Es gibt da dieses neue Computerspiel, Getting Over It, entwickelt von Bennett Foddy, und ich kann nicht anders, als davon zu erzählen. Es wurde im Dezember 2017 auf Steam veröffentlicht, man kann es aber auch auf iOS fürs iPad herunterladen.
Am Anfang des Spiels sieht man den Protagonisten in einem felsigen Tal sitzen. Er hockt bis zum Nabel in einer Art Kessel, aus dem bei bestimmten Bewegungen Wasser schwappt. In seinen Händen hält er einen langen Hammer. Mit diesem Hammer und mitsamt dem Kessel muss er sich fortbewegen – einen steilen Berghang hinauf. Das ist der Sinn des Spiels.
Allerdings funktioniert das kaum. Mein um gezielte Koordination bemühtes Herumwirbeln des Hammers setzt jeden Klettererfolg meist nach kurzer Zeit zurück auf null. Der Kesselreiter verzieht dabei keine Miene. Aber eine Erzählerstimme schaltet sich von Zeit zu Zeit ein und weist, untermalt von jazziger Klaviermusik, auf die äußerst frustrierende Natur des vorliegenden Spiels hin. Der Erzähler – Bennett Foddy selbst – beruhigt und ermutigt den Spieler, und berichtet nebenbei, wie das Spiel entstanden ist, auf welches frühere Spiel es Bezug nimmt (Sexy Hiking) und streut bei berühmten Menschen (Nietzsche, Shakespeare, C. S. Lewis, Jennifer Aniston) entlehnte Zitate über Hingabe, Verzweiflung, Tod und Vergeblichkeit ein.
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Ich spielte Getting Over It am ersten Tag etwa zwei Stunden lang und immer wieder kam ich nach unvorstellbaren Mühen in eine gewisse Höhe – einmal sogar, aus reinem Glücksversehen, über die extrem schwierige, »Devil’s Chimney« genannte Stelle hinaus –, aber danach fiel ich wieder zurück. Ich fiel jedes Mal. Meist bis ganz zum Anfang, in das felsige Tal. Ich brüllte, lachte, lief durchs Zimmer, verlor den Verstand.
Selten habe ich etwas so Kathartisches erlebt.
Einmal, nach zehn Minuten verzweifelter Bemühungen, durch den Teufelsschornstein zu gelangen, schlüpfte ich oben mit ungünstigem Linksdrall heraus und fiel, fiel, fiel … Die Erzählerstimme stellte fest: »Don’t hate the player, hate the game.« – Ice T.
Jesus. Wer dieses Spiel mit ruhiger Seele spielen kann, der besitzt keine.
Je strahlender und absurder meine turmhohen Misserfolge ausfielen, desto stärker wurden, nach einer gewissen Zeit, die mit ihnen verbundenen Endorphinausschüttungen. Am Ende war ich einer zenartigen, paradoxen Ekstase nahe. Das Universum hasste mich, und ich fand das großartig. Vielleicht müssen wir uns den auf die Erde zurückfallenden Ikarus als einen ekstatischen Menschen vorstellen.
»Ich« am Teufelsschornstein:Und wenige Sekunden danach, zurück am Anfang:Motherfucker.
Exakt hundert Jahre vor Getting Over It, im entbehrungsreichen Kriegswinter 1916/17, schuf ein Vorgänger von Bennett Foddy ein in vielen Punkten ähnliches Werk:
»Verbraucht alle Kohle; leer der Kübel; sinnlos die Schaufel; Kälte atmend der Ofen; das Zimmer vollgeblasen von Frost; vor dem Fenster Bäume starr im Reif; der Himmel, ein silberner Schild gegen den, der von ihm Hilfe will.«
So beginnt Franz Kafkas Erzählung Der Kübelreiter. Sie handelt von einem Mann, der keine Kohle mehr zum Heizen besitzt. Er macht sich also, in einer Mischung aus Galoppieren, Fliegen und Hüpfen, auf seinem leeren Kübel – denn so schreiben es die Gebote des Bettelns vor – auf zum Kohlenhändler.
»Mein Kübel ist schon so leer, daß ich auf ihm reiten kann«, heißt es. Ein Satz, der an eine Erkenntnis des großen Mystikers Meister Eckhart erinnert: »Wäre der Mensch imstande und könnte er einen Becher vollkommen leer machen und leer halten von allem, was zu füllen vermag, auch von Luft, der Becher würde zweifellos seine Natur verleugnen und vergessen, und die Leere trüge ihn hinauf bis zum Himmel.«
Natürlich zerschellt die aufrichtige, opferbereite Selbsterhaltungsmission des frierenden Mannes an der gleichgültigen Natur der Welt, in diesem Fall verkörpert durch die mitleidlose Frau des Kohlenhändlers. All sein Betteln und Bemühen haben ihm nichts geholfen, am Ende wird er, federleicht, wie er ist, von ihr mit einer Bewegung ihrer Schürze fortgewedelt.
