Eröffnungsrede der Landshuter Literaturtage, gehalten am 05. November 2014
»Der Mensch ist erst wirklich tot,
wenn niemand mehr an ihn denkt.«
Bertolt Brecht
In dem Film Die Patriotin von Alexander Kluge wandert eine Geschichtslehrerin mit einem Spaten durch Deutschland. Sie will die Geschichte des Landes ausgraben, um all ihre Aspekte sichtbar zu machen. Sie hat sich die Aufgabe gestellt, Zusammenhänge herzustellen. Sie ist eine Patriotin, das heißt, sie nimmt Anteil an allen Toten des Landes.
Martin Sperr hat der Nachwelt ein vergleichsweise schmales literarisches Werk hinterlassen: fünf Theaterstücke, ein Band mit Kurzprosa und Gedichten, drei Übersetzungen, zugleich Bearbeitungen von Stücken Shakespeares und Edward Bonds, drei Filmdrehbücher, einige Aufsätze zum Thema Heimat und Sprache, ein paar kurze Schriften zum Theater, insbesondere Kommentare zu seinen eigenen Dramen. Desweiteren Entwürfe und andere Stück- und Hörspielbearbeitungen.
Sein wichtigstes Werk und wohl auch sein gelungenstes ist sein Erstling, das Drama Jagdszenen aus Niederbayern. Der Titel ist geflügeltes Wort geworden. Die Fabel wurde verfilmt, vertont, als Prosaband unter dem Titel Jagd auf Außenseiter publiziert und das Stück selbst wurde bis heute viele, viele Male auf verschiedensten Bühnen im In- und Ausland aufgeführt. Man kann sagen, Jagdszenen aus Niederbayern ist ein Klassiker.
Das Dorf Reinöd richtet sich 1948 nach der Währungsreform allmählich und ungerührt auf die neuen Verhältnisse ein. Flüchtlinge sind im Dorf untergebracht und werden misstrauisch gemieden. Die Bäuerin Maria, die mit ihrem Knecht Volker zusammenlebt, obwohl ihr im Krieg vermisster Mann noch nicht für tot erklärt wurde, gilt als moralisch verkommen. Ihr Sohn Rovo ist geistig etwas zurückgeblieben und hat die Rolle des Dorftrottels inne. Vertrauen hat Rovo nur zu Abram, dem wegen Homosexualität vorbestraften Außenseiter, der aus der Haft entlassen zurück ins Dorf kommt. Er weiß nicht, wohin er soll und sucht seine Mutter auf, die ihn aber schon längst vor den tonangebenden Dorfbewohnern verleugnet hat.
Das Urteil der Dörfler über Abram steht von vornherein fest: »Die schwule Sau« muss weg. Um dem Gerede entgegenzuwirken, erwidert Abram die naive Liebe der jungen Dienstmagd Tonka. Als diese ein Kind von ihm erwartet und Abram mit seiner Vaterschaft zu erpressen sucht, sticht er die ihn Demütigende in blinder Wut nieder. Die Dorfbewohner wollen sich die ausgesetzte Belohnung verdienen und veranstalten eine Hetzjagd auf Abram. Der verlassene Rovo erhängt sich und wird in ungeweihter Erde begraben. Nachdem Abram gefasst ist, wird die wiederhergestellte »Ordnung« auf dem Erntedankfest ausgiebig gefeiert.Man ist wieder unter sich.
In dem realistisch gezeichneten »Modell« Reinöd zeigt der Autor das Verhalten eines mörderischen Kollektivs, das nicht aus »Ungeheuern«, sondern aus »normalen Menschen« besteht. »Die Außenseiter«, sagt Sperr, »sind nicht besser als ihre Jäger. Ihre Haltung wird bestimmt durch den Ausschluss aus der Gemeinschaft, zu der sie gerne gehören würden. Kaum ist einer wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, macht er die Jagd auf den anderen mit und richtet sein Verhalten nach den Normen der Gruppe«.
