Bahar. Vor zwanzig Jahren kam Bahar nach Berlin. Vor dreißig Jahren floh sie aus Teheran nach Moskau. Vor fünfzig Jahren wurde sie in Isfahan geboren, das einzige Mädchen unter Brüdern, im fruchtbaren Tal des Flusses Zayandeh Rud, im Frühling. Deswegen Bahar. Jeden Tag fährt Bahar ihre eigene Geschichte und die Geschichten ihrer Gäste umher, ihr Taxi ist ein eigenmächtiger Raum, ein fahrbarer Entwurf für Möglichkeiten. Eine zeitweilige Ablenkung, ein Versteck, ein Stationendrama. Kurz eine Heimat ohne feste Grenzen. Das klingt jetzt wie Kino, sagt Bahar und ja, Bahar liebt das Kino, im Besonderen Taxifilme. Das malvenfarbene Taxi von Yves Boisset, Taxi Driver, Jim Jarmuschs Night on Earth und jetzt Taxi Teheran von Jafar Panahi.
Isfahan ist die halbe Welt, sagt ein persisches Sprichwort, ihr Taxi in Berlin ist die andere Hälfte, sagt Bahar. Eine analoge Halbwelt, in der für etliche Stunden am Tag, in der Nacht, Neuigkeiten aufpoppen, Geschichten gepostet, Likes und Dislikes vergeben werden. Zufälle wie Links anmuten, die ein ferner Datengott weiterleitet. Zum Beispiel unter dem Stichwort »Mykonos«. Nicht die griechische Insel, sondern ein Restaurant in Berlin, in dem 1992 ein Attentat an vier iranisch-kurdischen Oppositionellen verübt wurde. Der Befehl zu diesem Massaker kam vom iranischen Geheimdienst. Politische Gegner, die auf einer Liste standen, sollten liquidiert werden, hier in Deutschland. Als junge Aktivistin floh Bahar, nach Gefängnis und Folter, aus dem Iran. Kurdin, Kommunistin, die zunächst eine Zukunft in der Sowjetunion sah. 1995 kam sie nach Berlin. 1997 wurden unter dem Vorsitz von Richter Frithjof Kubsch die wegweisenden Urteile im Mykonos-Prozess gefällt. Ein deutsches Gericht wies zum ersten Mal einem anderen Staat die Hauptschuld für ein Kapitalverbrechen zu. Eines Tages steigt ein älterer Herr mit sanftmütigen Augen und Schnauzbart in Bahars Taxi. Es ist heiß, das Sonnenlicht blendet sie, aber sie erkennt sein Gesicht. Es war, als hätten Sie ein Gottesurteil gesprochen, will sie Richter Kubsch sagen. Sie weiß, dass es eine vollkommen unpassende Formulierung ist, stattdessen sagt sie »Danke«. Für Sicherheit und Humanität, die sie jetzt erst, zwei Jahre nach dem Urteil, durch seine unvermutete Anwesenheit gewährleistet sieht.
Bahar stellt sich ihre Fahrgäste wie auf einem Wanderweg vor. Sie wandern von Europa, Asien, Amerika aus durch Deutschland, halten einen Moment in Berlin in ihrem Taxi inne und ziehen weiter. Die Begegnung mit Menschen als eine unendliche Variation auf das Gefühl der eigenen Heimatlosigkeit. Bis zur Selbstverleugnung. Einmal steigt ein gut gekleideter Iraner zu, Rosenduft verbreitet sich. Sie gibt sich als Russin aus. Im Rückspiegel streift sie sein Blick, prüfend, wie sie findet. Der Iran betreibt weiterhin die Ausforschung von Oppositionellen im Ausland. Wo genau in Russland sind Sie geboren, fragt er. Fast hätte sie auf Persisch geantwortet.
