Christoph Nußbaumeder wurde für seinen Roman Die Unverhofften mit dem Grimmelshausen-Preis 2021 ausgezeichnet. Im Rahmen der Preisverleihung am 14. Oktober 2021 in Renchen hielt er die folgende Rede.
Man hat mich öfter gefragt, warum ich mir die Anstrengung, 120 Jahre auf fast 700 Seiten abzubilden, angetan habe. Die Kosten-Nutzen-Rechnung, mit der immer mehr Kollegen operieren – Schreiben ist schließlich ein Geschäft wie jedes andere –, ergab eindeutig eine Hochrisikoinvestition. Die Frage hätte deshalb auch lauten können, welch geistige Umnachtung hat dich dazu bewogen, diese Arbeit anzufangen? Und in der Tat, dreieinhalb Jahre lang nahezu tägliches Graben im Textsteinbruch, als Orientierungshilfe nur ein Theaterstück zur Hand, das aber keine verlässliche Auskunft über Seitenstränge, Nebenfiguren, geschweige denn über den Anfang und das Ende der Geschichte geben konnte. Hinzu kam, dass die finanziellen Mittel meiner Expedition schrumpften, während der Lieferdruck beständig zunahm.
Warum bloß hast du dir das angetan?, auch ich habe mich das öfter gefragt, habe mich im Stillen verflucht, meine Hybris bereut, am eindringlichsten im November 2019, als ich für einige Wochen in einem finnischen Häuschen hockte, gewissermaßen im Tunnel, Sonnenaufgang um 9, Sonnenuntergang um 3, im Begriff, das letzte Viertel zu bewältigen. Plötzlich aber fiel mir nichts mehr ein, keine Schreibblockade im herkömmlichen Sinn, ich wusste einfach nicht mehr, wie die Geschichte weitergehen sollte … Ich hatte mich verlaufen, war irgendwo im Handlungsgestrüpp hängen geblieben. Nach einem Waldspaziergang und drei Gläschen finnischen Wodkas ereilte mich immer noch kein Wunder, der Eingriff Gottes blieb aus. Auf mich selbst zurückgeworfen redete ich mir ein, dass ein gutes Fragment auch nicht zu verachten sei. Schließlich aber, noch in derselben Nacht, wandelte sich in mir die Frage von »Wie geht es weiter?« zu »Worum geht es dir eigentlich?«.
Die Antwort auf diese Frage war gleichsam die entscheidende vor der finalen Weggabelung. Willst du die Tragödienspirale weiterdrehen, oder willst du die Möglichkeit eines Auswegs schaffen, der die Dynamik des Unglücks unterbricht?
»Worum geht es dir eigentlich?« – Ich habe mich für den Ausweg entschieden, weil ich nicht anders konnte, und mit einem Mal lichtete sich das Gestrüpp. Dieses Eigentliche – als hätte ich es immer gewusst, aber nie zu formulieren verstanden – war zudem auch der Grund, all die Mühen auf mich zu nehmen: zu beschreiben, dass der Schmerz überwindbar ist. Im düsteren Herbstfinnland ging mir also ein Licht auf, aber auch die Erkenntnis, dass die lichten Momente bereits gestreut vorhanden waren. Als Perspektiven über den Tod hinaus. Und noch etwas schien mir bei den »Unverhofften« wichtig. Der Traum von einem Langzeithorizont. Von einem Roman, der viele Geschichten innerhalb einer großen erzählt, der das Persönliche und Gesellschaftliche im Raum der Gründe nahezu gleichrangig in Augenschein nimmt.
Vergangenes historisch artikulieren, schreibt Walter Benjamin, heißt nicht, es erkennen, »wie es denn eigentlich gewesen ist«. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.