Doch wer installiert diese Normen, von denen Sperr spricht? Und wie kommt es dazu, dass sie gnadenlos und unhinterfragt wirken können? Auf die Fabel des Stückes bezogen ist das personalisierte Machtmonopol ziemlich überschaubar. Der Bürgermeister, gleichzeitig Großbauer und wichtiger Arbeitgeber, der Pfarrer und die Metzgerin, sie halten im Verbund die Vormachtstellung über die Mehrheit. Politik, Kirche und Gewerbe sind also die entscheidenden Meinungsmacher, deren Verbalspitzen fatale Konsequenzen haben. Eine Herrschaft der Wenigen, getragen von allen.
Knapp 50 Jahre nach der Uraufführung des Stückes könnte man nun ins Feld führen, dass es derart regressive Dorfverflechtungen in unseren Breitengraden längst nicht mehr gibt, Schnee von gestern. Die Gesetzeslage hat sich verändert, die Kirche hat – Gott-sei-Dank – bei weitem nicht mehr den gesellschaftlichen Einfluss von damals, dergestalt, dass sie Randgruppen systematisch abzukanzeln vermag. Die Leute im Allgemeinen sind heute wesentlich informierter, Anschluss an die Welt gibt es nicht nur in den entlegensten Flecken der Erde, sogar in Niederbayern scheint bisweilen Verständigung in Verständnis zu münden. Kurz: Die Gesellschaft ist aufgeklärter geworden. Vernünftiger. Verträglicher. Möchte man meinen, würde man gerne meinen.
Die Frage stellt sich: Hat unsere mitteleuropäische Gesellschaft die »Jagdszenen« tatsächlich überwunden? Hat sich wirklich etwas zum Guten gewendet, so wie es der Autor mit seinem Drama bezwecken wollte? Oder nur vorübergehend, im Fortgang der Geschichte?
Das Nachkriegsdrama beschreibt neben der Außenseiter-Thematik noch eine andere, eine tieferliegende, eine zeitlos um sich greifende Problemstellung. Im Kern des Stückes geht es um Arbeit und Abhängigkeit. Mein Nachzählen ergab: Auf 50 Taschenbuchseiten taucht das Wort »Arbeit« 57 Mal auf, in vielerlei Varianten, von »arbeitsscheu« bis »Arbeitskraft«, von »arbeitslos« bis »Arbeitszeug«. So wird auch im Verlauf der Handlung viel gearbeitet, ausschließlich körperlich und unter großen Anstrengungen. Fast jeder ist eingespannt, kaum jemand hat Zeit zum Überlegen. Die Unterlegenen, sie schuften. Sie sind Gegängelte und Gängelnde zugleich. Gegen Ende des Schauspiels brechen sie zur Jagd auf.
Die Jäger wohnen nicht im Ritz, sie lieben die Hatz. Sie ist ihnen rauschhafte Genugtuung für all die Zumutungen ihrer Existenz. Wer trotzdem einmal nachdenkt beziehungsweise seine eigene Lage überdenkt, wer es wagt, Zweifel am Status Quo zu bekunden, dem wird Undankbarkeit vorgeworfen. Dem wird gedroht. Dem wird gekündigt. Angst wird geschürt. Selbständiges Denken gefährdet ihre Existenzgrundlage, also geben die Leute klein bei und versuchen, ihre Stellung zu halten, keinesfalls wollen sie sie verschlechtern. Das macht sie unterwürfig und opportun, jeder ist sich selbst der Nächste.
