften Teil der Rollenspiel-Reihe The Elder Scrolls, auftretende Fehler, dass sich der Spieler plötzlich, ohne dass er erklären könnte, weshalb, in einem kreuzförmigen (!) Raum wiederfindet, aus dem es kein Entkommen gibt. Dieser Raum ist eine sehr genaue Darstellung der Hölle, oder, wie der Spieler in dem folgenden Video selbst vermutet, ein Symbol des schlechten Gewissens. Denn er selbst kann nicht raus, er kommt immer wieder zurück, wenn er einen der vier Ausgänge benutzt. Und: der Raum ist voll mit den Figuren des Spiels, die er selbst umgebracht hat. Einige der Figuren bewegen sich noch und reden vor sich hin, wiederholen, in klassisch jenseitiger Manier, einen einzigen oder eine Handvoll Sätze. Es lohnt sich, das Video in seiner ganzen Länge anzusehen, denn sein poetischer Gehalt und seine symbolische Strahlkraft sind stärker als die so mancher Horrorerzählung:
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Gegen Ende versucht der Spieler, die toten Körper wegzuschaffen. Wenn er selbst schon nicht aus dem jenseitigen Raum entkommen kann, sollen wenigsten die Menschen, die er getötet hat (und die er, aus Frust oder Furcht, in zwei Fällen sogar noch einmal tötet), zumindest nicht ständig vor ihm herumliegen und ihn an seine Taten erinnern. Aber jedes Mal, wenn er einen der toten Körper aus einem der vier Ausgänge wirft, fällt dieser in unendliche Tiefe und erscheint danach wieder direkt hinter ihm, in der Mitte des Höllenraumes. Die Tatsache, dass dieser Glitch unbeabsichtigt, also zufällig, entstanden ist, versetzt einen sensiblen Betrachter in einen sonderbaren Taumelzustand. Welche Präsenz innerhalb der Skyrim-Welt hat sich gebündelt, verschworen, um uns diese bemerkenswerte Geschichte zu erzählen? (Streng genommen ist nicht die Existenz der Kreuzkammer, sondern die Anwesenheit des Spielers in diesem vermutlich nur als programmiertechnischer Hilfsbehälter gedachten Kadaverraum der eigentlich Glitch.)
Hier ein anderer Glitch, ebenfalls mit dem Tod befasst, aus dem populären Kriegsspiel Call of Duty. Einige der NPCs (non playable characters, also Spieler, die nur vom Computer gesteuert werden), haben sehr begrenzte Aufgaben. Einige sind zum Beispiel nur dazu da, ein paar Sätze zu sagen. Wenn sie zu früh sterben, vergisst das Spiel mitunter, dass sie als Tote eigentlich nicht mehr sprechen können. Also liegen sie als Untote auf dem Boden und wiederholen unermüdlich ihren Satz, zu dessen Artikulation sie einzig auf der Welt waren.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Nichts kann sie erlösen. Wenn man sie noch mal erschießt, spritzt zwar Blut, aber der Monolog hört nicht auf:
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Eine Mischung aus Kategorie eins und zwei bilden die herrlichen »Manimals« des Western-Spiels Red Dead Redemption. Hier geschieht innerhalb des Spieles etwas höchst Seltsames. Das Spiel spannt aus Versehen menschliche Glieder über tierische Bewegungsvektoren. Fertig ist das Menschentier. Es gibt Vogelmenschen:
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Es gibt Puma-Menschen:
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Und noch eine Reihe anderer wunderbarer Entsetzlichkeiten. Warum diese surrealen Figuren entstehen, ist nicht genau bekannt. Es existieren einige Anleitungen, wie man sie erzeugen oder hervorrufen kann, aber weshalb das Spiel auf diese seltsame Laune verfällt, weiß niemand. Das albtraumhafteste Wesen in dieser Reihe ist der Schlangenmann. Von ihm werde ich kein Video verlinken, ich möchte lieber versuchen, ihn (und seine wahnsinnigen Augen) zu vergessen.
Die Glitches in Red Dead Redemption erzählen die alte Geschichte der Durchdringung der Realität mit Mischwesen oder auch, je nach Standpunkt, von der Tatsache, dass Tiere ebenfalls souveräne Geschöpfe mit Innenleben sind. Oft braucht es das rätselhafte Versehen, den Sekundenschlaf der programmierten Vernunft, um diese heilsamen, inspirierenden Monster auszubrüten.
Computerspiele scheinen, auf ihre streng begrenzte Weise, einige der Sensibilitäten des modernen Bewusstseins selbst nachzuspielen, ob es nun Phantasmagorien und Versuchungen des Heiligen Antonius sind oder fühlbare Anwesenheiten von Geistern, Wiedergängern, Zeitreisenden, Parallelweltenbewohnern. Oder, so wie im seltsamsten Fall eines geschichtenerzählenden Glitches, die Unauslöschlichkeit der Vergangenheit:
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
In dem postapokalyptischen Shooter-Rollenspiel Fallout 3 entstehen manchmal, unter bestimmten Bedingungen, so genannte »Gibs«, zersplitterte menschliche Körperteile, die wie ein Mahnmal in der Landschaft aufragen. Organe, die eigentlich überall verstreut herumliegen müssten, schweben an ihren alten Stellen, Augen ohne Schädel, Teile des Fußes – alles wie von einem kindlichen Gott zusammengefügt, der vorhat, dem Ganzen auf plumpe Weise neues Leben einzublasen. Der Grund für diese Erscheinungen ist ein ähnlicher wie bei den sprechenden Toten von Call of Duty: Oft vergisst das Spiel nach einem Neustart, dass eine Figur tot ist, weiß aber noch, dass diese aus Einzelteilen besteht. Die Tatsache des »Zerfetztseins« bleibt bestehen, aber die Tatsache des Todes selbst wird verwischt, verschusselt. Manchmal beginnt ein Fleischhaufen sogar zu reden und mit der Spielfigur zu interagieren. Eine tiefe und fast nüchterne Würde geht von diesen Gebilden aus. Inmitten eines Explosionsfeldes entstehen sie, oder am Rande von Schlachtfeldern. Und erzählen. So wie die berühmten unerlösbaren Gestalten, die auf Mauern und Treppenstufen nach der Atombomben-Detonation in Hiroshima zu sehen waren, bis irgendjemand, aus welchem Grund auch immer, sie entfernte.