Jeder Atemzug in New York kostet zehn Dollar, sagt meine Freundin Doris, und für die, die dabei in Atemnot geraten, werden fürs Doppelte Medikamente wie »Breathe Right« angeboten: Damit atmen Sie um 38 Prozent besser. Unterschieden wird das soziale Essen und das funktionale Essen, dafür wird ein Brei namens »Soylent« vorgestellt, der alles ernährungsmäßig Notwendige enthält, im Nu geschluckt ist und mehr Zeit für die Arbeit lässt. Der Gelegenheits-New Yorker sieht, hört und spürt auf Schritt und Tritt, welche Power die diversen Industrien, inklusive der Unterhaltungsindustrie, auf die Konsumenten ausüben. Amerika, sagte Marylin Manson gerade in einem Interview, besteht aus Angst und Kaufen.
Immer neugierig auf Erklärungen, las ich zunächst einen Kommentar, der die häufig beklagte Inhaltsleere hierzulande als Befreiung vom Zwang zu denken begrüßte. Jetzt reicht’s aber, dachte ich und machte mich auf zum jährlichen Lesefestival »World Voices« des PEN America Centers, das schon bei der Eröffnung mehr als genug Inhalte bot. Als der erste Vorsitzende Salman Rushdie nebst weiblicher Begleitung in High Heels heranchauffiert wurde, stand ich daneben, und mein Schlangen-Nachbar, ein entlassener Anwalt und Gelegenheits-Kinderbuchautor, sagte, er sei jedes Jahr im Mai hier und in jedem Jahr bringe der Rushdie eine andere, tolle Frau mit. Schon klar, sagte ich, aber das macht er nur für Sie und die Leute in der Schlange. Der New Yorker ist für kleine Scherze wie auch für gewisse Showelemente stets dankbar.
Im ausverkauften Haus begann das Programm mit Studenten, die rote Zauberer-Hüte und unlesbar beschriftete Schilder trugen, gefolgt von überdimensionalen, tarantelhaften Metall-Insekten, die sich staksig durch den Saal bewegten, ehe hochberühmte Autoren ihre Statements zu drängenden weltpolitischen Fragen abgaben. Rushdie klagte über den neuen indischen Staatsführer Modi, Adonis klagte arabisch über die dem frühen Propheten folgenden Fundamentalisten (Hat Gott danach nichts mehr zu sagen?), Sofi Oksanen mit schwer zu balancierendem, aus Rastalocken hochgebautem Zusatz-Kopfhaar klagte über das sowjetische Fernsehprogramm ihrer Kindheit, das die heutige russische Machtpolitik vorhersehbar machte – mit Standing Ovations gefeiert aber wurde einzig Judith Butler.
Auch beim nächsten Schwergewicht gab’s einiges zu begreifen. Noam Chomsky tadelte die Obama-Regierung, weil sie Öl und Gas aus allen Löchern holt und sich für die zwölfprozentige Produktionssteigerung im vergangenen Jahr feiern ließ. Angesichts der tatsächlichen Zerstörung sei dies der nach wie vor falsche Weg, sagte er und forderte die Einsetzung eines verbindlichen »right of nature«. Chomsky steigerte sich dann allerdings auch, indem er eine noch gnadenlosere Anklage gegen die New York Times fuhr, die mit einer zwölfseitigen Sonderbeilage die so erfolgreiche Öl-, Gas- und Fracking-Industrie und ihre Manager hochgejubelt hatte – eine mir persönlich sehr unangenehme Suada. Denn bis dahin war diese Zeitung eins meiner wesentlichen Werkzeuge für das Verständnis der amerikanischen Realität gewesen – wie Uwe Johnsons Gesine Cresspahl rekonstruierte ich mit ihrer Hilfe insbesondere das New Yorker Leben. Ich bewunderte das Blatt für seinen Spagat, nahezu täglich in langen Artikeln vehement für die Rechte der Armen einzutreten und zugleich den Reichen in Wort und Bild exklusive Tipps zu geben, wie sie ihre viele Kohle besonders erfolg- und genussversprechend anlegen können.