Das Drama lehrt: Wenn die Ressourcen knapp sind, die Verteilungsschere weit auseinander klafft und die Arbeitgeberschaft in den Händen Weniger liegt, dann ist der Mensch hochgradig korrumpierbar. Ein einbüßendes Wesen, seiner menschlichsten Fähigkeit beraubt: der Empathie. Wenn darüber hinaus der Zugang zu Bildung erschwert ist und die Aufgeklärten in der Minderheit sind, wird es Mord und Totschlag geben, denn das Gewissen des Einzelnen ist ein flatterhaftes Organ, ohne Kultur ist es außer Kraft gesetzt. Einmal sagt jemand im Stück: »Arbeit was, damit du einen Wert bekommst.« In Zeiten von effizienzorientierten Menschenwertberechnungen und Konzernkapitalismus klingt dieser Imperativ sehr aktuell.
Aber ganz gleich welcher Epoche man ihn zuordnet, es wird immer verschlagene Menschen geben, egal in welcher Herrschaftsform, denen daran gelegen ist, dass die Mehrheit ihre gelenkte Meinung als einzig reale Wahrheit verinnerlicht. Sie werben mit klaren, übersichtlichen Strukturen und versprechen dem Alltagsmenschen Identität durch Gruppenzugehörigkeit. Sie versichern Aufgehobenheit und sorgen letztendlich doch nur für Terror und Willkür und wirtschaften – ganz nebenbei – ausschließlich in die eigenen Taschen. So lehrt es die Geschichte, so wiederholt sich Geschichte. Es ist ein kompliziertes Zusammenspiel von Kraft und Gegenkraft, von Ausgrenzung und Vereinnahmung.
Bei Hölderlin heißt es: »Der Menge gefällt, was auf dem Marktplatz taugt / Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen.« Diese Verszeilen sind über 200 Jahre alt, sie haben aber an Gültigkeit nichts verloren. Ähnlich verhält es sich mit den Jagdszenen aus Niederbayern. Martin Sperr vermochte es, mit sprachlicher Schlichtheit vertrackte Abhängigkeitsverhältnisse aufzudecken. Unter der Inhaltsoberfläche des Dramas schwelt die mögliche Tragödie des Menschen in der Gemeinschaft, allzeit anfällig, von Neuem entflammt zu werden.
Geboren wurde Martin Sperr 1944 in Steinberg, die Ortschaft gehört heute zur Gemeinde Marklkofen im Landkreis Dingolfing-Landau. Damals lag das Dorf im Gau Bayreuth, was Martin nicht automatisch zu einem Wagnerianer gemacht hat, schon mehr zu einem Brechtianer, aber dazu später.
Der Vater war Dorfschullehrer und die Mutter Köchin. Martin wächst mit zwei älteren Geschwistern verhältnismäßig behütet auf. Mit zehn Jahren allerdings wird er auf die sogenannte »private Volksschule mit Öffentlichkeitscharakter« zu den Barmherzigen Brüdern ins oberbayerische Algasing geschickt.
Welchen Charakter das Internat tatsächlich hatte, bleibt im Dunklen. Die vier Jahre, so viel ist überliefert, waren kein Zuckerschlecken für den Buben. Aber möglicherweise haben ihn diese frühen Konfrontationen mit der Obrigkeit auf all die kommenden in seinem Leben vorbereitet.
Nach der Mittleren Reife in Landshut beginnt er 1961 eine Lehre zum Industriekaufmann bei Siemens in München. Sperr bleibt nicht lange Siemensianer, ganze drei Monate, dann ist Schluss. Der Heranwachsende hat auch immer häufiger Reibungen mit seinem Vater. Der war zwar kein Parteigänger der Nazis, als Beamter jedoch wurde er zum Parteieintritt genötigt. Ein Angepasster der braunen Volksgemeinschaft, aber auch ein Mann, der als junger Mensch bereits Armut am eigenen Leib erfahren und Angst hatte, seine Arbeit zu verlieren. Der Sohn versteht es und versteht es nicht.
