»Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit.« Dieser Satz wirkt wie ein Zauberspruch. Er kleidet Filme und Bücher in die Aura des Authentischen. Er wirkt als Qualitätssiegel und steigert automatisch die Aufmerksamkeit der Rezipienten. Aber so explizit muss der Hinweis auf den Wahrheitsgehalt einer Geschichte gar nicht ausfallen. Der Satz zur juristischen Absicherung, der besagt, die Geschichte sei frei erfunden und jedwede Ähnlichkeit zu real existierenden Personen rein zufällig, hat in der Regel den gleichen Effekt –, denn weshalb diese Klausel, wenn nicht doch allerlei Bezüge zur Wirklichkeit zu finden sind? Es geht aber auch ganz ohne vorangestellte Beteuerungen. Im Zweifel genügt eine biographische Parallele zwischen Autorin und Protagonistin und die Leser werden hellhörig. »Ist die Geschichte, die Sie in Ihrem Roman erzählen, autobiographisch?« Diese Frage gehört bei Lesungen zu den Standardbeiträgen aus dem Publikum. Doch es wäre falsch, dieses Echtheitsbegehren als schiere literarische Unkenntnis abzutun, als das versehentliche Verwechseln der Gattungen Autobiographie und Roman oder als das einseitige Aufkündigen des Fiktionspaktes, wie es vor einigen Jahren Juli Zeh in einem Beitrag für die Zeit getan hat.
Wer einen Roman – warum auch immer – als authentisch bezeichnet, spricht ihm damit nicht automatisch alle Fiktionseigenschaften ab. Oft genug wird damit aber eine Wirklichkeitsnähe suggeriert, die zumindest eine Teilidentität von Autor und Protagonist beinhaltet. Die Annahme, dass diese Wirklichkeitsnähe ein Qualitätsmerkmal von Literatur sei, ist nicht vordergründig literarisch ungebildeten Banausen ohne Fiktionalitätsverständnis zuzurechnen – sie findet sich vor allem in der Literaturkritik.
Als herauskam, dass Helene Hegemann Teile ihres Debütromans Axolotl Roadkill (2010) aus dem Blog Strobo des Bloggers Airen abgeschrieben hatte, wurde die zuvor als authentische Stimme ihrer Generation gefeierte Autorin von der Kritik regelrecht in der Luft zerrissen. Dabei stand nicht nur der Vorwurf des Plagiats im Raum. Skandalisiert wurde nicht allein die Verwendung von Fremdtexten ohne Kennzeichnung, sondern auch der Umstand, dass der Romantext offenbar nicht das Erleben der Autorin wiedergibt. Einige Rezensenten (ausgewiesene Literaturkenner und zumeist studierte Germanisten) spekulierten nun öffentlich darüber, ob Hegemann als Minderjährige überhaupt schon einmal im Berghain war, oder monierten, die Autorin könne ohnehin noch keine gute Literatur schreiben, schließlich habe sie ja als siebzehnjähriges Mädchen noch nichts erlebt.
Diskussionen über das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit sind dabei kein Phänomen der Postmoderne oder Postpostmoderne. Angefangen bei Platons Vorwurf an die Dichter, sie würden lügen, über die biographistischen Literaturinterpretationen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in denen Literaturwissenschaftler um jeden Preis einen Zusammenhang zwischen Leben und Werk eines Autors herzustellen versuchten, bis hin zum Gegenentwurf der Poststrukturalisten, die angeführt von Roland Barthes und Michel Foucault Ende der 60er Jahre den Tod des Autors verkündeten – die akademische Beschäftigung mit dem Wirklichkeitsgehalt von fiktionaler Literatur gibt es, seit es Akademien gibt. Auf die tatsächliche Rezeptionspraxis von Literatur dürfte das alles jedoch keinen allzu großen Einfluss gehabt haben. Unbestritten ist allerdings, dass das (Autoren-)Subjekt sich in der Literaturgeschichte mal mehr und mal weniger im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung befand. Und in der gegenwärtigen literarischen Öffentlichkeit steht es eher mehr als weniger im Fokus der Aufmerksamkeit. Maxim Biller sieht sogar eine neue Epoche am Werk, die er »Ichzeit« nennt – eine Epoche der radikalen Subjektivität. Und für Iljoma Mangold bestimmt der Authentizitätsdiskurs die literaturkritischen Diskussionen der letzten Jahre:
»Im vergangenen Jahrzehnt haben sich alle genuin literaturkritischen Debatten immer um die Frage gedreht: Kunst oder Leben? Konstruktion oder Erlebnis? Form oder Inhalt? Künstlichkeit oder Authentizität?«
Tatsächlich scheinen die Möglichkeiten für die Inszenierung von subjektbezogenen Authentizitätseffekten so zahlreich wie nie: Im Zeitalter der Digitalisierung findet das schreibende (aber nicht nur das schreibende) Subjekt neue Darstellungsformen: Selfies, YouTube-Channels und Blogs bieten neue Wege das eigene Ich zu dokumentieren und zu präsentieren – es wäre geradezu verwunderlich, wenn sich diese gesellschaftliche Entwicklung nicht auch in der Literatur niederschlagen würde.
