Dass ich davon erfuhr, liegt an meiner Vorliebe, morgens in einem Café zu frühstücken, in dem deutschsprachige Tageszeitungen ausliegen, aber auch Zeitschriften aus Europa und Übersee. Ein erster Blick auf die Überschriften der Artikel gibt mir das Gefühl, dass die Welt überschaubarer ist, weil die Ereignisse sauber sortiert Ressorts zugeordnet sind. Der Glaube, dass es noch etwas gibt, das einem den Weg weisen kann. Ich blätterte in einem amerikanischen Magazin und las: Freundschaftsdienste kaufen in Japan! Mieten Sie in Tokyo einen unechten Freund für echte Gefühle! Erleben Sie mit ihm, was Ihnen fehlt, Sie vermissen, was Sie brauchen! Zum Beispiel: Sie möchten am Abend Zeit mit Ihrer Familie verbringen, müssen aber beruflich bedingt auf einer After-Work Party anwesend sein. Sie engagieren über eine Agentur einen sympathisch wirkenden Mann, den Sie sodann als Ihren Geschäftsfreund vorstellen. Seine freundschaftliche Serviceleistung wird darin bestehen, auf der Party frühzeitig einen Kreislaufkollaps vorzutäuschen. Selbstverständlich werden Sie ihn nach Hause begleiten wollen. Oder: eine Beerdigung. Die Trauernden. Nur wenige. Man hört Einzelne weinen, man hört das Rascheln der Hände, wenn sie in den Handtaschen nach den Taschentüchern suchen. Plötzlich ein Unbekannter, der sich als Freund ausgibt, er tröstet, er hält eine Rede, er trocknet mit seinem Einstecktuch die Tränen der Trauernden. Oder: Du lebst getrennt. Viele Monate schon, vielleicht Jahre. Möchtest abends nicht länger einsam sein. Nicht allein fernsehen. Wenigstens das. Der Freund setzt sich für ein paar Stunden zu dir, bringt dir das Bier und fragt und fragt so viel, dass du den Fernseher ausstellst und schon glücklich bist, wenn er nur weiter fragt, du willst gar nicht antworten.
Ich mag das Wort Trouvaille, es bezeichnet einen erfreulichen Zufallsfund; in meinem semantischen Verständnis einer, der dich aussucht, ihn zu finden. Der amerikanische Artikel hatte unter den vielen tausend Lesern mich gefunden, damit ich über Folgendes nachdachte: Viel zu viele hatten mir schon erzählt, wie schlecht es in ihrem Leben lief, und unter all denen, die noch willens waren, ausführlicher darüber zu reden, breitete sich nach ein paar Sätzen eine müde Gewissheit aus, dass sich so schnell daran nichts ändern würde. Sollte ich nicht einen Raum suchen und dort selbst ein Miet-einen-Freund-Büro eröffnen? Könnte mein kleines Unternehmen, Temporäre Freundschaft, so würde ich es nennen, nicht ein Konvergenzpunkt sein, an den Bedürfnisse, Nöte, gerichtet werden und Lösungen und Begegnungen sich aus ihm gestalten ließen?
Ich fragte mich, ob ich eine Anzeige aufgeben sollte, in der ich nach einem Tokyoter in Berlin suchen würde, der Erfahrungen im Vermieten seiner selbst hat. Oder zumindest einen solchen kennt beziehungsweise jemanden kennt, der einen kennt. Oder war es unverfänglicher, einen, wie ich meinte, japanisch aussehenden Menschen direkt anzusprechen, zum Beispiel in einem japanischen Restaurant?