Mit 18 nimmt Martin privaten Schauspielunterricht, er kann sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Der Wille, sich künstlerisch auszudrücken ist groß, das Glück ist ihm gewogen. Er wird am renommierten Max-Reinhardt-Seminar in Wien aufgenommen. Mitschüler sind u.a. Franz Xaver Kroetz und Ulrich Wildgruber, mit dem er kurzzeitig eine Garage bewohnt. In Wien lernt er auch Sylvia kennen, beide werden einige Jahre später eine langanhaltende, tiefvertraute, mitunter unkonventionelle Lebenspartnerschaft begründen.
In der Donaumetropole unternimmt er auch erste Schreibversuche. Nach zwei Jahren am Reinhardt-Seminar wird er allerdings rausgeschmissen. Offizielle Begründung: mangelnde Begabung. In Wirklichkeit hat er gestänkert und sich ge-sperrt, soll heißen: nicht alles mitmachen, was von einem verlangt wird.
Der Rauswurf entpuppt sich nicht als Rückschritt, im Gegenteil, er hilft ihm, die eigenen Sinne zu schärfen. Martin muss sich durchbeißen, in Wiesbaden kann er Fuß fassen und seine Bühnenreife erlangen, er erhält die Chance, sich im dortigen Theater in Inszenierungen von Hansgünther Heyme zu bewähren. Die Jagdszenen landen unterdessen bei Suhrkamp auf dem Tisch, Karlheinz Braun arbeitet unermüdlich mit ihm an einer bühnenkompatiblen Fassung. Ein halbes Jahr vor der Uraufführung des Stücks erhält er im Herbst 1965, Martin ist 21, den Gerhart-Hauptmann-Förderpreis für seinen Erstling.
Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Innerhalb der nächsten sieben Jahre erlebt er einen rasanten Aufstieg, einem Festengagement in Bremen, wo Zadek und Minks mit ihm arbeiten, folgt eine Hausautorenstelle an den Münchner Kammerspielen. Hier verhilft Sperr dem ebenfalls jungen Peter Stein zu seinem Durchbruch, indem er das Bond-Stück Saved vom Cockney English ins Bairische übersetzt. Durch die Übertragung in den Dialekt bleibt die ungewaschene Wucht des Originals erhalten. Martin spielt in der »Aufführung des Jahres« selbst mit. In der Rolle eines Bandenmitglieds, »mit schwarzer, enger Lederhose, lockenköpfig, fies, ungreifbar, wahrscheinlich schwul«, wie in einer Kritik steht, setzt er Akzente. Dezenz ist seine Sache nicht, er gilt als Vitaltalent.
Es sind Zeiten des Aufruhrs, Sperr ist ein blutjunger Protagonist des Wandels, die Bühne ein Seismograph für gesellschaftliche Veränderungen. Martin ist kein Intellektueller, der mit neuartigen theoretischen Konzepten wedelt, obgleich er sich bisweilen essayistisch relevant äußert. Er ist vor allem ein junger Mann mit Spürsinn, der schon früh um den Widerstreit zwischen den Zwängen und Bedürfnissen der menschlichen Natur weiß. Ein genauer Beobachter.
Die Verfilmung der Jagdszenen gewinnt 1968 den Bundesfilmpreis, Martin spielt darin den Abram. Zwei weitere Stoffe – Adele Spitzeder und Mathias Kneißl – werden verfilmt. Es sind spannende Biografieverfilmungen, die sich gegen die Romantisierung der Kriminellen richten, aber mit einem tiefen Verständnis für deren Freibeutertum versehen sind. Martin bekommt Schreibaufträge, die Landshuter Erzählungen entstehen, danach Koralle Meier und Münchner Freiheit. Die Stücke werden auf großen Bühnen von namhaften Regisseuren uraufgeführt.
Alle Geschichten, die er schreibt, hat er in Bayern angesiedelt, wiewohl die Fabeln unabhängig von ihm sind. Folkloristisches Verklären ist ihm zuwider. Die Mia-San-Mia-Mentalität liegt ihm nicht. Der Patriot kritisiert, was er liebt. Dazu gehört immer auch Selbstkritik.
