Zu DDR-Zeiten im Schatten des protegierten BFC Dynamo, in der Gegenwart der ewig zweite Berliner Club nach Hertha BSC, beweist der 1. FC Union Berlin, wie man seinen Platz im Konzert des großen Fußballs finden kann. Christoph Nußbaumeder hat sich unter die Fans begeben und die Stimmung auf sich wirken lassen. Zum Saisonauftakt der 2. Bundesliga am 28. Juli, wo auch Union wieder mitmischt, hier nun seine Beobachtungen aus dem Fanblock.
Ostersonntag in der Alten Försterei, ein Heimspiel gegen Kaiserslautern. Und eine Ahnung von Frühling im Südosten Berlins. Hier ist es sonnig, während im Rest der Stadt noch über die zähe Nachwinterkälte geflucht wird. Doch selbst ohne die gnädigen Strahlen wäre es hier draußen nicht wirklich kalt. Schon gar nicht unter den »Eisernen« auf der Waldseite. Und schon gar nicht, wenn die Katze neben einem steht. Aufgeregt und neugierig blickt sie in die Menge, deren Teil wir sind. Es ist das erste Mal, dass sie im Stadion ist. Sie will sich nichts entgehen lassen. Ich drücke ihr ein Bier in die Hand.
Sechs Spieltage vor Schluss ist der Aufstieg für Union noch greifbar, dafür müsste die Mannschaft allerdings gewinnen. Aber was heißt schon müssen?
Im Grunde genommen ist es für viele Anhänger unerheblich, in welcher Liga Union spielt, solange die Elf auf dem Platz alles gibt, und wenn es nur für ein Unentschieden reicht. Auf den Rängen, zumeist im Stehen, verausgaben sich die Fans unermüdlich, 90 Minuten lang peitschen sie die Spieler nach vorne, am Ende sind die Kehlen heiser. Im Gegenzug dazu fordern sie von ihrer Mannschaft dieselbe eiserne Leidenschaft im Spiel. Da ist es egal, ob mal ein Ball bei der Annahme verspringt oder ein einfacher Pass misslingt. Man hat sich den Arsch aufzureißen. Das augenscheinliche Prinzip ist die beiderseitige Opferbereitschaft im Abkommen zwischen Fans und Spielern, sie ist unverhandelbar. Der Aufwand muss spürbar sein, die Anstrengung muss »riechen«, sonst ist die ganze Veranstaltung kein »ehrlicher« Fußball, wie man sagt, und wie ihn die Leute hier besonders lieben. Echter Tausch setzt immer formale Gleichheit voraus oder zumindest deren Möglichkeit. Bei einem Handel dieser Art, der nichts will, als ein aufrichtiger Austausch zu sein, garantiert man, den anderen nicht zu täuschen, geschweige denn zu bescheißen.
Bei Union kann man Schatten umarmen, den Regen küssen, auf die Sonne pfeifen, aber einen Spieler anfeuern, der sich hängen lässt, das geht nicht. Wer den Handel aufkündigt, wird ausgebuht. Wer ihn einhält, wird zum »Fußballgott« der Meute.
In den Sechzigern soll Horst Szymaniak, einer der letzten Fußballer aus dem Bergbaumilieu, zum jungen Franz Beckenbauer gesagt haben: »Nach uns kommen nur noch Spieler aus Kunststoff.« Szymaniaks Worte bergen eine gewisse Wahrheit, trotzdem trifft seine Prophezeiung hier und heute mit Sicherheit nicht zu. Auf dem Rasen vor uns ist jeder aus Fleisch und Blut. Die Katze versteht Schimanski statt Szymaniak, aber das ist gar nicht so verkehrt. Wenn sie zuhört, spitzt sie die Ohren und wendet mir den Kopf so zu, dass eine Seite ihrer Schnurrhaare in den Bierbecher eintaucht. Es ist laut, in unserem Sektor bebt es mittlerweile gewaltig. Die gesungene Freibeuterromantik beschreibt ein Ideal, das teils ironisch, teils antiquiert und widersprüchlich daherkommt, es handelt sich aber nicht nur um Worthülsen, es ist verbale Munition, die der Mannschaft Beine macht. Manchmal spielt sie dann besser, als sie ist. Dieser ständige Lärm versetzt die Körper in einen Alarmzustand. In pathetischer Manier preisen die Fans ihren Verein, den sie mit ungelenker Legendenpoesie verklären. Das ist lächerlich, aber es ist auch schön, weil sie eine Unabhängigkeit feiern, die sich mit gelebter Freiheit unterhält. Wo sonst können heute erwachsene Menschen einfach mal so ihre Anspannungen befreit herausbrüllen?