Ich setzte mich in ein Café, bestellte einen grünen Tee und legte ein Blatt Papier auf den Tisch. Ich wollte etwas aufschreiben, ein Wort, einen Satz, der mit jeder Silbe klar machen sollte, dass ich mit irgendetwas anfangen musste. Grammatik, Struktur, Zeichen. Ein junges Paar setzte sich an den Nebentisch, konnte sich aber nicht einigen, ob es der ideale Platz war, stand auf und suchte sich einen Tisch in der Nähe des Fensters. Der Tag war grau. Die Frau blieb im Mantel sitzen, der Mann nahm ihre Hand und lenkte ihren Blick auf die Aussicht zur Straße. Eine Elster landete zu den Füßen eines Mannes, der auf einem schmalen Grünstreifen direkt vor dem Fenster eine Decke ausgebreitet hatte und Bücher verkaufte. Plötzlich hieb die Elster mit ihrem kräftigen Schnabel auf die Bücher ein, der Mann ließ es geschehen, lachte sogar und warf ihr ein Stück Brot zu. Zu meiner Überraschung störte mich der Anblick des lachenden Mannes mehr als die Attacke des Vogels. Ich zerknüllte das Blatt Papier, zog mein Smartphone aus der Tasche und tippte in die Notizbuch-App: »Es kommt allein nur darauf an, lange genug durchzuhalten.« Ich schrieb weiter in meine App: Ein Schriftsteller und ein Kleinunternehmer besitzen an der Stelle eine Schnittmenge, in der es darum geht, den Glauben an den ökonomischen Erfolg nicht zu verlieren! Wachstum! Fortschreiten! Anerkennung! Eine weitere Überschneidung: Geschichten! Ist es nicht wahr, dass Geschichten, die man erfindet (Schriftsteller), und initiierte Begegnungen, aus denen Geschichten werden (Temporäre Freundschaft), einander ähneln, weil sie auf nichts anderes bauen als auf Fantasie. Allerdings haben in der Regel meine erdachten Figuren oft deutlich längere Begegnungen miteinander, und diese sind zumeist schwerer belastet als der emotionale Wachtraum, in dem sich die gemieteten Freunde vorübergehend befinden würden. (Vorteil Temporäre Freundschaft?). Ich brachte es bisher nicht fertig, meinen Protagonisten eine schulterzuckende Leichtigkeit anzulegen, mit der sie aus sich selbst aussteigen können, wenn es zu heftig kommt. (Nachteil Schriftsteller?). Und hier ist noch etwas, was die gemieteten Freunde eventuell nicht wissen: Man gebe sich keiner Täuschung hin, zur Leichtigkeit gelangt man nur durch schwere Arbeit (Kein Vorteil, aber auch kein Nachteil).
An einem weniger grauen Tag saß ich im Zug nach München. In dem Augenblick, in dem er mitten auf der Strecke zum Halten kam, starrte ich in ein Heft mit japanischen Schriftzeichen (wie ich später erfuhr), in das sich mein Nachbar Notizen machte. Das ist ein Fanzine, klärte er mich auf. Ein Fanzine für Rollenspiele. Ich habe beruflich viel in Tokyo zu tun, sagte er, und ein Bekannter, der davon lebt, sich als Freund für prekäre Situationen anheuern zu lassen, erzählte mir von diesem Magazin, aus dem er sich viele Tipps für seinen Job holt. Hier zum Beispiel, und er blätterte weiter, wird von einem Live Action Role Playing berichtet, bei dem Spieler eine Spielfigur physisch darstellen. Es gab ein Drehbuch, aber den Spielern war freigestellt, mit Fantasie und Improvisationstalent ihren Charakter zu verändern, Hauptsache, ihr Spiel entwarf eine konkrete und glaubwürdige Gestalt. Das Ganze fand in einem Wald statt, und die Spieler sollten ihre kindlichen Ängste aktivieren, als sie sich noch vor Hexen und Geistern fürchteten. Zu diesem Zweck war eigens ein Holzhaus gebaut worden, aus dem sie seltsame Geräusche hörten, als sie sich ihm näherten. Was die vier Spieler, die in die Rolle von zwei Liebespaaren geschlüpft waren, nicht wussten, war, dass das Drehbuch abgeändert worden war, um durch unvorhersehbare Elemente das Spiel zu intensivieren.
