Im letzten Beitrag habe ich die Titel meiner frühesten Erzählungen (aus dem Jahr 2002) aufgelistet. Die Leser und Leserinnen dieses Beitrags konnten sich ein paar Geschichten aussuchen, deren Inhalt ich nun hier nacherzähle:
1
Der Tod eines Gentleman, annonciert in der Zeppelin-Zeitschrift
Diese Geschichte ist ein Nachruf auf einen gewissen Julius Treibel, der mit einem selbstgebauten Rucksack-Helikopter in den Bergen unterwegs war. Als Nebel aufkam, wollte er offenbar zurück ins Tal fliegen, verhedderte sich allerdings in den Seilen einer Gondelbahn. Zwar rettete er sich in eine der Gondeln, aber die stürzte dann mit ihm ab, in den Tod. »Julius Treibel wird uns«, so der Nachruf, »als der große Zeppelin-Navigator in Erinnerung bleiben, der er war.« Im Weiteren wird erklärt, wie er als Kind zu Hause auf dem Balkon jahrelang die hohe Kunst der Zeppelinsteuerung übte. Mit Blumentöpfen und alten Fahrradspeichen baute er die Betriebselemente eines Zeppelin-Cockpits nach und »übte glühend«. Jeden Tag. Auch nach der Schule. »Aber als er volljährig war, brach der Krieg aus und verhinderte, dass unser Freund Julius Treibel jene Ausbildung beginnen konnte, nach der sein Herz verlangte.« Er wird als Infanterist in die Antarktis (!) geschickt und dort von einer norwegischen Granate verwundet. Zwei Jahre später kehrt er nach Hause zurück. Der Krieg hat einige Städte vollkommen zerstört, und es gibt auch keine Zeppeline mehr. Die siegreichen Skandinavier haben alle Zeppelin-Fertigungshallen geschlossen, der Luftraum wird von Heißluftballonen beherrscht. Der kleine, für Passagiere gedachte Teil an der Unterseite der Zeppeline wurde von den Vertretern der neuen Besatzungsmacht umgewandelt in Straßenbahnen. Diese unschönen Gefährte fahren nun durch alle Städte. (Sie werden in der Folge zum Emblem der Nachkriegszeit.) Julius Treibel bewirbt sich als »Straßenbahn-Chefkondukteur«. Die Ausbildung dauert normalerweise drei Jahre. Aber er schafft sie in sechs Monaten. Für den Rest seines Lebens fährt er durch die Straßen seiner Stadt. »Und in manchen Augenblicken träumte er wohl, sitzend hinter dem komplizierten Steuer seiner Straßenbahn, von einem riesigen, metallisch grauen, mit Helium gefüllten Phantomgebilde über sich. Wir verlieren mit Julius einen treuen Freund und geliebten Kameraden. Möge seine Asche leicht sein wie der Wind und bald außerhalb der Reichweite dieses finsteren Jahrhunderts.«
2
Texttafel vor dem neunten Gehege
Wenn man im Lexikon unter der Phrase »dick aufgetragen« nachschlägt, muss diese Geschichte erscheinen. Also, hier der Inhalt: In diesem Gehege, so die Texttafel, sieht man den Affen Pierre, der einen Tinnitus hat. Es wird erklärt, aus welcher Gegend in Afrika der Affe stammt. Man kann den Tinnitus, so die Erklärung, genau so wie bei einem Menschen, natürlich nicht »von außen aus dem Tier heraushören«. Aber man kann dem Affen dabei zusehen, wie er dasitzt und einnickt und wieder aufwacht und irritiert herumblickt, unsicher, was dieser elende Dauerton sein mag, den er seit Jahren hört. Jeden Tag um 9.30 Uhr und um 18.30 Uhr findet eine Fütterung statt. Und einmal im Jahr, meist im Herbst, so informiert uns die Texttafel (tatsächlich durch einen schwarzen Rahmen auf dem Papier dargestellt), versuche Pierre, sich das Leben zu nehmen, was natürlich von den Pflegern mit Leichtigkeit und Routine verhindert werde. Für diesen Event seien allerdings, aufgrund des großen Interesses, Voranmeldungen nötig.