Nach Kant bedeutet Kritik nicht, zu bewerten, sondern einen Gegenstand zu analysieren, eine Sache zu durchleuchten. Wer heute nach Werten der Aufklärung Ausschau hält, kann sich daran orientieren, dass gerade der Zweifel an scheinbar unverrückbaren Gesetzmäßigkeiten und die schonungslose Kritik an der eigenen Gesellschaft zum Kostbarsten der europäischen Kultur gehören. In diesem Sinne war Martin ein wichtiger Aufklärer in einer oft beratungsresistenten Landschaft.
Für den Autor Martin Sperr heißt das, den Vorgängen in seiner Umgebung nachzugehen, graben. Die Schreibmaschine ist sein Spaten. In seinen Dramen ist kein Protagonist gut, im Sinne von unfehlbar. Heroisieren ist Sperr suspekt. Er hält es da mit dem Vorbild Brecht: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.«
Martins Land, das ist Bayern. Seine Herkunft liegt ihm am Herzen. Heimat ist, wo alles anfängt. Er fühlt sich verpflichtet, aufzuklären, Zusammenhänge herzustellen, letztlich, um sein »Hoamatl« vor Dummheit und Engstirnigkeit zu bewahren. Missstände gehören ans Licht, wer sie vertuschen will, kann sein Land nicht lieben.
Für Martin war Bayern aber auch stets ein Synonym für die einfache Gemütlichkeit. Er mochte die Votivtafeln in den kleinen Kapellen am Wegesrand, er liebte die Leichtigkeit der Schnadahüpferl genauso, wie die deftige Küche oder die einheimischen Dialekte. Martin war ein profunder Kenner bayerischer Geschichte, aber er hat sich ebenso sehr für Wiedergeburt, Telepathie und Farbenlehre interessiert. »Die Ursachen beachten, wo wir sonst nur immer die Wirkung sehen«, darauf kam es ihm an.
Seine Werke haben gewirkt. Neben einem gewissen Ruhm bescherten sie ihm in erster Linie deutliche Anfeindungen seitens der Bevölkerung. Skandale, Beleidigungen, Nestbeschmutzervorwürfe. Ich habe Martin erst zwei Jahre vor seinem Tod kennengelernt, deshalb kann ich nicht beurteilen, wie er in der heißen Phase seiner produktiven Jahre auf die Entrüstungen reagiert hat. Er hat zwar oft gesagt, »was juckts die deutsche Eiche, wenn sich die Sau an ihr wetzt«, aber so cool ist niemand unentwegt, jeder Angriff hinterlässt Spuren.
Wann immer ich in den letzten Jahren Weggefährten von Martin begegnet war, habe ich sie auf ihn angesprochen. Und so unterschiedlich die Leute auch waren, so einheitlich war doch jedes Mal ihre erste Reaktion, wenn ich auf Martin zu sprechen kam: Das Gemüt entspannte sich, während sich die Gesichtsmuskulatur zu einem warmen Lächeln formte, das nicht selten zu einem herzhaften Schmunzeln überging, dann – je nach regionaler Zugehörigkeit -: »Ja, mei, da Martin« oder eben, »Ach, der Martin«. Und alle hatten eine witzige Anekdote auf Lager, eine Skurrilität oder eine subversive Schrulle. Jedenfalls, so schien es, konnte ihm niemand wirklich wegen irgendetwas böse sein, selbst wenn manche seiner Aktionen am Rande des guten Geschmacks waren oder weit übers Ziel hinausschossen. Man mochte den lieben Martin, der freilich nicht immer lieb war, aber sein Kern, der Sperr-Kern, war ausgesprochen freundlich. Ein warmblütiger Mensch.
Aber wo das Warme ist, ist das Kalte nicht fern.
Und wo das Helle ist, ist auch das Dunkle nicht weit.
Fast wie im Wirtshaus.
