Bei meinen Wanderungen durch New York lande ich immer wieder in Buchhandlungen, eine Berufskrankheit, die mich auch in anderen Städten regelmäßig befällt. Wahrscheinlich halte ich sie nach wie vor für Oasen der Vernunft in der Wüste des kommerziellen Wahnsinns, der die Konsumgläubigen insbesondere hier auf eine nicht enden wollende Einkaufstour schickt – der Rundkurs auf »steinernem Land« (indianisch Manhattan) ist belaufen wie jener in Mekka. Die New Yorker Geschäftsmodelle im Buchhandel sind den unsrigen durchaus ähnlich: es gibt junge Gründungen mit digitalem und Kaffeehaus-Service, Universitätsläden, die Filialen einiger Emigrantenländer, religiöse und etliche Used Books Shops wie den Housing Works Laden in der Crosby Street, eine luxuriös holzgetäfelte, etwas runtergekommene Bücherhalle … Dazu gibt es am Broadway eine der ältesten wie größten Buchhandlungen der Stadt, Strand, die aussieht, als würden die Unmengen Bücher dort mit dem Kipplaster ausgeladen … 18 Miles of Books, sagt seine Werbung. Und es gibt fast ein Dutzend Barnes & Noble-Filialen, für die der Begriff »Buchhandelskette« eher despektierlich ist – sie sind, jede für sich, fast altbacken englisch gestaltete, konservative Läden, in denen es nach altem Holz und Leder und einem Hauch Kuchen riecht. Der größte Büchertisch in der Filiale 5th Ave empfing mich mit dem Werbeschild: »Was Mama gerne lesen würde.«
Verlagsmenschen und Buchhändler sollten die nächsten Zeilen vielleicht überlesen – oder besser sehr, sehr ernst nehmen. Im McNally Jackson Books in der Prince Street, einem der neueren, extrem gut sortierten Buchläden, steht an exponierter Stelle eine technische Anlage in der Größe eines kleinen Zuse-Computers. Die teilverglaste Frontpartie ermöglicht den Blick ins Innere, wo geschichtetes Papier, Transportbänder und digitale Anzeigen zu sehen sind. Ein großes Typenschild erklärt das Ding – es ist eine »Espresso Book Machine«. Das italienische Wort wird auf einem weiteren Schild mit »fast« ins Englische übersetzt, demnach handelt es sich um eine selbstladende »Schnellbuchmaschine« … Die technische Beschreibung der EBM besagt, dass diese sieben Minuten braucht, um ein Buch zu drucken und zu binden, bei zuvor ausgewähltem Cover. Die Maschine ist an ein Netzwerk mit sieben Millionen Titeln angeschlossen, die – zusätzlich zu Eigenpublikationen – alle runtergeladen, gedruckt, getrimmt und gebunden werden können … in sieben Minuten. Das ist kein Witz und auch keine Kunst – die EBM ist eine technische, auch ästhetisch ansprechend konstruierte Maschine, die leise summend vor meinen Augen am nächsten Buch zu arbeiten beginnt … Momente später überreicht mir eine junge Buchhändlerin, die für mich nicht sichtbar hinter der Maschine saß, das fertige Buch: How to Write a Sentence — And How to Read One, von Stanley Fish, Preis 12 Dollar.
Von MacNally und Jackson lernen heißt verkaufen lernen, in ihrem besonders schönen und frisch wirkenden Laden, in dem sogar die deutschsprachige Literatur ein eigenes Regal belegt. Das Verhältnis der Literaturen beider Länder hat sich zuletzt einseitig entwickelt. Dabei besteht die deutsch-amerikanische Freundschaft in der Literatur seit Jahrhunderten, die besondere Achse Berlin-New York seit den Roaring Twenties. Am Broadway, wo amerikanische Touristen mit rund dreißig Musicals pro Jahr ihren kulturellen Nachholbedarf decken, ist Cabaret in der Saison 2014 schon zum x-ten Mal am Start und jeden Abend ausverkauft. Aus dem Deutschen übersetzte Belletristik ist hier ansonsten nur selten und oft als Bückware zu finden. Die bedeutenden amerikanischen Romanciers wie Bellow, Updike, Begley, Franzen und Philip Roth dagegen haben seit Jahrzehnten große Lesergemeinden in Deutschland, ebenso der schwierige, nie öffentlich auftretende Thomas Pynchon, den Gerüchte neuerdings in New York vermuten. Diese transatlantische Anhänglichkeit speziell in Berliner Lesekreisen erklärt sich unter anderem als dankbarer Nachhall auf die rettende Durchfütterung der westlichen Teilstadt, aber auch als Flucht vor der unschönen deutschen Vergangenheit. Sogar die 68er lasen US-Literatur, Rolf Dieter Brinkmann nahm einiges in den legendären Sammelband ACID auf, und mir gefielen insbesondere die »Komischen Nihilisten« aus New York: Donald Barthelme, Walter Abish und Leonard »Lenny« Michaels. In dessen Buch Trotzkis Garten finden sich die bis heute absurdesten Manhattan-Geschichten. Der King of Comedy aber war Donald Barthelme, ein schreibender Stand-up act, der noch jeden New Yorker Blödsinn zu feinsten Prosagespinsten veredelte, häufig als verdeckte Literatur- und Kunstkritik, stets voller Witz, Ironie und tieferer Bedeutung im Sinne eines seiner Titel Kierkegaard gegenüber Schlegel unfair. (Neun von Barthelmes Büchern sind bei Suhrkamp erschienen, auf der privaten Geburtstagsparty zu Siegfried Unselds 60. wurden Barthelme-Stories vorgetragen).
Zum 750. Geburtstag Berlins waren New Yorker Autoren – darunter auch Grace Paley und Lisa Alther – zu einem »American Chapter« ins eine Woche lang überfüllte Hebbel Theater eingeladen worden. Während dieser Tage sah ich meine Lesehelden zum ersten Mal live und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte – Don B., Abish und der schmächtige William Gaddis in einem Restaurant am Landwehrkanal: Drei ältere Amerikaner in ihren graugemusterten, nach Schwarzweißfilmen der 50er Jahre aussehenden Anzügen standen fröhlich am Tresen und ließen das Eis in ihren Whiskeygläsern schaukeln: In New York, sagte Gaddis, sehen wir uns nur alle zehn Jahre.
Heute ist es schwierig, in ihrer Heimatstadt ein Buch von ihnen zu finden. Das Komische ist in die zahlreichen Comedy Clubs abgewandert, das Nihilistische ist in der Öffentlichkeit auf ewig verboten, der aktuelle Sommerhit heißt Happy, thatʼs it. Dabei fände ein satirischer Alltagskritiker Stoff ohne Ende. Es gibt jetzt endlich Eis mit Olivenöl- oder Biergeschmack, es gibt endlich trinkbare Sonnenmilch, und es gibt stark beworbene Testosteronmedikamente, deren Opfern wiederum die Spots von großen Anwaltskollektiven Hilfe bei Schadensersatzklagen anbieten.
© Alle Fotos: Jon Dee