Christoph Nußbaumeder wurde für seinen Roman Die Unverhofften mit dem Literaturpreis des Wirtschaftsclubs im Literaturhaus Stuttgart 2021 ausgezeichnet. Im Rahmen der Preisverleihung am 29. November 2021 hielt er die folgende Rede.
»Itʼs the economy, stupid.« Als ich neulich Bill Clintons legendären Wahlkampfslogan aus dem Jahr 92 wieder gelesen habe, dachte ich mir, der Spruch ist nicht nur knackig und frech, er birgt vor allem eine einfache Wahrheit, schließlich dreht es sich immer irgendwie um die Wirtschaft. Denn im Ineinandergreifen von Sein und Bewusstsein geht es stets auch darum, wie wir unsere Bäuche und Bankkonten füllen, wie wir unsere Arbeit ausrichten sowie Strategien entwickeln, möglichst angenehm zu leben. Und die Ökonomie ist die Haushaltung, die Organisation all dessen. Jeden Tag aufs Neue.
Beim Schreiben an den Unverhofften hatte sich in mir das Bestreben verfestigt, die große wie die kleine Haushaltung im Blick zu behalten. Ich wollte die zeitgeschichtlichen Verteilungspolitiken, jene Entscheidungen, die über das Maß der angefüllten Bäuche und Konten befinden, als Begleit-, mindestens als leicht vernehmbare, immer wieder einsetzende Hintergrundmusik mitschwingen lassen. Für diese wirtschaftshistorischen Melodien sind nicht immer nur die schallenden Ereignisse relevant, also die lautstarken Krisen und Crashs, sondern ebenso die unscheinbaren Gesetze und Verordnungen, die ihre Wirkung erst Jahre später entfalten.
Bei Thomas Piketty, dem renommierten französischen Wirtschaftsprofessor, konnte ich dann später nachlesen, was ich während der Arbeit an meinem 120 Jahre umspannenden Roman rudimentär herausgeschält hatte: »Wenn die Kapitalrendite dauerhaft höher ist als die Wachstumsrate von Produktion und Einkommen, was bis zum 19. Jahrhundert der Fall war und im 21. Jahrhundert wieder zur Regel zu werden droht, erzeugt der Kapitalismus automatisch inakzeptable und willkürliche Ungleichheiten …« Die weltweiten Lockdowns im Zuge der Pandemie haben diese rasante Entwicklung zusätzlich beschleunigt; die Aktienkurse schießen in die Höhe, und die Gegenwart schickt sich an, die Zukunft zu fressen. Zugespitzt könnte man sagen, ein Kapitalismus in dieser Ausprägung, dem reale Wertschöpfung immer weniger bedeutet, ist der Feind der Marktwirtschaft. Und zum ersten Mal in der Geschichte produziert fast jeder kostenlos den Kapitalstock großer Konzerne, indem er beispielsweise Dinge auf Facebook hochlädt oder sich mit Google Maps bewegt. – Man erkenne den Baum an seinen Früchten. Die überwiegende Mehrheit wird wohl kaum davon naschen.
Unsere Gesellschaftsordnung bewegt sich wieder in die Niederungen herab, die Louis Brandeis vor gut 120 Jahren vorfand. Der spätere Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten bilanzierte nüchtern: »Wir können eine Demokratie haben oder konzentrierten Reichtum in den Händen weniger – aber nicht beides.« Die Menschen müssten sich entscheiden, in welchem Herrschaftssystem sie leben wollten, in einer Demokratie oder in einer Oligarchie.
Im Spannungsfeld von Profit und Arbeit begegnen sich auch viele meiner Romanfiguren, über die Zeitläufe hinweg fechten sie stellvertretend den übergeordneten Kampf zwischen Macht und Gerechtigkeit aus. Ein nie enden wollender Konflikt, eine andauernde Konfrontation unterschiedlicher Interessen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist dabei durch dialektische Widersprüche geprägt – durch Widersprüche, die buchstäblich miteinander im Austausch sind und sich gegenseitig Kontur und Dynamik geben. Spannungen solcher Art mögen in ihrer Intensität variieren, gelegentlich auch ganz versiegen, doch sie bleiben charakteristisch für den historischen Prozess. Es gibt meiner Auffassung nach keine Auflösung der Widersprüche und demzufolge auch kein Ende der Geschichte. Es wird auch kein goldenes Zeitalter der immerwährenden Harmonie eintreten. Um aber als Individuum nicht zu einem passiven Objekt im Strudel der Ereignisse zu verkommen, ist es unerlässlich, sich bewusst zu machen, wo man steht und was man wirklich anstrebt. Dazu gehört freilich ein gesellschaftliches Klima, das universelle Toleranz sowie die Mündigkeit zur Selbstbestimmung zulässt. Ohne einen umfänglichen wirtschaftlichen Wohlstand durch Bildung und Teilhabe möglichst Vieler am politischen Prozess wird dies jedoch kaum gelingen.
»In die Poesie«, schrieb Thomas Bernhard einmal seinem Verleger Siegfried Unseld, »gehört die Ökonomie, in die Phantasie die Realität, in das Schöne das Grausame, Hässliche, Fürchterliche hineingemischt.« Literatur vermag in der Tat mehr, als sachbuchartige Informationen zu vermitteln, sie besitzt die Fähigkeit, Zwischentöne und Differenzierungen zu artikulieren, ohne in belehrende oder gesinnungshafte Prosa abzudriften. Vielmehr zeigt sie Freiräume auf zu offenen Entwürfen des Lebens. Denn so wie wir gefüttert werden, sind wir nicht zu sättigen. Kein noch so ausgeklügelter Businessplan gewährt uns Trost und Humanität, keine algorithmenbasierte Wissenserschließung garantiert uns echte Freiheit. Der Mensch braucht ein menschliches Gegenüber, um sich selbst darin zu erkennen.