Schreiben und Trinken gehören oft zusammen, es sind zwei Arten, nicht allein sein zu müssen. Beim Trinken kommt man den Figuren näher, den eigenen, wie den fremden Gestalten, denn Alkohol erleichtert die Kommunikation – und macht doch einsam. Ein paradoxer Wirkstoff. Er kann Fröhlichkeit und Trauer auslösen, er weckt Zärtlichkeit und Gewalt. Je nach Situation.
Martin war sehr jung, als er sich einen Namen machte. Er wurde gehypt, er hat polarisiert. Er war vielen Stürmen ausgesetzt. Das zehrt an einem. Martin war zwar geerdet, aber auch nur ein Mensch.
Die Arbeit als Autor und Schauspieler erfordert zudem ein beträchtliches Maß an öffentlicher Zurschaustellung. Zuspruch und Ablehnung prasseln intensiv auf einen nieder. Der Blätterwald hat seine eigenen Gesetze, Hauptsache es raschelt. Verrisse können einem nicht nur psychisch zusetzen, sondern auch die materiellen Grundlagen verknappen, sie können einem »das Wasser abgraben«, wie es die Fleißer formuliert hat. Hymnen dagegen locken Schmeichler und nähren den Narzissmus, der in jedem von uns wohnt. Für jedes Lob eine Halbe, für jede Schelte einen Schnaps, auf Dauer hält das keine Leber aus. Der passionierte Koch Sperr würde jetzt wahrscheinlich einwerfen: »Eine gute Leber wird mit Schnittlauch und Weißbier serviert.«
Der heftigste Sturm seines Lebens bricht am 31. Januar 1972 über ihn herein. Bei einem Reifenwechsel in seinem neuen Zuhause in Unterschnittenkofen, wo er sich ein knappes Jahr vorher mit Sylvia und dem neugeborenem Kind Felicitas niedergelassen hatte, kippt er plötzlich um. In seinem Kopf waren zwei Aneurysmen, zwei erweiterte Schlagadern, geplatzt. Ein Familienverhängnis, genetisch grundiert, sein Bruder war bereits daran gestorben. Jetzt hat es Martin ereilt. Sylvia kann ihn rechtzeitig in die Klinik bringen. Rechtzeitig heißt, der Tod kann gerade noch abgewendet werden. Nichtsdestotrotz hat der Zusammenbruch einschneidende Folgen für den 27-jährigen.
Zunächst bleibt er drei Monate im Krankenhaus, acht Wochen davon auf der Intensivstation. Sein zweites Leben beginnt. Elementares muss er neu lernen, wie lesen und schreiben. Ab 1974 gibt es einen Neuanfang als Schauspieler. Bis ein Jahr vor seinem Tod wird er beständig kleinere und größere Engagements haben. Wilfried Minks holt ihn für zwei Inszenierungen nach Hamburg, in Freiburg spielt er 1980 den Hamlet, Ruth Drexel verpflichtet ihn für das neugegründete Münchner Volkstheater, es entstehen eine Reihe schöner Arbeiten in der Freien Szene Münchens, u.a. mit den Regisseuren Eos Schopohl und Gunnar Holm-Petersen. Außerdem tritt er in Fernsehfilmen und in -serien auf, ebenso bei Avantgardeprojekten von Hans-Jürgen Syberberg. Martin hat keinen Dünkel, er ist sich nicht zu schade, beispielsweise bei Studentenfilmen mitzumachen, er bleibt neugierig, wenn ihn was interessiert, sagt er zu.
Privat lebt er bescheiden, was seinem Naturell entspricht. Der Tochter kann er ein liebevoller Vater sein. Manchmal werfen ihn ein paar Exzesse durcheinander, aber ein makelloser Repräsentant einer weißblauen Kulturschickaria wollte er eh nie sein, nie.