Wenn wir Menschen fragen, was in ihnen vorgeht, mögen sie sich noch so sehr um Aufrichtigkeit bemühen, sie werden die Wahrheit nicht sagen. Die Zensur des Schamgefühls läuft parallel mit. Sie wissen, es ist gefährlich, sich dem anderen vollständig anzuvertrauen. Die Angst, der andere könnte den Finger in die Wunde legen, ist ihnen gegenwärtig. Der strafende Blick, die Furcht vor dem sich darüber Lustigmachen hält sie davor zurück, wirklich offen zu sprechen. Im Roman dagegen ist diese Offenheit möglich, ein substanzieller Text fordert dies geradezu ein. Die Innenräume der Figuren auszuleuchten, ohne sie anzuklagen, verdrängte Verletzungen zur Sprache zu bringen, ohne zu moralisieren. Mit Grimmelshausens Zeitgenossen Spinoza gesprochen: Es gehe darum, menschliche Handlungen nicht zu verlachen, nicht zu beklagen, nicht zu verdammen, sondern zu verstehen. – So kann sich Menschlichkeit vertiefen. Denn ähnlich wie ein Traum die Kontrolle über sich selbst abbaut, so vermag ein Roman eine Brücke zu den tiefsten seelischen Schichten zu errichten. Lassen Sie mich noch eine andere Brücke schlagen, eine zu Ruth Klüger, der ersten Preisträgerin des Grimmelshausen-Preises. In ihrem ausgezeichneten Roman weiter leben. Eine Jugend gibt es eine eindrückliche Passage, in der sie ein Gespräch in einer Uni-Kantine wiedergibt:
Ich sitze am Mittagstisch mit einigen Göttinger Doktoranden und Habilitanden. Einer berichtet, er habe in Jerusalem einen alten Ungarn kennengelernt, der sei in Auschwitz gefangen gewesen, und trotzdem, »im selben Atem« hätte der auf die Araber geschimpft, die seien alle schlechte Menschen. Wie kann einer, der in Auschwitz war, so reden? fragte der Deutsche. Ich hake ein, bemerke, vielleicht härter als nötig, was erwarte man denn, Auschwitz sei keine Lehranstalt für irgend etwas gewesen und schon gar nicht für Humanität und Toleranz. Von den KZs kam nichts Gutes, und ausgerechnet sittliche Läuterung erwarte er? Sie seien die allernutzlosesten, unnützesten Einrichtungen gewesen, das möge man festhalten, auch wenn man sonst nichts über sie wisse. Man gibt mir weder recht, noch widerspricht man mir. Deutschlands hoffnungsvoller intellektueller Nachwuchs senkt die Köpfe und löffelt verlegen Suppe. Jetzt hab ich euch mundtot gemacht, das war nicht die Absicht. Eine Wand ist immer zwischen den Generationen, hier aber Stacheldraht, alter, rostiger Stacheldraht.
Die Szene ist eine erhellende Lektion über die Folgen von systematischen Misshandlungen, ebenso über die Unkenntnis darüber. Wen will man nun hier in die Verantwortung nehmen, in dieser Spirale von Affekten? Der einzige Weg aus dem Teufelskreis heraus ist neben der Empathie wohl der Terrainwechsel hin zu einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Betrachtung. Beim Schreiben durch die Jahrzehnte habe ich mich stets auch gefragt: »Who gets what, when and how?« Lasswells Definition von Politik. Wer macht Gewinn auf Kosten von wem. Man muss genau hinschauen, um zu verstehen, wie die Rädchen ineinandergreifen.
»Der Krieg ernährt den Krieg«, hieß die Losung zu Grimmelshausens Zeiten während des Dreißigjährigen Kriegs, dem Vietnam des 17. Jahrhunderts. Ein schier endloses Schlachten, die Religion als Vorwand im Kampf um Macht und Territorien. Ein durchschnittliches Leben nicht viel mehr wert als ein Sack Kartoffeln.
Wir blicken oft mit Gewissheit in die Vergangenheit und sind optimistisch, dass wir die richtigen Lehren daraus gezogen und törichte Ansichten korrigiert haben. Und doch sind die Erkenntnisse flüchtig. Die ethische Klarheit, die sich uns in der Rückschau erschließt, wirkt selten in die Gegenwart hinein. Jeder erwachsene Mensch, egal, wie gebildet, wie vermögend, wie gesund er sei, ist daher immer und immer wieder aufgefordert, wachsam zu sein, um die Einfallstore für jegliche Totalitarismen zu gewahren, auch wenn diese sich heute bisweilen hinter smarten Technologien verbergen oder sich uns anderweitig auf leisen Sohlen ins Gehirn einschleichen.
Machen wir uns nichts vor, selbst wenn der Schmerz überwindbar ist, es treten neue Schmerzen auf, das Getriebe der Welt steht nicht still. Permanent findet ein ökonomischer Krieg statt. Wir töten nach wie vor, was uns gesund machen könnte, mit offizieller Lehre. Und Simplicissimus irrt immer noch durch die Gegend wie ein Getriebener. Dennoch lohnt es sich für jeden Einzelnen, wachsam zu bleiben. Der Gleichgültigkeit anheimzufallen hieße nichts weniger, als die Freiheit über Bord zu werfen und einen geistigen Tod vor dem finalen Ableben zu zeitigen.