Die Zeitungslektüre fiel mir vor allem sprachlich leicht. Jeden Tag lernte ich – im Gegensatz zu Nabokovs geforderten zehn Vokabeln – immerhin zwei neue Worte. Am 17. April waren dies »fraud« und das schön schnarrende »racketeering« – »Betrug« und »organisierte Kriminalität« –, die oft im Zusammenhang mit Politikern und Bankern auftauchen. Diese Begriffe werden seitenlang aufgedröselt, doch bei den Bankmanagern enden die abenteuerlichen Geschichten gern mit dem Wortspiel, »too big to jail«. Tja, die Sprache … In einer Unterhaltung hätte ich wenig bis kaum etwas davon verstanden, vor allem nicht in der Kneipe oder im Restaurant. Schon ab 25, 30 Gästen herrscht ein hauptsächlich aus menschlichen Lauten bestehender Geräuschpegel, der die gar nicht leise gespielte Popmusik kraftvoll überbietet und den es in dieser Stärke in deutschen Lokalen nirgends gibt. Es hört sich an, als würden sie sich niederbrüllen, dabei sind’s normal muntere Gespräche einer vor lauter Selbstbewusstsein und Durchsetzungswillen schreienden, jungen Generation. Noch weniger verstehe ich bei den Studenten, mit denen ich zu tun habe – sie verschlucken Vor- oder Nachsilben, auch Konsonanten, ihre Scherze rutschen nur so über die Zunge. Ich vermute, dass diese Digital Natives die Sprache schneller machen wollen, als sie derzeit noch ist – aber bitte, dürfen sie, es ist ihre Sprache.
Bei Lesungen wird zum Glück in der noch allgemein gängigen Sprache vorgetragen. Die Frage ist jedoch, wann und wo. Die New York Times, die über das hochrangig besetzte PEN-Club-Festival kein Wort verlor, kündigt pro Woche, wie andere Medien auch, zwei oder drei Lesungen an – wahrscheinlich gibt es pro Tag zwanzig oder dreißig unter den Hunderten ebenso wenig angekündigten, abendlichen Kulturveranstaltungen, von denen nur Mitglieder und assoziierte Gäste erfahren. Auf meinen langen Wanderungen durch Manhattan gerate ich immer wieder eher zufällig in Buchhandlungen, in denen zehn, zwölf Stühle aufgestellt werden und eine Lesung beginnt – bei weiterlaufendem Kundenverkehr. Im St. Markʼs Bookshop platzte ich einmal in eine Benefiz-Veranstaltung, weil der Laden die Miete nicht mehr zahlen kann. Ein anderes Mal, in einer ganz kleinen, bulgarischen Buchhandlung, vergessen wo, fragte ich den Stühle aufstellenden Verkäufer, was denn hier demnächst passieren würde – ein Vortrag von und Gespräch mit einer bulgarischen Wissenschaftlerin. Im Poets House hörte ich Gedichte, wobei eine wiederkehrende Startzeile Vers für Vers vom Publikum laut mitgesprochen wurde und der Mann an der Tür mir erklärte, es handle sich bei den Vortragenden um Dichter, die sich aus der Slam Poetry heraus entwickelt hätten, aber noch nicht in der regulären Lyrik angekommen seien.
Leider taugt das Zufallsprinzip nur bedingt dazu, den überbordenden Möglichkeiten in der Stadt etwas entgegen zu setzen. Das erfuhr ich vor wenigen Tagen – natürlich – aus der New York Times. Groß wurde über eine Lesung von Philip Roth berichtet, während der er vor ausverkauftem Haus ankündigte, genau damit sei es in diesem Leben vorbei: Das sei der absolut letzte Auftritt, den er auf irgendeiner öffentlichen Bühne machen werde! Ein Jahr zuvor hatte er bereits angekündigt, dass er mit dem Schreiben, diesem furchtbaren Kampf mit der Literatur, aufhören würde – und nun dieser nur folgerichtige Abschied von den Lesungen … Er fand im Unterberg Poetry Center statt, nur wenige Subway-Stationen von meiner Wohnung entfernt. Das ist New York, sagt Jon, du weißt nie, was passiert und was demnächst kommt. Der um dieses und jenes geprellte Mensch sucht noch immer Trost in der Kunst. Für Momente fand ich ihn in der Betrachtung einer Lithografie meines neuen New Yorker Lieblingsmalers Ed Ruscha. In einem seiner mit großen, klaren Buchstaben auf farbigem Grund gemachten Wortbilder schreibt er:
That was then
This is now
Danke Ed, danke Regula, Max und Sarah, danke David Lettermann, John Dee und Doris Berman, danke Timo, Nana und James.
Abflug 17 Uhr 30, kommenden Freitag.