Seine Nacherzählung erinnerte mich an einen Horrorfilm, den ich vor Jahren gesehen hatte, und ich wollte schon einwenden, dass wir doch inzwischen mit dem Genre so vertraut seien, dass uns eine solche Situation nicht mehr erschrecke. Ich ließ es, schon weil mein Nachbar weiterredete. Ist es nicht so, sagte er, dass in jedem Spiel auch das Wagnis einer bösen Überraschung liegt und wir dann für einen kurzen Moment nicht unterscheiden können zwischen einem wahren und nachgestellten Ereignis. Es war eine bestimmte Schlaffheit seiner Schultern, die mich stutzig machte, während er weiterhin über das Magazin sprach, in einer fast albern heiteren Stimme. Er kauerte über dem Heft und schien unbedingt davon absehen zu wollen, mich anzuschauen. Der Zug schob sich plötzlich mit einem Ruck nach vorne, nur wenige Meter, und mein Nachbar sagte: Verstehen Sie? Als hätte ich eine Pointe verpasst oder den Sinn einer Parabel nicht erfasst, weil ich das Gemeinte hinter dem Erzählten nicht verstand, antwortete ich nicht. Ich glaubte damit eine Zurückhaltung zu signalisieren, die dem anderen Raum geben würde, weiterzusprechen oder auch nicht. Ich hörte die Schmatzgeräusche einer Person hinter uns und roch das saftige Fleisch einer Orange. Aus der Sprechanlage des Zuges kam ein trockenes Räuspern, das klang, als sei die Stimme froh, etwas Menschliches von sich geben zu dürfen und nicht die Ansage einer Computerstimme überlassen zu müssen. Aber die Stimme sagte nichts. Sicher wieder ein Selbstmörder, rief jemand. Ein Vorfall aus einer Reihe von unendlichen Alternativen, aber wir wählen den schlimmstmöglichen, sagte mein Nachbar. Das Licht der Abendsonne stieß durch das Astwerk einer Baumgruppe und fiel in unser Abteil und lud die stickige Luft mit goldfarbenen flirrenden Staubteilchen auf. Er stand auf, zog einen kleinen Koffer von der Ablage. Zum ersten Mal sah ich sein Gesicht, und es kam mir vor, als ob der Satz, den er mir eben noch zugeflüstert hatte, nicht aus seinem Mund gekommen war, sondern aus seinen Augen. So unendlich traurig sahen sie aus. Er reichte mir seine Hand, und ich dachte, dass ich jetzt gerne etwas über meine Pläne bezüglich der Temporären Freundschaft verraten hätte, und ich sagte, Temporäre Freundschaft, und merkte, dass ich es als Frage formulierte, und er sagte, ja, so könne man es sagen. Und verließ das Abteil.
Zurück in Berlin, sprach ich mit einem Freund über meine Pläne. Glaubst du, dass Moral irgendwann eine Rolle spielen könnte?, fragte ich ihn. Wir unterhielten uns in seiner kleinen, übertrieben aufgeräumten Wohnung, in der die Dinge wirkten, als suchten sie nach einem Anknüpfungspunkt. Ich schaute über ihn hinweg hinaus auf die nasse Straße. Die Äste hingen gebeugt und kahl an den Bäumen, womöglich waren sie vom Platzregen plötzlich entlaubt worden. Ich stellte mir vor, dass ich mich gerade zwar in diesem Zimmer befände, aber in einer imaginierten Situation, in der mein Freund ein von mir gemieteter sein würde. Wozu würde ich ihn einsetzen wollen? Der moralische Wert, den wir einer Handlung beimessen, ist immer auch Ausdruck einer spezifisch kulturellen Prägung, sagte er. Er lächelte mich an. Ich weiß gar nicht, ob das stimmt, aber ich wollte dir auf deine vage Frage irgendwie auch eine vage Antwort geben, und ich glaube, das ist mir gelungen, sagte er erleichtert. Er hatte sich von seiner Frau getrennt und war vor zwei Monaten in dieses Apartment gezogen. Obwohl er seine Entscheidung nicht bedauerte, wirkte er so, als sei das Unglück unvermutet über ihn hereingebrochen. Auf jeden Fall kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich zu voreilig gehandelt habe oder nicht doch viel zu spät und dadurch jedes Recht auf Glück verwirkt habe, sagte er.
