Zeitlebens hat der Wind nie aufgehört zu wehen, und er blies kräftig aus allen Richtungen, mal trug er sie fort, oft genug warf er sie nieder. Liegengeblieben aber ist sie nie, immer wieder ist sie aufgestanden, hat sich berappelt und sich behauptet, die Frau mit den dicken Brillengläsern und dem Faible für Kostüme mit Hahnentrittmustern. »Ich lege Verletzungen bloß, die geheilt werden müssten.« Wer sein künstlerisches Schaffen nach dieser Sentenz ausrichtet, braucht für den Hass nicht zu sorgen, der ihr sowohl im kleinbürgerlichen Haifischbecken der Heimatstadt, als auch in der kulturbeflissenen Schlangengrube der Hauptstadt entgegengeschlagen hat. Wer ausschert, wird mit Verachtung bestraft, vor allem von den Spießern, die eigentlich selber lieber ungezwungener leben würden, sich aber nicht trauen, ein Beispiel an ihr zu nehmen, aus Angst vor der Ächtung, die einem beim Ausscheren zuteil wird. Ihre vor Subjektivität strotzenden Sätze ätzen gegen die Vorschriften der Welt, »wo das Dunkel weht wie feiner Staub«. Für einen Schriftsteller sind vier erlebte Deutschlands – von der Kaiserzeit bis 30 Jahre in die BRD hinein – ein Geschenk, für einen Menschen, der sich nichts vormachen lässt, nicht. All die Anfeindungen auszuhalten, erfordert Geisteshelle und letztlich auch Humor. Verlangen hält einen wach. Meine achtjährige Tochter hat mich vor Kurzem gefragt, warum die meisten Erwachsenenlieder von der Liebe handeln. »Weil die Sehnsucht bei den Erwachsenen danach am größten ist«, hab ich gesagt. Wenn sie ein wenig älter ist, werde ich ihr mit Fleißer antworten: »Weil es das schmerzfreie Leben nicht gibt« – auch wenn die meisten Liebeslieder davon künden. »Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass man Widrigkeiten vermeidet, indem man vor der Widrigkeit kehrt macht«, hat sie vor 50 Jahren in einem Brief an ihren Neffen geschrieben. Sie soll einen sehr aufrechten und zugleich geschmeidigen Gang gehabt haben. Jetzt ist sie 40 Jahre tot, man muss die Erinnerung an sie wach halten. Von Marieluise Fleißer lernen heißt, lernen sich durchzubeißen, ohne zu verbittern.
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Ausschnitte aus Fleißers Stück FEGEFEUER IN INGOLSTADT/Münchner Kammerspiele (eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2014).