Bettina Suleimans Debütroman Auswilderung ist soeben erschienen. Darin geht es um einen Gorilla, der ein Mensch sein will, weil er es nicht anders gelernt hat. Und um eine junge Evolutionsforscherin, die ihr Leben sabotiert, um Freiheit zu finden. Ein Abenteuer unserer Gegenwart. Wie sie ihre eigene Freiheit gefunden hat, davon erzählt Bettina Suleiman in diesem Essay.
Im Herbst 2010 zog ich von Israel vorübergehend zurück nach Deutschland, im Handgepäck einen Romananfang und eine Utopie: Was, wenn Menschenaffen als assimilierte Minderheit in der menschlichen Gesellschaft lebten? Nach Chuck Palahniuk steht am Anfang der Arbeit an einem Roman eine Story, die für den Autor als Bild reizvoll ist, die etwas auszudrücken scheint. Was die Story, was das Bild bedeutet, das verstehe man erst viel später. Vor vier Jahren glaubte ich noch, über die Zweiklassengesellschaft in Israel zu schreiben, über Juden und Araber, Aschkenasim und Sephardim, Staatsbürger und ausländische Arbeitnehmer.
In Leipzig erlitt ich einen umgekehrten Kulturschock: Man verabredete sich für in einer Woche, nicht für in einer Stunde. Chuzpe brachte nichts ein, nicht einmal Respekt. Allmählich fiel mir auf, was ich in Haifa außerdem so vergessen hatte: Ich konnte immer noch härter arbeiten, schonungsloser zu mir selbst sein, mich besser für die Apokalypse wappnen. Ich brauchte einen Zehnjahresplan und eine Altersvorsorge. Trotzdem würde ich, zumal in diesem Beruf, früher oder später verhungern. Es sei denn, ich setzte mich für die Abschaffung des Kapitalismus ein oder für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wenn schon schreiben, dann darüber.
Doch diese Utopien reizten mich nicht. Anders die Vorstellung, Deutschland wieder zu verlassen. Die Betrachtung ängstlicher Menschen ruft unweigerlich zur Flucht auf, indem sie den motorischen Cortex aktiviert, zeigt die Hirnforscherin Beatrice de Gelder. Mich zog es zurück zu den Israelis, die ihre schmalen Einkommen trotz exorbitanter Preise sorglos für »hachajim hatovim«, das gute Leben, verprassen. Jetzt verstand ich meine Affenutopie: Es ging nicht um die Zweiklassengesellschaft. Sondern darum, dass ich assimiliert in der israelischen Gesellschaft gelebt und mit meiner Auswanderung, ohne es geplant oder gemerkt zu haben, meine Selbstbefreiung vollzogen hatte. Noch in Leipzig konnte ich sie schreibend ein zweites Mal vollziehen.
Der Lohn des Schreibens, sagt Palahniuk, ist nicht das fertige Buch. Sondern Szenarios, die einen am meisten ängstigten, erforscht, ausgeschöpft – und so fortgezaubert zu haben. Ich schreibe aus egoistischen Motiven. Ich will keine Missstände festhalten, nicht die Welt retten und die Deutschen nicht vor dem Hungertod bewahren. Trotzdem mag es Leser geben, die mit meinen Figuren dieses Land verlassen, auf eine Insel im Roten Meer auswandern und sich so von ihrer »German Angst« befreien werden. Ich wünsche es ihnen.