Als ich am 21. August 1991 in das damals von mir geleitete Theater kam und ein Radio lief, erreichten mich mit meinem Eintreten noch die Worte: »… starb der Schriftsteller, wie seine Witwe mitteilte …«, ohne dass ich den Namen dessen, um den es ging, gehört hatte. Und doch wusste ich sofort, dass Wolfgang Hildesheimer gestorben war, dessen Adresse und Telefonnummer ich zu diesem Zeitpunkt volle sechzehn Jahre gekannt hatte, ohne es gewagt zu haben, Verbindung aufzunehmen mit ihm, der mir so viel bedeutete und bis heute bedeutet. Seinen Wohnsitz hatte der von Erfolg und stetig wachsender Beachtung Verwöhnte, der bereits 1951 zur Gruppe 47 eingeladen worden war, seit 1957 in Poschiavo, weit genug von Deutschland entfernt, nah genug einer ihm tröstlichen Italianità. Für die persönliche Bekanntschaft war es nun jedoch zu spät.
Meine Jahrgänger und ich hatten Wolfgang Hildesheimer als Gymnasiasten für uns entdeckt und waren verzaubert gewesen. Der Dauerbrenner Lieblose Legenden – die Erzählungen waren erstmals in den frühen Fünfzigerjahren in Zeitschriften und dann bei Suhrkamp in erweiterter Auflage erschienen – hatte der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur eine betörende Eleganz, einen unfassbar leicht dahingeworfenen Spott auf Kunst- und Geistesweltgetue der damaligen Mode, eine geradezu weltmännische Lockerheit und das Perlenspiel eines wahren Zauberers entgegengesetzt. In meine Studentenjahre nach 1968 passte das alles zwar schon nicht mehr richtig, aber das weiterhin noch um Hauptwerke wachsende Œuvre kam weitgehend ungeschoren davon.
Von Beginn an war es ein schillerndes »Se non è vero, è molto ben trovato«, das nach der so viel beachteten wie heftig umstrittenen Mozart-Biografie von 1977 seine Perfektion finden sollte in einem diabolisch perfekten, unglaublich gelehrten Meisterstück: in der 1981 zunächst auch als Biografie annoncierten, aber in Wahrheit durch und durch erfundenen Lebensgeschichte eines englischen Bildungsreisenden und Kunstbetrachters namens Marbot. Den hatte es nie gegeben und dennoch schien das nach ihm benannte Zeugnis seines Lebens bis in die kleinsten Verästelungen, Korrespondenzen und persönlichen Affinitäten zu stimmen. Dass diese eindrucksvolle Vita – eingepflanzt in reale Historie, in den Umgang mit realen historischen Figuren – reine Fiktion ist, in ihrer Verankerung ins Geistesgeschichtliche jedoch realer als real wirkt, bekommt eine geradezu kabbalistische Dimension. Ein fulminantes Fake neben all den brillanten Kunststücken Hildesheimers, die – mal evidenter, mal verborgener – geprägt sind von dem, was ich »depressive Eleganz« nennen möchte.
Jedoch erwähnt man dieses Dunkle, das im Hintergrund so oft in seinen Texten mitläuft, drängt sich die Sorge auf, damit die Brillanz in dieser Prosa und das beglückte, lustvolle Staunen darüber zu trüben. Das Dunkle trübt jedoch so wenig wie es be-trübt. Es grundiert nur die Schönheit. Es bahnt diesem so spezifisch Hildesheimer’schen Eros der Melancholie den Weg.
Die Arbeit als Protokollführer und Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen, die Konfrontation mit den Biedermannsgesichtern der Mörder mag dem vielseitigen Künstler zum Schrecken geworden sein, der bis in die beiden großen Prosawerke Tynset (1965) und Masante (1973) mitschwingen sollte. Vielleicht könnte man sagen: Wer das Schreckliche gesehen hat, der kann die Welt nie mehr ganz ernst nehmen, der spielt mit seinen Talenten, während er selbst jene ernst zu nehmen nicht mehr wirklich imstande ist, so wenig wie die ganze schreckliche menschliche Komödie überhaupt. Doch verbindet sich mit diesem Schrecklichen eine Virtuosität des Stils, haben wir das, woraus die Literatur Hildesheimers gemacht ist, und die reicht von brillanter Unterhaltung bis zu ergreifenden Zeugnissen bedrohter Seele, ohne selbst da den Unterhaltungswert zu verlieren, dem Schrecklichen Vergnügliches abzuringen.
Ein Schelmenstück im besten Sinn ist so auch schon der in einem Fantasie-Balkanland angesiedelte Kunstfälscher-Roman Paradies der falschen Vögel (1953), der heute, nach Fall des Eisernen Vorhangs, nach Bosnien-Krieg und Kosovo-Elend, einen Grad an Märchenhaftigkeit erreicht hat, der den angestammten des Buches noch um ein Vielfaches übertrifft. Dass es dabei um Kunstfälschung geht, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: zum einen wegen der Doppelbegabung Hildesheimers, der mit bildender Kunst begann und nach seiner Schriftstellerkarriere wieder zu ihr zurückkehrte, zum anderen, weil nach dem Erfolg von Mozart (1977) eben das Buch als letzte große Prosa-Arbeit erschien, das ebenfalls als »Biografie« auf den Markt geschickt und erst viel später, nachdem sich Kritiker mit der vermeintlich authentischen Person der Kunstgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts beschäftigt hatten, als reines Fantasie-Produkt kenntlich gemacht wurde: Marbot (1981). Hier war dem Zauberer ein Meisterstück gelungen: die bis zur Unkenntlichkeit getriebene Vermengung von Realität und Fiktion. – Man wusste bei diesem Autor nie ganz genau, ob man nun über das anscheinend Ernst-Gemeinte lachen durfte oder sollte, oder das anscheinend Unernst-Gemeinte ernst zu nehmen hatte. (Es ist kein Zufall, dass er schon in einer der legendären Lieblosen Legenden von einem Kritiker schrieb, der sich nach der Vernichtung aller von ihm kritisierten Dichter heimlich selbst einen Dichter erfindet, dessen Werke er nun mit der gewohnten Brillanz verreißen kann, bis ein betörtes Publikum die Gunst vom Kritiker ab- und dem insgeheim als Beispiel der Jämmerlichkeit erfundenen Dichter zuwendet. Ein lustvoller Rausch der Skepsis am Originalen auch hier.)