Mir kam der Gedanke, ob ein gemieteter Freund auch in die Situation kommen dürfe, in der umgekehrt er seine Bedürfnisse von seinem Kunden aufspüren und befriedigen lassen würde. Der Wunsch zu helfen, weil es einem selbst hilft. Mit anderen Worten, ich befand mich gerade in einer Situation, die so gar nicht imaginiert war, sondern in der ich mich vor die reale Aufforderung gebracht fühlte, einem Freund etwas Gutes tun zu wollen. Als Kind wunderte ich mich oft, warum meine Mutter meine Wünsche nicht erraten oder mir von den Augen ablesen konnte, und jetzt wunderte ich mich, wie abwegig es mir schien, aufzustehen und seinen Nacken zu massieren. Einen Rotwein zu kaufen und mit ihm die Nacht durch mehrere Staffeln seiner Lieblingsserie zu schauen. Uns an der flüchtigen Realität unserer Körper festzuhalten. Sein Blick: ruhelos, das schon. Die dunklen, welligen Haare, die er wie eine pflichtschuldige Geste unentwegt hinter seine Ohren legte. Die Worte, die er durch seine Gedanken hetzte, als drohten sie ihm eines Tages auszugehen. Ich streckte meine Arme aus und umfasste meine Hände, bis die Knöchel knackten. Das Signal, aufzustehen. Vielleicht hatte ich aber auch nur vor mich hin gestarrt, weil der Freund plötzlich mit einer betont leisen Stimme weiter sprach, als würde er mich nur widerwillig stören und sich ungern selbst hören wollen. Und eines der sonderbarsten Erlebnisse, fuhr er fort, das ich während meiner Ehe hatte, war, eine Bitte meiner Frau zu erfüllen, zu dem ich mich nicht imstande fühlte. Meine Schwiegermutter war gestorben, und im Testament hatte sie den Ablauf ihres Begräbnisses genau festgelegt. Wir erfüllten haarklein alle ihre Wünsche: mieteten ein Boot, fuhren die Spree und die Havel entlang, tranken Unmengen ihres Lieblingsweines. Die Urne hatten wir in eine offene Kiste gebettet und vorne am Bug befestigt, damit sie Wind und Sonne ausgesetzt war. Anschließend wurde sie im Familiengrab beigesetzt. Circa zwei Wochen später telefonierte meine Frau mit ihrer Schwester in Australien. Es war ihr leider nicht möglich gewesen, zur Beerdigung zu kommen. Bitte sag ja und erfüll ihr den Wunsch, flüsterte meine Frau und reichte das Telefon an mich weiter. Ich vermisse meine Mutter sehr, sagte meine Schwägerin, und ein Teil ihrer Asche sollte auch hier in Sidney sein. Ich sagte sofort nein. Ich habe immer nur nein gesagt, nein, nein, und irgendwann aufgelegt.
Der Freund stand auf und zog die Vorhänge zu. Die Dinge um uns herum sahen jetzt matt aus, ich sah zu, wie sie erloschen, nur wir beide leben noch, dachte ich. Weißt du, sagte er fast tonlos, wenn ich damals von der Möglichkeit gewusst hätte, einen Freund mieten zu können, und sei es einen aus Tokyo, ich hätte es getan.
Als ich nach Hause ging, versuchte ich dem penetranten Licht der Straßenlaternen auszuweichen, lief mitten auf der Fahrbahn. Ich sah mich in Gedanken nach einer Antwort um, die ich dem Freund hätte geben können, stattdessen fielen mir nur Floskeln ein wie, ja, ich habe schon mal einen Film gesehen, da hat das mit dem Exhumieren wunderbar geklappt. Oder das Sprichwort, ein gebranntes Kind scheut das Feuer, wobei ich mir wegen Taktlosigkeit freiwillig sofort auf die Zunge gebissen hätte. Ich schob das Laub auseinander, und schon klebten Blätter an meinen Schuhen wie riesige Schuppen. Plötzlich sah ich mich als Existenzgründerin mit existentiellen Sorgen konfrontiert: In welche Situationen die von mir angestellten Miet-Freunde geraten könnten! Vor kurzem las ich, dass Studenten in den USA eine so große Angst vor der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen haben, dass sie sich eine Unbeschwertheit im Umgang damit nicht mehr vorstellen können und sich zunehmend nach Meinungsharmonie sehnen. Allein die eigentlich harmlose Situation, in die der von mir angestellte Miet-Freund sich fügen müsste, wenn der Kunde ihm seitenweise aus seinem Hass-Blog vorlesen würde, ihn aber unter dem Vorwand gemietet hatte, jemandem endlich seine schriftstellerischen Arbeiten vorzutragen – allein diese Situation würde ich meinem Angestellten nur ungern zumuten wollen. Wie ich überhaupt niemanden in eine Situation bringen möchte, die ich nicht selbst gewollt hätte. Bei meinen fiktiven Figuren ist das anders. Ich habe nichts dagegen, dass sie scheitern, und ich schaffe gerne Voraussetzungen für sie, dass sie das auch ausgiebig tun. Oft können sie nicht anders, als sich zu verletzen, zu missachten, sogar sich umzubringen, in Tiere zu verwandeln, wenn der Schmerz unerträglich wird, sich in Ausweglosigkeiten zu verheddern, von Leidenschaft zu sprechen, wenn sie Erbarmungslosigkeit meinen. Das alles ihnen abzuverlangen ist manchmal unerträglich, und ich dachte, dass ich als Nächstes unbedingt eine Komödie schreiben werde.
Ein paar Tage später hatte ich eine Nachricht aus Tokyo auf meinem Anrufbeantworter. Ich habe sie gelöscht.