3
Mein Abend mit den drei vollkommen identischen Tauben
Eine frühere Version der Geschichte war einfach nur ein Spiel mit dem Wort »identisch«, das so verwendet wird, als wäre es eine Eigenschaft, die ein Wesen auch ganz für sich haben kann: »Gleich beim Eintreten sah ich, dass es eine Übertreibung gewesen war. Die erste Taube war nur in Ansätzen identisch – die zweite durchaus, die dritte war tatsächlich äußerst identisch – aber es war insgesamt genug Identität da, um das Ganze sehr verwirrend zu machen. Ich saß vor ihnen am Küchentisch und hörte ihren mysteriösen Gurrlauten zu.« Und so weiter. Am Ende wird rätselhafterweise erzählt, dass ein Kind zu seiner Mutter sagt: »Ich will nicht mehr identisch sein!«
Dann gibt’s noch eine andere Version der Erzählung, die allerdings Fragment geblieben ist. Sie beginnt so: »Mein Freund hatte sich in einer Tierhandlung drei vollkommen identische Tauben gekauft und wollte sie mir nun zeigen. Er rief mich deswegen spät am Abend an. Ich sagte ihm, dass mir diese Tiere Angst machen und dass ich lieber zu Hause bleiben wolle. Am nächsten Morgen lagen drei Polaroids vor meiner Wohnungstür. Sie zeigten alle das exakt gleiche Bild: eine graue Taube mit einem kleinen schwarzen Fleck am Hals. Ich sammelte die Bilder auf und warf sie sofort weg. Es war Teufelswerk, ich wollte damit nichts zu tun haben.«
Natürlich erscheint dann eine Taube an seinem Fenster. Und der Freund ruft an, er solle bitte vorbeikommen. Die Tauben wollten ihn unbedingt sehen. Die Erzählung bricht ab, als der Freund von einer der drei vollkommen identischen Tauben ins Auge gepickt wird. Er schreit und will sich an der Angreiferin rächen. Aber da stehen die drei identischen Tauben vor ihm, gurren und gockeln am Boden herum, und er weiß nicht, welche ihn attackiert hat.
4
Das große Gefangenendilemma von Alrau
Der Titel bezieht sich auf das »prisoner’s dilemma«. Dies wird hier erklärt: https://www.youtube.com/watch?v=jUTWcYXVR5w. In meiner Geschichte allerdings erklärt der Gefägniswerter den beiden Gefangenen das Gefangenendilemma. Dafür braucht er bereits eine ganze Seite. Es liest sich wie eine erzählte Spieltheorie-Vorlesung. Ich hatte im Oktober 2001 gerade angefangen, Mathematik zu studieren, und irgendwo musste ich die ganze Klugscheißerei, die sich in mir angesammelt hatte, schließlich loswerden. Aber zurück zur Geschichte: Nach der Erklärung fragt man die Gefangenen, welche Strategie sie einschlagen wollen, jetzt, wo sie wissen, wie das Dilemma aussieht und welche die beste Strategie ist. Es wird versichert, dass der jeweils andere dieselbe Erklärung bekommen hat. Die Geschichte möchte, glaube ich, den Anschein erwecken, ab diesem Zeitpunkt immer komplizierter zu werden, aber in Wirklichkeit reden nur alle ständig aneinander vorbei. Es ist nervtötend. Am Ende sind beide Gefangenen in vollkommenen Nonsense verstrickt, lallen und pinkeln sich in die Hose. Großartig. Sie werden, da sonst nichts mehr mit ihnen anzufangen ist, zusammen in eine Zelle gesperrt und – beginnen dort zu vögeln. Jawohl. Ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht war es so eine Art von… ah, keine Ahnung. Die Geschichte schließt jedenfalls mit einer außerordentlich schrecklichen Sexszene, von der ich nur diesen einen Satz wiedergeben möchte: »Ohne [den anderen] wahrzunehmen, trieb er bereits engstirnig auf seinen Orgasmus zu.«
5
Fleischmanns Trauer um einen verrückt gewordenen Kirschbaum
