Es ist eine Binsenweisheit, dass Literatur im Grunde nur Religionsersatz ist und der Literaturbetrieb nichts anderes als eine säkularisierte Kirche. Das kontemplative Lesen ersetzt das Gebet, die Lesung gleicht einem Gottesdienst, in dem der Autor als Priester und Beschwörer des Geists seines eigenen Texts fungiert, und natürlich gehört auch das Pilgern zum Kosmos dieser Ersatzreligion. In Deutschland heißen die Wallfahrtsorte (neben Weimar als ganzjähriges Pilgerzentrum) Frankfurt am Main und Leipzig. Hier kommen sie alle zusammen: Literaturpäpste, Priester, ehrenamtliche Laien und auch jene, die ansonsten keinen Gottesdienst besuchen und es auch mit dem Beten nicht so haben.
260 000 Besucherinnen und Besucher wurden auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse gezählt und das, obwohl gerade am ersten Messetag die Sonne herrlich schien und die Glashalle des Messegeländes erwärmte, sodass sich selbst der leidenschaftlichste Literaturaficionado heimlich überlegt haben dürfte, ob er den Tag nicht lieber im Biergarten verbringen sollte. Doch zu so einer Ersatzreligion gehören Rituale. Und Rituale bestehen nicht zuletzt in der ständigen Wiederholung vertrauter Abläufe. Und deshalb sticht bei jeder Messe trotz der Hervorhebung des Neuen (denn immerhin geht es ja vorrangig um Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt) das vertraute Immergleiche hervor, das sich als Erstes beim vertrauten Anblick der Cosplay-Gestalten manifestiert, wenn man am Leipziger Hauptbahnhof ankommt.
Zu den Ritualen gehört auch das Rätselraten um den Preis der Leipziger Buchmesse. An zahlreichen Ständen wird am ersten Messetag der Versuch unternommen, per Ausschlussverfahren auf den Preisträger in der Belletristik-Rubrik zu kommen: Marion Poschmann kann’s nicht werden, denn ein Lyrikband wurde schon im Vorjahr ausgezeichnet. Roland Schimmelpfennig wird’s wohl auch nicht, denn der ist in der Presse ja schon durchgefallen. Eigentlich müsste Heinz Strunk den Preis bekommen, obwohl der ihn vermutlich gar nicht mehr nötig hätte. Am Ende erhält Guntram Vesper den Preis für seinen 1000-Seiten-Wälzer Frohburg, womit kaum einer der Spekulanten gerechnet hat. Ein Erfolg vor allem für das kleine Frankfurter Verlagshaus Schöffling & Co, das sich auch über die Vergabe des Übersetzungs-Preises an Brigitte Döbert freuen kann – und vielleicht ein verdienter Trost für den überraschenden Weggang von Juli Zeh, die im Vorjahr zu Luchterhand wechselte.
Doch jenseits der üblichen Selbstbespiegelung des Literaturbetriebs, drängten in diesem Jahr verstärkt Themen aus der harten außerbetrieblichen Wirklichkeit in den Vordergrund. Allen voran natürlich die Flüchtlingskrise, die auch in den Messehallen omnipräsent zu sein scheint. Am Stand des AfD-nahen Compact-Magazins stehen hühnenhafte Männer in schwarzen Anzügen – offensichtlich, um unliebsame Störer zu entfernen. Dahinter Cover des Magazins, die Merkel mit Kopftuch zeigen oder eine Flutwelle, die Europa bedroht – Szenarien der Angst. Unwillkürlich verbindet sich das Bild des abgeschirmten Compact-Stands mit der AfD-Forderung nach geschlossenen Grenzen. Wenn das Deutschland der AfD so aussieht wie der Compact-Stand, dann bin ich lieber draußen als drinnen.
Die Frage, wie das Leben in diesem Land aussehen kann, wenn man nicht denjenigen folgt, die sich selbst als Alternative bezeichnen, beschäftigt die Autorinnen und Autoren der Anthologie Wie wir leben wollen. Im ARD-Forum sprachen der Herausgeber Matthias Jügler und die Beiträger Lucy Fricke und Matthias Nawrat unter anderem darüber, wie die Flüchtlingskrise ihr Schreiben beeinflusst.