Gipfelnd in Marbot hatte Hildesheimer also ein ihm gemäßes Universum geschaffen, auch mit seinen Theaterstücken, die als deutschsprachige Zeugnisse des absurden Theaters gelten, oder seiner Rede Über das absurde Theater (1960). Und doch erschienen mir seine Beiträge zum absurden Theater schon früh wie klammheimliche Satiren auf das absurde Theater – auch hier folgte er nicht dem Zeitgeist, sondern stand über ihm.
Und so wie Collagen die bevorzugte Kunstform des bildenden Künstlers Wolfgang Hildesheimer waren, so kann man auch die literarischen Erfindungen des Schriftstellers Wolfgang Hildesheimer als Collagen betrachten: virtuose Verarbeitungen des Zettelkastens und der Erinnerungen zu einem neuen eindrucksvollen Ganzen. So überrascht auch nicht, dass Hildesheimer, der grübelnde Schlaflose in Tynset, uns, seine Leser, teilhaben lässt, wie er eine wahrlich atemberaubende Geschichte seines Sommerbettes sozusagen aus dem Stand daherzaubert, eine durchkomponierte nocturne Fuge der nach und nach aufeinandertreffenden, eng geführten und sich wieder trennenden Stimmen, gipfelnd im rasanten Pesttod unter dem Mond der englischen Nacht anno 1522 im Wirtshausbett für sieben Schläfer. Auf 27 Seiten spielt Hildesheimer hier mit seiner scheinbar improvisierenden Virtuosität. Als wenige Jahre später die literaturwissenschaftlichen Seminare deutscher Hochschulen solcherlei lustvolles Fantasieren zum bürgerlichen Trödel erklärten, war Masante noch nicht geschrieben, doch behauptete sich nach Erscheinen 1973 tapfer gegen den bilderstürmerischen Furor.
Vielleicht kann ich auch so weit gehen, die divergierenden Aspekte des Schriftstellers Hildesheimer – vom so leichtfüßigen Spott der frühen Texte, dem Zauber der Fantasie in Paradies der falschen Vögel bis zur gespenstisch plausiblen Wirklichkeitsvortäuschung in Marbot – in den Collagen seiner letzten Jahre zu neuer, besänftigter Gestalt »zusammengeleimt« – eben collagiert – zu finden.
Eine Laune des Schicksals, möchte ich sagen, sorgte dann wohl dafür, dass eine – zumindest oberflächlich betrachtet – in Ahnungslosigkeit beendete Collage den Titel Totentanz trägt. Die letzte Arbeit des Künstlers. In der folgenden Nacht stirbt Wolfgang Hildesheimer, was uns geradezu als infamer Taschenspielertrick des Fatums erscheinen muss, hätte doch Hildesheimer selbst über eine solche Sottise mit lustvollem Spott geschrieben. Er hätte es auch so erfinden können.
In seinen letzten Lebensjahren war es ihm jedoch verleidet, mit Entsetzen Spott zu treiben. Da trieb das Entsetzen seinen Spott mit ihm. Der Schriftsteller erklärte nicht nur seinen Abschied vom literarischen Schreiben angesichts einer auf die Katastrophe zusteuernden Welt, sondern das Ende der Literatur überhaupt. Etliche fielen nun über Hildesheimer her. Die Titanic reihte ihn unter »Die sieben peinlichsten Persönlichkeiten« ein. Hildesheimer stellte sich dem, wie auch Peter Handkes Notat: »Sicheres Zeichen, daß einer kein Künstler ist: wenn er das Gerede von der ›Endzeit‹ mitmacht«, und behielt dabei seine Art von Humor: »Mein Nichtschreiben wird allmählich zur Sensation. Demnächst wollen Leute vom ›Institut für Film und Bild im Unterricht‹ aus München kommen, um mich beim Nichtschreiben zu filmen.« Bei der Prophezeiung der Katastrophe blieb er. Die Gründe dafür mögen schwerwiegende, von Verzweiflung und Pessimismus umschattete gewesen sein. Dass er als Schriftsteller vor der zeitgenössischen Realität verstummte, um sich wieder allein der bildenden Kunst zuzuwenden, vertrieb die Dämonen nicht, hielt sie nur auf Abstand.
Was nun heute, fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod, seine Breitenwirkung betrifft, muss gesagt sein: Wolfgang Hildesheimer ist nicht mehr ›bekannt‹, ja, man könnte fast sagen, Wolfgang Hildesheimer ist ›vergessen‹. Die Schnelligkeit, in der sein Schaffen so unbegreiflicherweise zu verblassen begann, ist ein schwer fassbares Phänomen.
Unlängst schwärmte mir jedoch eine junge Frau im Jargon ihrer Generation von einer Lesung aus den Lieblosen Legenden vor: Die Geschichten – so pries sie in den höchsten Tönen – seien »total abgefahren«. Neben jenen, die wie ich noch immer und eh für ihn schwärmen, wird dem Autor Wolfgang Hildesheimer nun vielleicht mit den Liebhaberinnen und Liebhabern des »total Abgefahrenen« eine neue Leserschaft erwachsen. – Wäre ja schön!