Das Wort »Lärm« leitet sich vom italienischen Ausruf »all’arma« ab, was soviel heißt wie: »Zu den Waffen!« Draußen werden wir Heutigen ständig durch Lärm zu den Waffen gerufen, alarmiert sozusagen, aber zu welchen Waffen sollen wir greifen und gegen wen sie richten? Im Alltag beherrscht man sich, man reißt sich gezwungenermaßen zusammen. Hier dagegen ist alles klar: Man will die Spieler kämpfen sehen. Sich selbst bewaffnet man mit Gesang. Im Chor, wo Auflösungserscheinung und Erweckungserlebnis ineinandergreifen. Die Katze hat das zweite Bier fest im Griff. dennoch schwappt es ihr ständig aus dem Becher. Sie singt schon fast alle Lieder mit, ihr Herz klopft, die Seele schnurrt.
Im Alten Griechenland war der Chor die Bezeichnung für einen umgrenzten Tanzplatz. Später bezeichnete es den Rund- und Reigentanz selbst, insbesondere den mit Gesang, der bei festlichen Gelegenheiten den Göttern dargeboten wurde. Schließlich ging der Begriff auf die Gruppe der Tanzenden und Singenden über, die im antiken Drama als Handlungsbegleiter mitwirkten. In der Alten Försterei bestehen die singenden Begleiter aus Kommerzskeptikern, die den Volkssport Fußball nicht konsumieren wollen wie einen Rummelaufenthalt, sondern ins Stadion strömen, um sich ganz und gar zu spüren. Ein Tor-Pogo inklusive Bierdusche im Stehblock kittet den Riss, der einen sonst von anderen trennt. Man löst sich auf in eine ich-überspannende Matrix. Aus vielen Mündern wird einer, aus etlichen Kehlen strömt ein Gesang.
Als wohl letzte Bastion im deutschen Profifußball lehnen die Unioner Großraumdiskogedudel ab, womit man andernorts die Stadiongänger akustisch vergiftet. Rund um das Spiel trällern auch keine Werbebotschaften aus Lautsprechern, jedwede Sponsorenpräsenz gerät im Stadionbereich wohltuend in den Hintergrund. Hier verweigert man sich dem infantilen Drum-Herum-Spektakel, das dem betäubenden Konsumismus, der die Komplettenthirnung der Menschheit zur Folge hat, Vorschub leistet.
Das klingt ziemlich cool, aber trotz alledem ist Union kein Kultverein, er ist auch nicht hipp, und es gilt auch nicht gerade als angesagt, Unionanhänger zu sein. Hier spielen keine Stars, weder aktuelle noch zu erwartende. Es sitzen auch kaum prominente Edelfans auf der Tribüne. Mit Glamour und Klasse wird hier nicht gedient. Leider betragen Idiotenanteil und Bullshitingfaktor auch bei Union nicht Null Prozent. Schiedsrichter werden schon mal lauthals als »Fotze«, gegnerische Fans nicht selten als »Bauern« gescholten. Wer auf seine vermeintliche Überlegenheit hinweisen muss, ist jedoch in Wirklichkeit zu bedauern.
Für nicht wenige aber gilt der Verein als rückständig, weil er sich nicht den Profitaussichten zeitgemäßer Businessmodelle öffnet, deren Agenten sich alert und stylish, aber knallhart mit softem Lächeln präsentieren. Sie würden aus Union ein schickes Unternehmen kreieren und es als subversive Fußballmarke zu platzieren versuchen. Natürlich stünde dann mehr Geld für bessere Spieler zur Verfügung, eine verstärkte Mannschaft würde wahrscheinlich erfolgreicher sein, aber die Fanbasis würde nicht mitspielen, für sie wäre der neue Fußball geruchsneutral, sie blieben dem Stadion fern. Wahrscheinlich ist genau diese dogmatische Verweigerung die modernste Form von Kapitalismuskritik, die man derzeit an den Tag legen kann. Sag »nein« zu den Bedürfnissen, die du nicht hast, anstatt dich ihnen auszusetzen. Würden weltweit alle Fußballfans diese Haltung praktizieren, die Qualität bei Spitzenteams wäre unterm Strich genauso hoch, bei wesentlich geringerem Kapitalfluss samt Kriminalitätsrate und Korruptionssummen, die rund um das Fußballgeschäft zirkulieren.
Die Katze freut sich, dass sie für einen Nachmittag dem zivilen Leben entkommen durfte. Ihre Sympathie für einfaches Außenseitertum blüht auf wie seit langer Zeit nicht mehr. Ihre Schnurrhaare sind verklebt, ihr sechster Sinn ist angenehm betrunken. Köpenick ist schöner als die Côte d’Azur. Prompt schießen die Unioner zwei Tore nacheinander, es regnet Bier, man liegt sich in den Armen. Die Katze dreht eine Pirouette und verliert dabei das Gleichgewicht, aber sie stürzt nicht, die Menge gibt ihr Halt. Wenig später gewinnt Union das Spiel. Ich nehme die Katze auf den Arm und trage sie nach Hause. Bald muss sie wieder ins Büro gehen. Unterdessen zelebriert der Chor den Heimsieg in den anliegenden Kneipen wie die Rückkehr des Odysseus nach Ithaka. Man möchte demnächst wieder dabei sein.
Der Text ist ein Originalbeitrag für die Anthologie Alles auf Rot, die am 06.11.2017 bei Blumenbar erscheinen wird.