Mehr als ein Gespräch ist das Schweigen für Bahar von Reiz. Dann legt sie Bilder von Abschied und Trennung über das Relief der stummen Gesichter. Meine Frau hat mich verlassen. Ich musste alles zurücklassen. Er soll einfach gehen und nicht mehr wiederkommen. Manche reden darüber, kurz wird sie zur Zeugin einer Katastrophe erwählt. Oft eine wiederkehrende Geschichte. Weiblich, zwischen dreißig und fünfzig, zwei Kinder. Oder männlich, Anzug, gerötete Augen vom langen Flug. Was meinen Sie, was soll ich tun, wird sie manchmal gefragt. Und wenn sie die Antwort weiß und es ihr zu unhöflich scheint, sie zu geben, denkt sie an Sätze, wie sie Kindern einfallen. Zum Beispiel, ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist schwarz-weiß. Gehen Sie in den Zoo, antwortet Bahar, und schauen Sie sich die Zebras an. Wussten Sie, dass durch die Streifenzeichnung die Umrisse der einzelnen Tiere einer Herde nicht mehr erkennbar sind?
Einmal stirbt einer. Er stieg morgens in ihren Mercedes und bat sie, sie solle ihm Berlin zeigen. Ein paar Stunden habe er Zeit. Sie weiß nichts von ihm, als er stirbt. Sie hatte auf die Sehenswürdigkeiten gedeutet, er hatte genickt, fast unmerklich, sodass Bahar irgendwann nicht mehr damit rechnete, beachtet zu werden. Sie sprachen Englisch miteinander, wenig, in seinem breiten Mund rollten die Worte wie eine zögerlich springende Roulettekugel. Seinen Akzent hatte sie noch nie gehört. Er war sehr höflich. An der Bernauer Straße waren sie ausgestiegen, und er ging auf die Überreste der Mauer zu und berührte sie. Dann kam er zurück und öffnete die Fahrertür für sie. Er lud sie zum Kaffee ein, sie aßen Schwarzwälder Kirschtorte im Auto. Dann sagte er, this is not a taxi, this is a home. Und lachte. Irgendwann sagte er nichts mehr, und sie dachte, er sieht ausgeruht aus. Aber da war er schon tot.
Bahar gehört zu den Menschen, denen andere ihre Geschichten anvertrauen. Viele erzählen von sich, weil sie in ihrem Leben zu gerne wie in einer Fiktion vorkommen würden. Sie sagen, mein Leben ist selten fest genug, um es zu fassen, und ein Gefühl von Spielen und einem unfertigen Ich ist bei einer Fremden gut genug aufgehoben. In Jafar Panahis Film ist der Taxifahrer ein Regisseur, alles ist inszeniert, choreographiert der Irrwitz, der sich zur bitteren Realität steigert. Seine Fahrgäste erzählen ihre Geschichten in der Hoffnung, dass das, was wahr ist, wahr wird.
Bahar kann nicht zurück in den Iran, ihr Taxi ist zu einem verlässlichen Mittelpunkt geworden, um den sich die Dinge fügen und ihren Platz einnehmen. Es gibt noch die vage Erinnerung an das, was sie mal kannte, ihre Familie, das lethargisch-schöne Tal ihrer Geburtsstadt, Freunde, die Universität, das Gefängnis, die zwiespältigen Jahre in Moskau. Vielleicht ist es das, worum es im Grunde geht, sein Leben überschaubar einzurichten, mit unsichtbaren Fluchten. Auf dem Beifahrersitz liegen Bücher, sie liest zwei oder drei in der Woche, die russischen Klassiker, die europäischen und amerikanischen Zeitgenossen. Die Lyrik Persiens. Hin und wieder übersetzt sie aus dem Deutschen ins Persische, politische Schriften, die in den Iran geschmuggelt werden. Eines Nachts stolpert ein betrunkener Fahrgast auf den Rücksitz, ein schwach beleuchteter Schatten im Spiegel, und singt, das Leben ist schön, das Leben ist schön. Der Mann hat recht, sagt Bahar und sie erinnert sich an die Frage eines Fahrgasts in Panahis Film: Was ist der Unterschied zwischen der Realität und der Unwirklichkeit?
Die Collage auf der Startseite basiert auf einem Foto von Steve Calcott (CC BY-NC 2.0).