Am 4. Oktober 2018 ist eine Sojus-Kapsel mit drei Astronauten in der kasachischen Steppe gelandet. Sie trug den Russen Oleg Artemjew und die beiden Amerikaner Drew Feustel und Ricky Arnold, die mehr als ein halbes Jahr auf der Internationalen Raumstation ISS verbracht hatten. Feustel hat während seinem Aufenthalt eine ganze Zahl von spacewalks hingelegt, die Gesamtdauer seiner Weltraumspaziergänge wird nun mit unglaublichen einundsechzig Stunden angegeben.
Ich schaute mir die Landung, so wie jedes Mal, im NASA-Livestream an und staunte, wie sehr und bis in welche Detailtiefe dieser ganze unaufhörlich von kundigen Kommentatoren begleitete Vorgang einem von alteuropäischer Bildsymbolik geprägten Jahreszeiten-Mysterienspiel glich. Es war eine Art Herbstfest.
Eigentlich überrascht es, dass mir das nicht schon viel früher aufgefallen ist. Wozu habe ich mich sonst jahrelang in James George Frazers Der Goldene Zweig festgelesen? Aber immerhin habe ich mir im Tagebuch schon im April dieses Jahres Folgendes notiert: Ostern: auch der russische Kosmonaut bekommt Palmkätzchen nach der Landung der Sojus (10.4.).
Das Erste, was der Betrachter im Livestream zu sehen bekommt, ist der Fallschirm, an dem die Sojus-Kapsel hängt. Er gleitet mehrere Minuten lang im makellos blauen Himmel, und durch den Fallschirm geht eine rhythmische Bewegung: Er atmet. Wer will, kann selbst mitatmen und dabei etwas Andacht und Mut sammeln.
Schon seit wir denken können, pflegen auf ganz ähnliche Weise aus dem Himmel die Boten der Ahnen oder Götter zu fallen. Dinge, die am Himmel gesehen werden, waren schon früh, zumindest für die Bevölkerung Europas, Mitteilungen einer jenseitigen oder über das eigene Schicksal ratschließenden Instanz. Aus irgendeinem Grund, vielleicht aufgrund von wiederkehrenden Meteoritenschauern, die die Bruchstücke einer vor 12.000 Jahren ungeheure Zerstörung über die Erde bringenden Kometenkollision darstellen und deren Auftauchen und Verhalten man aus diesem Grunde streng überwachen musste, vielleicht aber auch aufgrund der von den langsam wandernden Sternbildern und Planeten ungeheuer stimulierten Vorstellungskraft der Menschen, kamen »wir« einst auf die Idee, große Kreisgräben anzulegen, Megalithbauten und später Observatorien, mit denen man etwas Licht in die Angelegenheit bringen konnte.
Die Luke wird geöffnet, und ein Mann – man kann ihn sich als einen unter der Dorfjugend Auserwählten denken, ähnlich dem, dem die Ehre zukommt, das Osterfeuer zu entfachen – taucht in den Schacht zu den drei im Inneren liegenden Männern. Er wühlt erstaunlich lange.
Dann tragen seine Anstrengungen Früchte – aus der Kapsel wird, Sinnbild für Wiedergeburt, der erste der zurückgekehrten Söhne geholt:
Rund ist sein Kopf und sehr stilisiert, man könnte auch sagen: »aufs Wesentliche reduziert«, wie es dem hohen Anlass gebührt.
Gleich nach der symbolischen Geburt verwandeln sich die Geburtshelfer in Träger der königlichen Sänfte und befördern den Mann – es handelt sich, wie der Moderator uns informiert, um Oleg Artemjew – zu seinem vorgesehenen Platz. In der Tat wurde mitten in der kasachischen Steppe ein sakraler, das heißt, den normalen Verhältnissen enthobener Ort errichtet: Flatternde Absperrbänder bilden ein Quadrat auf dem sandigen Boden, umgeben von ringsum meilenweit bis zum Horizont reichendem Nichts, wo abgesehen von einigen Vögeln (man sah sie ganz zu Beginn der Liveübertragung durchs Bild schwirren) kaum etwas zu leben oder gedeihen scheint.
Nun kommt es zum Ritual der, wie der Religionsforscher René Girard in seinem grundlegenden Werk Das Heilige und die Gewalt es nannte, »umgekehrten Krönung des Königs«. Bei Girard ist eine Belegstelle dafür eine Szene aus Shakespeares Richard II., wo der in schwere Schuld gefallene König mit seinen Entthronern sozusagen gemeingemacht wird, indem sie ihn entkleiden und entkrönen, und dadurch seine Schuld überwindet. Die Szene im Livestream erinnert stark daran. Der glänzende Helm wird ihm abgenommen, das Headset von der Wange gelöst, die Beine werden mit einer Decke verhüllt. Man kniet sich vor ihn hin und wischt an ihm herum.