Hinzu kommt: Gerade in (digitalen) Zeiten, in denen die Möglichkeiten zu Manipulation und Täuschung noch vielfältiger und leichter zugänglich geworden sind und in denen die Botschaft von Subjektkritik und Unrettbarkeit des Ichs, die zu Zeiten von Freud und Ernst Mach nur eine intellektuelle Avantgarde beschäftigten, auch in der breiten Masse angekommen ist, wächst das allgemeine Bedürfnis nach Echtheit, Ursprünglichkeit, Individualität. Und so wurde »authentisch« in den letzten Jahren zu einem Zauberwort, das in unterschiedlichsten Kontexten Unterschiedliches bedeuten kann. Authentisch sein kann ein Politiker oder ein Popstar ebenso wie ein Restaurant oder ein Reiseziel, ein Dialog oder ein Brief.
Auf Literatur bezogen scheint »authentisch« dabei oft nicht viel mehr als ein inhaltsleeres Modewort der Literaturkritik zu sein. Der Begriff artikuliert zuweilen aber auch ganz handfeste Erwartungen an einen literarischen Text. Und es gibt unterschiedliche Wege damit umzugehen.
Anders als Helene Hegemann, der das Authentizitäts-Label von der Literaturkritik aufgedrückt wurde, die dann darüber entrüstet war, dass die Autorin nicht halten konnte oder wollte, was dieses Label versprach, hat Charlotte Roche von Anfang an gezielt die Authentizitätserwartung von Publikum und Kritik gefüttert. In Zeitungsinterviews und Talkshows beteuerte die Autorin, ihr Roman Feuchtgebiete sei »sehr stark autobiographisch«. An anderer Stelle revidierte sie diese Aussage und gab unumwunden zu, dass sie mit solchen Bekenntnissen nur die Authentizitätserwartungen des Publikums befriedigen wollte. In einem Interview brachte Roche selbst diese Haltung auf die Formel: »Ich bin die beste Nutte, die es gibt. Ich kann extrem gut spüren, was jemand will.«
Während man die Frage, was Charlotte Roche von den ganzen Sauereien, die sie in Feuchtgebiete beschreibt, schon selbst gemacht hat, auch als bloßen Voyeurismus abtun kann, liegt die Sache schon ganz anders, wenn das Sujet wechselt. In den letzten Jahren sind zahlreiche Romane erschienen, die eine Migrationserfahrung zum Thema haben, die von den Autorinnen und Autoren so oder in ähnlicher Weise gemacht wurde. Man denke nur an Olga Grjasnowa, Saša Stanišić, Abbas Khider, Kat Kaufmann –, um nur einige Namen zu nennen. Es ist zweifellos, dass sich die Rezeption ihrer Texte automatisch verändern würde, wenn die Autoren ausnahmslos in Deutschland geboren und ohne Migrationserfahrung wären. Auch wenn es sich bei den Romanen um fiktionale Literatur handelt, die Glaubwürdigkeit der Geschichten hängt an den Biographien der Urheber.
Es gibt aber auch jene Autorinnen und Autoren, denen es gar nicht um Glaubwürdigkeit geht. So wie es eine Praxis gibt, die Authentizitätserwartungen des Publikums zu befriedigen, gibt es auch eine, diese gezielt ins Leere laufen zu lassen. So haben beispielsweise Thomas Glavinic, Wolf Haas, Navid Kermani, Felicitas Hoppe und Clemens Setz in den letzten Jahren Romane veröffentlicht, in denen sie sich selbst als Figur auftreten ließen. All diese Romane, die in der Literaturwissenschaft als Autofiktion bezeichnet werden, sind höchst unterschiedlich, haben aber eines gemeinsam: Obwohl eine der Figuren den Namen des Autors bzw. der Autorin trägt, scheint der Autor bzw. die Autorin am Ende der Lektüre weit weniger greifbar als zuvor. Die Texte verweigern sich dem Konzept der Authentizität und gerade daraus ziehen sie ihre Stärke.
In einem Interview mit Clemens Setz, das sich auch auf dieser Seite befindet, erwidert der Autor auf die Frage, wie viel Wirklichkeit denn in seinem Roman Indigo stecke:
»Ich denk nicht wirklich an Wirklichkeit. […] Eigentlich sind Geschichten nicht dafür da, unsere Wirklichkeitsdrüsen zu massieren.«
Vermutlich ist das Bedürfnis nach Echtheit und Wirklichkeitsnähe in jedem Leser, in jeder Leserin in irgendeiner Form vorhanden. Und für Schriftsteller gibt es verschiedene Wege, mit diesem Bedürfnis umzugehen, die alle zu guter Literatur führen können. Ich für meinen Teil bin froh, dass es lustvolle Echtheits-Zerstörer wie Clemens Setz gibt.