Bennett Foddy war bis 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Philosophie in Oxford und Princeton, heute lehrt er Game-Design an der New York University. Aus seiner Feder stammt das berühmte minimalistische QWOP, sozusagen eines der Schlüsselwerke zeitgenössischer Frustrationskunst, in dem es um nichts anderes geht, als eine Figur zum Laufen zu bringen:
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Aber anders als einfach einen Knopf für »Laufen« zu haben, besitzt der Spieler vier Knöpfe, die vier verschiedene Einzelglieder des Läufers steuern: die Tasten Q, W, O und P. Mit ihnen die Figur auch nur halbwegs vernünftig zu bewegen, ist halsbrecherisch schwer. Erbärmlich zappelt der Läufer und verrenkt sich, während der Spieler hilflos das richtige Ineinander der Körpersegmente zu erahnen versucht. Am Ende liegt er im Staub der Rennstrecke, grotesk verformt im Hohlkreuz. Was für eine armselige Gliederpuppe der Mensch auf Erden doch ist!
Ein ganz ähnliches Bewegungsprinzip liegt auch dem ungleich vielschichtigeren Getting Over It zugrunde: Die Steuerung des Kesselreiters mit seinem absurden Eisenhammer ist ebenso kontraintuitiv und gegenläufig, aber zugleich anatomisch vollkommen logisch. Man kann springen, sich irgendwie an vorspringenden Elementen entlanghangeln, aber wenn man es nicht tausendmal gemacht hat, wird man dennoch immer wieder abrutschen und zurück auf die Erde fallen.
Das Konzept von extrem frustrierender Kunst ist weiß Gott nicht neu. Was mir allerdings im vorliegenden Fall neu scheint, ist die außergewöhnlich hypnotische Qualität dieses Spiels. Man wird augenblicklich süchtig nach dieser Welt, nach den unmöglichen Bewegungen, dem Rhythmus und der Gestik. Etwas an der Figur des herumzappelnden, vergeblich an allen möglichen Widerständen mit seinem Hammer Funken schlagenden Kesselreiters, etwas an dem herrlichen Sonnenschein und der interessanten Welt übereinandergetürmter Möbelstücke und Gebäude, in der er zu leben gezwungen ist, dringt tief ins Hirn. Man kann nicht mehr aufhören. Oder, um einen bekannten Satz von Proust zu variieren: »Nach einer Sekunde schon hat man es stundenlang gespielt.«
Bennett Foddy selbst hat auf seiner Webseite einen kleinen Essay über Frustration in Spielen veröffentlicht: Eleven Flavors Of Frustration. Darin nennt er unter anderem das Spiel Grave von Increpare – ich habe nachgesehen, das gibt es tatsächlich –, bei dem der Spieler lebendig begraben ist. Und er kann am Sarg scharren. Mehr geht nicht. Man kann das Spiel auch auf Pause schalten und damit die Zeit anhalten, ein Privileg, das die Wirklichkeit nicht genießt. Aber sonst ist das Spiel grausam realistisch: Der Spieler bleibt für immer im Sarg und scharrt. Oder das Spiel Punishment von Messhof: Hier muss man immer alle vorhergehenden Levels noch mal durchspielen, nachdem man ein neues bezwungen hat.
Wie sich herausstellt, existiert eine eigene Community, die sich mit Herz, Sammlerverstand und Leidenschaft solchen seelenzersetzenden Spielen widmet.
»›Was will er also haben?‹ ruft der Händler. ›Nichts‹, ruft die Frau zurück, ›es ist ja nichts; ich sehe nichts, ich höre nichts; nur sechs Uhr läutet es und wir schließen. Ungeheuer ist die Kälte; morgen werden wir wahrscheinlich doch viel Arbeit haben.‹
Sie sieht nichts und hört nichts; aber dennoch löst sie das Schürzenband und versucht mich mit der Schürze fortzuwehen. Leider gelingt es. Alle Vorzüge eines guten Reittieres hat mein Kübel; Widerstandskraft hat er nicht; zu leicht ist er; eine Frauenschürze jagt ihm die Beine vom Boden. (…) Und damit steige ich in die Regionen der Eisgebirge und verliere mich auf Nimmerwiedersehn.«
Mit diesem abrupten Endbild reißt Kafka seine Geschichte mitsamt der Figur von uns los, und es scheint, als könnte dieser Satz auch Bennett Foddy als Leitidee für die Endszene von Getting Over It vorgeschwebt sein: Wenn alle Hindernisse überwunden sind, stößt sich der Kesselreiter von der Spitze des letzten Funkturms ab und schwebt in den Weltraum. Er schlägt noch ein paarmal mit dem Kopf gegen ein paar Asteroiden, dann gleitet er davon.
Zugegeben, ich kenne dieses Ende nur aus YouTube-Clips. Denn ich werde den Teufel tun und Getting Over It tatsächlich durchspielen. Lieber warte ich für immer, angefeuert vom Rausch meines unermüdlichen Versagens, am Fuße des ungeheuren Berges, ähnlich jenem Lautenbauer namens Belacqua, den Dante im vierten Gesang des Purgatorio antrifft. Belacqua hockt mit vor das Gesicht gezogenen Knien unter einem Felsen und weigert sich, den steilen Läuterungsberg in Richtung Sündenvergebung und Paradies zu erklettern. Er ist einfach noch zu träge dafür, zu sehr dem alten Erdenleben verhaftet, kurz: zu menschlich.