Diese Geschichte handelt von einem alten Mann, Prof. Albert Fleischmann, der auf einem eingezäunten Grundstück einen Kirschbaum entdeckt, der ihm irgendwie seltsam vorkommt. Die Bewohner des Hauses sind offenbar nicht zu Hause. Fleischmann geht immer wieder hin und schaut sich den Baum durch ein Fernglas an. Dann fällt es ihm auf: Der Kirschbaum ist verrückt, er produziert »so etwas wie Kirschen, aber es sind keine Kirschen mehr!« Er stellt aus der Ferne Berechnungen an über diese seltsamen Kirschen, die der verrückt gewordene Baum hervorbringt. Sie leuchten golden und erscheinen Fleischmann sogar in seinen Träumen. Er macht sich Gedanken (zweieinhalb Seiten lang), wie schlimm es dem Baum ergehen muss, dass er solche Symptome zeigt. Seine Besitzer sind nicht da, und der Baum ist zweifellos sehr traurig und einsam. – Am Ende stellt sich heraus, dass es ein Apfelbaum ist. Döööh. Aber es kommt noch besser: Herr Fleischmann erkennt seinen Irrtum und geht spazieren. Hier der einzige gute Satz der Geschichte: »Fleischmann hatte einen schaukelnden Gang, als begleite ihn ständig ein Diener mit einer Tuba.« Auf dem Spaziergang sieht er plötzlich einen Mann in den Wolken, ein riesiges Gesicht, bärtig und glatzköpfig, das ihn verfolgt. Aus den Nasenlöchern des riesigen Gesichts spritzen Blitze und schlagen in ein nahes Gebäude ein, das sofort in Flammen steht. Fleischmann schüttelt seinen Kopf und sagt: »Es ist bestimmt nicht das, wofür ich es halte. Ich hab mich ja schon beim Baum geirrt.« Die letzten Sätze der Geschichte lauten: »Und so wurde, im Jahr des Herrn 1998, die Stadt vor weiteren Blitzen des Allmächtigen bewahrt. Der einzige Mann auf der Welt, der den Allmächtigen sehen konnte, entschied sich, ihn zu ignorieren. Und alles dies haben wir einem verrückt gewordenen Kirschbaum zu verdanken. Seitdem trägt unsere Stadt den Namen HOLZ.«
6
Erlebnisaufsatz: Wie ich meinen ersten Sklaven bekam
Martin H., ein Schüler, beschreibt in seinem Aufsatz, wie seine Eltern eines Tages einkaufen gehen und mit einer großen Teppichrolle zurückkommen: »Da war ich aber sehr gespannt, was mir meine Eltern da mitgebracht hatten!« Sie rollen den Teppich auf und darin liegt ein Junge: »Er hatte dunkle Haut und einen kleinen Turban auf dem Kopf. Sein Oberkörper war nackert, sodass man seine Brustwarzen sehen konnte. Seine Brustwarzen waren auch ganz dunkel, fast schwarz. ›Das ist Amil‹, sagte mein Vater und half dem Buben aufzustehen. ›Der ist jetzt dein Sklave. Behandle ihn gut, er hat uns ein Schweinegeld gekostet.‹« Amil schläft unterm Bett von Martin. Er begleitet ihn auch zum Spielen in den Park. Ein anderes Kind quält Amil, und Martin sagt: »Der gehört dir nicht!« Am Ende wird Amil an einen Ampelmast gebunden und zurückgelassen, nachdem Martin, der ständig vergaß, Amil zu füttern, seinen Sklaven verprügelt hatte, als dieser seine Stoffbären zu essen begann: »Ausgerechnet meine Bären! Ich trat auf Amils Gesicht, und er duckte sich, und ich ergriff Papas Wörterbuch und haute damit mit voller Granate auf Amils Schädel, sodass er Stücke von der Füllung wieder ausspucken musste und davon ganz benommen war.« Am Ende der Geschichte steht eine Notiz des Lehrers:
Erreichte Note: Gut (2 +)
Die Rechtschreibung hat sich, im Vergleich zum letzten Mal, erstaunlich gebessert. Das Thema wird von dir sehr genau behandelt. Es gibt noch ein paar Unsicherheiten mit Tempus, Formulierung und mundartlichen Ausdrücken (z.B. »mit voller Granate« – vielleicht besser: »mit voller Kraft«).Insgesamt ein enormer Fortschritt zu letzter Woche!
Prof. Setz
Ich hatte Glück, denn niemand hat sich die allerpeinlichsten Geschichten ausgesucht und gewünscht. Diese verstecken sich nämlich hinter den eher unauffälligen Titeln.