Nun folgt ein besonders archaischer, tiefste Bewusstseinsschichten ansprechender Vorgang. Gerade haben wir ja die Geburt des ersten rundköpfigen babyartigen Wesens aus dem capsule hatch miterlebt, dann wurde das Wesen zu einer Art sitzendem Buddha arrangiert, der poliert und hergerichtet wurde, und nun kommt ein Mann und kniet sich vor Artemjew mit Gabengeschenken. Er reicht dem gütig lächelnden Kosmonauten als Erstes eine riesige Melone, die dieser sofort begeistert entgegennimmt und segnet, indem er sie an sein Gesicht drückt. Anschließend wird die Opfergabe bestaunt, kommentiert und hochgehalten.
Es folgt weiteres eng mit der herbstlichen Jahreszeit verbundenes Gemüse, eine Karotte, ein prächtiger länglicher Kürbis und am Ende sogar eine kleine rotwangig-kecke Birne, die aussieht, als müsste sie Sophie heißen. All diese Gaben legt man auf Artemjews Schoß wie auf einen Altar. Als wollte man eine Arcimboldi-Allegorie aus ihm bauen. Er lässt alles mit güldenem Gesichtsausdruck über sich ergehen.
Nun wird der Zweite ans Licht gezerrt. Natürlich ist, wie in jedem alteuropäischen Märchen, die Zahl Drei von zentraler Bedeutung. Wir befinden uns also ungefähr in der Mitte der Mysterienhandlung.
Es ist Drew Feustel. Seine Geburtshelfer verwandeln sich, ganz wie zuvor, in die Träger der königlichen Sänfte und bringen ihn in den winddurchsausten Tempelraum unter freiem Himmel. Nicht etwa mit einem Rollstuhl oder einem Golfmobil werden diese Männer transportiert, nein, eigenhändig getragen werden sie, von passenderweise vollkommen identisch gekleideten Adepten.
Noch mal ein kurzer Schwenk zurück zu dem unter all seinem Herbstgemüse zufriedenen und zweifellos milde gestimmten Artemjew. Geht es ihm gut? Ja, er freut sich. Voll Frucht und Fülle. Season of mists and mellow fruitfulness, / Close bosom-friend of the maturing sun.
Dann der letzte in der Runde: Ricky Arnold. Auch er wird mit der Hilfe auserwählter Männer durch den engen Tunnel gezogen, so wie früher die ins Mannesalter eintretenden Knaben von uns durch einen geweihten Fuchsbau oder durch die Astgabel eines heiligen Baumes gedrückt wurden.
Und nun sitzen sie alle auf ihren Thronen, bedeckt von den blauen recovery blankets mit der Aufschrift ROSCOSMOS, in denen man es vermutlich ungeheuer warm und kuschelig hat. Sie bewegen sich nicht, heben nur gelegentlich eine Hand zum Daumenhoch. Sie sind Statuen, und man bringt ihnen weitere Gaben: Handys, Kameras, Make-up, Tücher, Getränke. Die Priesterkaste widmet sich außerdem dem ausgebrannten Vehikel. Man sichert es, dankt ihm und verneigt sich.
Ob es wirklich ein guter Herbst werden wird? Eigentlich spricht ja nun alles dafür. Die Opfergaben wurden gut aufgenommen, und auch das dunkelgoldene Glühen des in der Steppe zu Ende gehenden Tages stimmt den Betrachter zuversichtlich. Möge die Ernte gut werden, die allmählich einfallende Kälte erträglich und der Streit mit unseren Nachbardörfern kurz und unblutig.
James George Frazer hat in der vollständigen, zwölf dicke Bände umfassenden Ausgabe von The Golden Bough Tausende Riten und Gebräuche aus der ganzen Welt versammelt, denen man dieses hier, das sich meist vierteljährlich in der kasachischen Steppe wiederholt, mühelos als Geschwister zugesellen darf. Vielleicht werden all diese alten Strukturen nie ganz von der Erde verschwinden, obwohl es schon wahr ist, dass wir inzwischen nicht mehr in jedem Spätsommer das Kornmädchen im Dorf erwählen, dem die letzten gemähten Ähren überantwortet werden, und dass wir auch nichts mehr wissen von der jährlich wiederkehrenden Trauer um den toten Gott Adonis, dessen Leichnam im Frühling uns die Flüsse rot färbt, und ebenso wenig vom grimmen Geist des Winters, der von uns mit Holzmasken und Schlagstöcken aus den Wäldern gejagt wird, sobald die ersten Singvögel wieder im Land zu hören sind, ja nicht mal Glocken taufen oder segnen wir noch, weder Brunnen noch Baumkronen noch Seilknoten nehmen mehr unsere jungverstorbenen Toten auf, denn all das brachte uns, wie manche behaupten, nicht weiter.
Zum Abschluss wird die Kapsel vom erstgeborgenen Artemjew signiert.
Seine Unterschrift auf der verkohlten Kapselhülle sieht für mich ein wenig wie ein Hase aus. Auch das fühlt sich sehr stimmig an. Bekanntlich führen wir uns nicht immer selbst die Hand.
Das Leben wird nun, da es Herbst ist, allerorts schwermütig und wund werden, um dann im Winter scheinbar vollständig wegzusterben, aber das ist, wie uns wieder einmal versichert worden ist, nur ein vorübergehender Eindruck. Der Frühling kehrt gewiss zurück. Dafür haben die Priester gesorgt, am point of touchdown in der Steppe südöstlich von Schesqasghan.