Wenn man sich durch die Messehallen treiben lässt und bei jedem Interview, jeder Lesung ein paar Minuten verweilt und dann weitergeht, wie es bei vielen Besuchern üblich ist, mag das zwar oberflächlich erscheinen. Aber letztlich hat man am Ende den Informationswert, den man bekäme, wenn man eine Woche lang alle Feuilletons durchblätterte. Oder wenn man sich eine Weile durchs Internet klickte – und vielleicht ist die Buchmesse mit ihrem Überangebot auch eine Art begehbares Internet.
So erfährt man im Vorbeigehen, dass der frühere Innenminister Gerhart Baum in Christian Lindner eine neue Hoffnung für die FDP sieht, die ihn mit seiner Partei versöhnen könnte, oder dass Karen Duve eine Frauenquote von 40 bis 50 Prozent fordert. Bov Bjerg graust es vor dem Moment, wenn seine zehnjährige Tochter in ein paar Jahren seinen (völlig zu Recht) allseits gelobten Roman Auerhaus in der Schule durchnimmt und er ihr nicht weiterhelfen kann. Und Marjana Gaponenko wollte in ihrem neuen Roman Das letzte Rennen unsympathische Figuren entwerfen, mit denen jetzt aber alle Mitleid haben.
Das Überangebot setzt sich am Abend fort. Das Programm von Leipzig liest wartet mit über 3000 Veranstaltungen auf, die sich zum Teil sehr weit über die Stadt verstreuen. Hinzu kommen noch die vielen Partys, die auf einer Messe nicht fehlen dürfen. Zufallsbegegnungen auf der Messe drehen sich schnell um die Frage, ob man lieber zur Party der Jungen Verlage geht oder doch zur Party der Literaturhäuser. Und welche Lesung hört man sich vorher an?
Ann Cotten ließ sich nicht beeindrucken vom eng getakteten Messerhythmus und kündigte an, am Freitagabend im Café Puschkin ihr Versepos Verbannt! in voller Länge zu lesen. 162 Seiten, 403 Strophen, ein Abend. Eine kleine Gemeinde von knapp 20 Zuhörerinnen und Zuhörern fand sich in der oberen Etage der Leipziger Kneipe ein, um der Dichterin bei diesem Marathon zu lauschen. Nach der ersten Stunde und den ersten 50 Seiten musste die Lesung in den unteren Bereich verlegt werden, wo allerdings der Kneipenbetrieb ungehindert weiter lief. Ein Mikrophon fehlte und man verstand zunächst kein Wort der vorgetragenen Verse. Mitarbeiterinnen des Verlags verteilten Exemplare des Epos zum Mitlesen, die als Entschädigung auch mit nach Hause genommen werden konnten. Auch ein Mikro wurde herbeigeschafft. Den Höhepunkt der Improvisation erlangte die Veranstaltung, als die Kellnerin Ann Cotten mitten im Vers unterbrach und nach zu bestellenden Getränken fragte. Doch die Lesungsteilnehmer ließen sich nicht aus der Ruhe bringen, waren weiterhin begierig den Rest des Textes zu hören. Und da nun ohnehin alle das Buch vorliegen hatten und die Autorin hin und wieder eine Verschnaufpause brauchte, wurde nun reihum gelesen.
Hier konnte man beobachten, wie das klassische Lesungsformat durch äußere Umstände zerstört wurde und dann wie selbstverständlich eine neue und partizipative Möglichkeit der Lesung entstand, die so vermutlich gar nicht geplant werden kann. Und tatsächlich wurde Literatur hier zu etwas Quasi-religiösem im besten Sinn. Gerade der Gattung des Versepos wohnt doch das Kultische und Kollektive schon inne, das Herumsitzen einer kleinen Gruppe um die Feuerstelle, an der abwechselnd Geschichten laut vorgetragen und Musen beschworen wurden. Dass man solche Erfahrungen machen kann, in denen eine eingeschworene urchristliche Gemeinde viereinhalb Stunden ohne aufgesetztes Pathos um einen Tisch sitzt und liest – dafür lohnt es sich allemal eine Pilgerreise nach Leipzig anzutreten.