Als Autor kann er sein Werk nicht mehr fortschreiben. Alles, was noch an die Öffentlichkeit dringt, basiert hauptsächlich auf Aufzeichnungen von vor dem großen Sturm. Der sonst ein so ungeheures Konzentrationsvermögen hatte, kann sich nicht mehr hinreichend konzentrieren. Ein Stück zu schreiben bedeutet, nicht eine Rolle, sondern alle zu spielen. Und Sperr hat keine Monologe geschrieben, es sind Ensemble-Stücke, große, handlungsreiche Schauspiele. Sie zu entwerfen ist aufwendig, ihre Ausarbeitung erfordert viel Kraft, die ihm jetzt nicht mehr gegeben ist.
Sein literarisches Werk kann man seit jenem letzten Januartag ’72 als abgeschlossen betrachten. Sein Witz und seine Bühnenpräsenz blieben der Welt noch dreißig Jahre erhalten. Der Spaten aber ist dem Patrioten abhanden gekommen. Leider. Man hätte gerne gesehen, was er noch ausgegraben hätte, wie er sich als Dramatiker, womöglich als Romanautor entwickelt hätte. Er hat letztlich in einem Alter aufgehört, wo die meisten erst anfangen. »Da kommt noch was, (…) in dem Mann steckt noch mehr drin«, hat Marieluise Fleißer gemutmaßt, nicht wissend, wie sehr ihm der Zusammenbruch tatsächlich zugesetzt hat.
Was bleibt sind die vorhandenen Texte. Jedes Lesen, jede Aufführung, jedes darüber Sprechen ist Positionsbestimmung. Was war früher, was ist heute? Welche der Fabeln hat genügend Substanz, um im jeweiligen Jetzt zu bestehen? Es wird sich zeigen, wie tragfähig sie sind. Ihre Qualität ist verschieden. Die Dramen sind unterschiedlich gut gebaut.
Koralle Meier müsste man meines Erachtens nochmal ausgraben und mit ein paar klugen Strichen zur Aufführung bringen. Koralle ist widerständiger als die Polizei erlaubt, sie ist immer ganz Mensch und ganz vital und nie wirklich zähmbar. In dem Drama zeigt Martin eindrücklich, dass böser Tratsch und üble Nachrede das kleine Einmaleins des Terrors sind.
Grundsätzlich aber gilt, über Sperr zu diskutieren, ohne ihn zu kritisieren, wäre Verrat. Das weiß der Brechtianer Sperr, der dem großen Dialektiker einst den Essay Mit Brecht über Brecht hinaus widmete. In einem Interview sagt er: »Ich lege mehr Wert aufs Mitdenken, nicht so aufs Mitfühlen.« Das Publikum der Landshuter Literaturtage hat in diesem Herbst die Möglichkeit, Mit Sperr über Sperr hinaus zu gehen. Es darf gelacht, mitgedacht und kritisiert werden.
Die Patriotin in Kluges Film scheitert auf dem Weg, die Geschichte eigenhändig zu verändern. Zu viele Steine liegen ihr im Weg. Martin Sperr ist bei seinen Grabungsunternehmungen nicht gescheitert. Unsere Anwesenheit legt Zeugnis davon ab.
Ich habe von Sperr viel gelernt, ohne das Bedürfnis zu haben, ihn zu kopieren.
Gelernt habe ich vor allem, dass Schrift möglich ist. Und dass man nur über das schreiben kann, was man kennt. Bewundert habe ich an ihm, wie selbstverständlich er sein Schicksal angenommen hat. Er hat nie mit ihm gehadert. Keine Larmoyanz an den Tag gelegt.
Ferner habe ich in ihm einen Menschen kennengelernt, der im besten Sinne des Wortes eigensinnig war. Das Eigene beginnt mit einem »Nein«. Um es mit Nietzsche zu sagen: »Das Wort, das uns zu Sklaven macht, heißt ‚Ja’«.
So gesehen war Martin Sperr ein freier Mensch.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.