Der Anfang des Grimm’schen Wörterbuchs ist schöner als der der Genesis:
A , der edelste, ursprünglichste aller laute, aus brust und kehle voll erschallend, den das kind zuerst und am leichtesten hervor bringen lernt, den mit recht die alphabete der meisten sprachen an ihre spitze stellen. a hält die mitte zwischen i und u, in welche beide es geschwächt werden kann, welchen beiden vielfach es sich annähert. Vorgeschichte und geschichte unserer sprache verkünden solche übergänge allenthalben…
Im Grimm’schen Wörterbuch stehen die schönsten und wunderbarsten Erklärungen der Welt. Zum Beispiel lernen wir, dass »landschaftliche namen des brummkreisels« SCHNURRKATER und SCHNURRKAUZ lauten. Oder wir stoßen, nur wenige Zeilen darunter, im Eintrag zu SCHNURRSAM, auf die majestätische Beschreibung eines Menschen: »mit schnurrsam affectirtem ernste«.
Oder die kleine Todesanzeige, die sich im Artikel zu FRUCHT findet. Zur Etymologie dieses Wortes heißt es unter anderem: den Slaven blieb ihr plod, den Lithauern ihr vaisus, den Letten ihr auglis. Doch an unverdrängt hängt noch eine Fußnote, die uns erzählt: »Mit diesem worte sollte Jacob Grimm seine feder von dem werke leider für immer niederlegen. das übrige bis zu ende des so weit geführten buchstabens ist meine arbeit. Weigand.« Ausgerechnet dieses Wort war es, das sein letztes sein sollte: unverdrängt.
Das Wort TATZELWURM fehlt leider! – Dafür allerdings habe ich ein neues Tierwort gelernt: MOLDWURM, das eine Art Salamander bezeichnet. Die Silbe Mold– ist glücklicherweise mit MOLCH verwandt, dem schönsten einsilbigen Wort in deutscher Sprache.
Und hier noch einige weitere Lieblingsfundstücke:
NICHT, m. n., das zinkweisz, die zinkblume, auch weiszer galmei, galmeiflug genannt. Und weiter heißt es: ein weiszes zinkoxyd, das in den messinghütten gewonnen wird. man unterscheidet weiszen und grauen nicht.
Es existiert sogar der Begriff weisznicht. Man stelle sich den Dialog vor:
»Wie heißt dieses hellfarbene Zinkoxyd, das in euren Messinghütten gewonnen wird?«
»Weißnicht.«
»Ehrlich? Ich dachte, du arbeitest da.«
»Ja, eben, Weißnicht.«
»Okay, okay.«
»Weißnicht!«
»Ja, ist ja schon gut!«
TOT, TOTE, auch mit ö, m. und f., taufpate und patenkind, auch hebamme. Ausgerechnet. »Hol die Tote, meine Frau liegt in den Wehen!«
ICHELEI, f. – ist nicht, wie man denken könnte, eine Beschreibung von Eigenbegeisterung oder Selbsttrunkenheit, ähnlich dem Wort ESELEI. Nein, es bedeutet: »cyprianus alburnus, kleiner weiszfisch.«
Das wunderschöne Verb GELSTERN. Es müsste sofort wiederbelebt werden. Es bedeutet »gellend schreien, laut heulen«. Und es reimt sich auf Elstern. Es ist fast zu gut, um wahr zu sein. Vielleicht wird es deshalb nicht mehr verwendet.
ESEL – allerdings als Adjektiv! Eine »esle« Entscheidung. Ebenso AUGE – »die augen Kleider«, im Sinn von offenstehend. Wie flüssig das Deutsche einmal war.
ZWIESEL, adj., doppelt. Man könnte es heute noch verwenden: »mit zwiesler Zunge sprechen.«
WORT, f., nd. wort, das nur in der bedeutung ‚erhöhte hausstätte’ eingang in die nhd. schriftsprache gefunden hat.
MUND, f. schutz, schirm, gewalt.
SCHMETTERLICH, adj. fragilis – so könnte man also, wollte man dessen Zerbrechlichkeit besonders hervorheben, sagen: »Ein schmetterlicher Schmetterling«.
Das Wort HANDKEHRUM las ich zuerst falsch als HANDKERUHM und erschrak. Aber dann bemerkte ich meinen Fehler und las die Definition: adv. wie man eine hand umdreht (sp. 361), plötzlich, geschwind, in der Schweiz üblich Stalder 2, 17; auch in den sinn völlig, ganz überstreifend. Eigentlich ein schönes und nützliches Wort. Aber sobald man versucht, es laut auszusprechen … – ein unheimlicher Effekt, sofort wird das zuerst fehlgelesene Wort deutlich hörbar und saugt das andere, korrekte Wort ab: Handke-Ruhm, Handke-Ruhm, immer wieder … Man probiere es selbst aus. Nur die innere, stille Lesestimme ist von dieser Verwandlung ausgenommen.
FLAUM, m. – allerdings nicht verwandt mit Flaum im Sinne von Federkleid. Dieser FLAUM bedeutet verblüffenderweise: kot, dreck, schmutz. (lutum, sordes, colluvies), ahd. floum. Phlegma ist damit verwandt. Besonders interessant: woroltfloum = colluvies mundi. Was also so viel bedeutet wie »Weltgedränge, Weltenchaos, Weltengemisch, Weltgemisch«.
FLEDERMAUSMASKE – hat nur eine einzige Belegstelle und in »Der Komet« von Jean Paul: »Lustigkeit ist die beste Fledermausmaske des Nehmens, sogar des Geizes.«
HIMBEERE, f., eine schneckenart.
ALRAUNDELBERIN, f. kluge frau oder hexe, die nach alraunen gräbt.
Im Eintrag zu FUCHS findet sich eine wunderbare Formel für den Vorgang des Sterbens, in der Art von »den Geist aufgeben«, »ins Gras beißen« oder des dämlichen »in die ewigen Jagdgründe eingehen«. Sie ist, neben Tomas Tranströmers Wendung »sich in Horizont verwandeln« (siehe sein Gedicht Der vergessene Kapitän), zu meiner Lieblingsformulierung für das Sterben geworden: »den Füchsen zu theil werden.«
STERN, m., ein kleiner weiszer seevogel.
Ich freue mich über weitere Fundstücke in den Kommentaren! Auch gern aus anderen Sprachen.