Als ich Ende der fünfziger Jahre aufs Gymnasium kam, die Kieler Gelehrtenschule – altehrwürdige Lateinschule, gegründet 1320, und in steter Konkurrenz zum Lübecker Katharineum, gegründet 1531, das Hans Blumenberg absolviert hatte, erfolgreicher allerdings als Thomas Mann –, wurde mir in der Kiel-Kitzeberger Nachbarschaft ein wenig argwöhnisch über den Kopf gestrichen, weil ich so tollkühne Eltern hatte, die ihre Tochter als eines der ersten Mädchen auf ein humanistisches Jungengymnasium schickten, besser gesagt, mit dem Schiff über die Förde ans andere Ufer fahren ließen, wo doch die anderen Oberschülerinnen zu Mädchenschulen gingen, wohin sie mit derselben Fähre über die Förde fuhren. Gelehrtenschule fand ich toll, ich hatte es mir gewünscht, dorthin zu gehen, und hatte auch gleich einen Oberprimaner zum Freund, der mich zur Anlegestelle begleitete, die man Dampferbrücke nannte und die bei Hans Blumenberg in mancher Glosse vorkommt.
Mein Vater wollte die Namen aller meiner Lehrer wissen, und von den Jüngeren sagte er dann: Schüler von mir, oder: hat bei mir studiert. Gemeint war und Hintergrund ist, dass bis in die siebziger Jahre hinein alle Studierenden, die ein Staatsexamen machen wollten und meist auf den Lehrerberuf hinarbeiteten, ein Philosophicum zu absolvieren hatten, eine Prüfung nach vier Semestern, so wie Mediziner und Juristen ein großes Latinum ablegen mussten. Als Privatdozent an der Kieler Christian-Albrechts-Universität oblag es Hans Blumenberg, die Vorlesungen und Seminare zur Erlangung des Philosophicums sowie die Prüfungen abzuhalten. Philosophie als Pflichtfach – ein Traum aus heutiger Sicht. Und für meinen Vater ein doppelter Gewinn, denn es bescherte ihm eine zahlreiche Hörerschaft, die ihm zugleich erhöhte Einnahmen einbrachte, weil die Studierenden zu jener Zeit für jede belegte Vorlesung ein Hörgeld entrichten mussten, das den Dozenten zukam.
Noch als der Kieler Gerhard Stoltenberg 1965 erster Wissenschaftsminister der Bundesrepublik wurde, rief mein Vater: Schüler von mir, und als dieser später Ministerpräsident von Schleswig-Holstein wurde, rief er wieder: hat bei mir studiert, diesmal schon deutlich mit ironischem Unterton. Tatsächlich muss es von solchen Schülern gewimmelt haben, ich wiederhole es: Philosophie war Pflichtfach auf dem Weg zum Staatsexamen, nicht nur in den Geisteswissenschaften. Auch meine drei Brüder sind solchen Schülern an ihren Schulen begegnet und haben dazu eigene Geschichten zu erzählen. Mir aber teilte sich damals die Welt ein in die Guten und Erfolgreichen, die Philosophie studiert und das Philosophicum abgelegt hatten, und die anderen …
Für Hans Blumenberg bedeutete eine große Hörerschaft Bekanntheit in der Stadt, aber, dessen war er sich bewusst, sie barg auch Risiken, denn er hatte Beurteilungen abzugeben, die nicht gefallen mussten. War er berühmt oder berüchtigt?
Als ich ihm den Namen meines als besonders streng geltenden Erdkundelehrers nannte, sagte er: der hat bei mir studiert, von dem hast du nichts zu befürchten, ich habe dafür gesorgt, dass er das Philosophicum bestanden hat (obwohl er, und das sagte mein Vater nicht, nach dem Willen des Zweitgutachters hätte durchfallen müssen). Wie in einer scharf gestellten Momentaufnahme erinnere ich mich an den voluminösen Herrn Dr. Vobis, als Lateinschülerin vergisst man einen solchen Namen nicht: vobis (lat.) = für euch; dieser Lehrer war tatsächlich in Sachen Erdkunde mir gegenüber äußerst großzügig in Anbetracht meines flach gehaltenen Interesses. Und nicht nur der gefürchtete Dr. Vobis war mir gnädig, es gab da auch eine Biologielehrerin … Offenbar hat mein Vater, als wäre es in weiser Voraussicht gewesen, im Philosophicum nie einen von denen durchfallen lassen, die später meine Lehrer hätten werden können oder es geworden sind.