Vor gut einer Woche bin ich umgezogen – vom Resort »Zur Bleiche« in Burg im menschenarmen Spreewald in die Bleecker Street in Manhattan, gebleicht wurde halt überall. Von einem einmonatigen Hotelstipendium (ohne finanzielle Zuwendung) gings zu einem Aufenthalt als Writer in Residenz an der New York University (quasi als Stadtschreiber von New York, das muss ja auch jemand machen). Ein einstöckiges ehemaliges Stallgebäude, das zur Uni gehörende Deutsche Haus, ein deutsches Häuschen eher, ist des Writers Residenz, was dort keinen weiter stört. Teilweise entlohnt mich der jederzeit prächtige Anblick der recht unbedeutenden Mercer Street gegenüber, ein Panorama unterschiedlichster größerer und kleinerer Büro- oder Wohngebäude, mal fünfzehn, mal vier Stock hoch, mal sechzig, mal sechs Meter breit, 130 oder 30 Jahre alt, jede Fassade in der Reihe anders gestaltet, mal mit weithin sichtbaren, weißen Säulen vor den letzten beiden Stockwerken, mal schmuck, mal schlicht, ohne und mit den hinunterführenden, gusseisernen Feuertreppen. Was am Bau selbst technisch nicht zu machen war, wurde häufig als Sahnehäubchen auf dem Dach nachgeholt – mit einer kleinen Kapelle, einem Zwergenhaus oder einem Garten nebst Wäldchen. Diese Stadtbauten wachsen mir entgegen, überlagern sich optisch, linsen durch Lücken, tragen noch alle zusätzliche Zylinder oben drauf, diese blechernen, auf Stelzen stehenden Wassertanks, hochgradig rätselhaft wie Wohnungsmieten.
Diese Tour d’Horizon, das Ankucken von Architektur, betreibe ich dauernd, nicht denken wollen, nur kucken, ist ein bisschen romantisch-dumm, kann aber süchtig machen – »don’t wanna talk politics today, I feel too good, let me have my way«, sang der Village-Bewohner Lou Reed. Nicht die weltberühmten, sondern die im Ortsvergleich halbwegs normalen Gebäude bilden den Rahmen, in dem sich viele Menschen politikfern nach Reed bewegen – höchst unterschiedliche Individualisten, eine Weltauswahl aus allen Erdteilen stammender Menschen, die das Bild einer New York eigenen Rasse formen. Die weiße Bevölkerung ist mit 46 Prozent seit kurzem in der Minderheit, die Mehrheit stellen Afrikaner, Asiaten und Latinos (von Amts wegen ist die Stadt zweisprachig wie die Niederlausitz). Nahezu alle bemühen sich modisch wie anti-modisch um ein zu ihrer Persönlichkeit passendes Aussehen, unterstützt von zehntausenden Klamottenläden … sie wollen offenbar im Wimmelbild der Westside bella figura machen, daher bekucke ich auch sie ständig aus den Augenwinkeln. Bei den Bewohnern östlich oder außerhalb von Manhattan liegender Stadtteile wird in der Hinsicht weniger Aufwand betrieben … Im Zentrum des West Village sind es Tag und Nacht für Strand und Sport gekleidete Studenten, die hier studieren, subventioniert wohnen und abends einen draufmachen in zahllosen brüllendvollen Kneipen und etwas stilleren Cafés.
Der privaten Uni gehören etliche Wolkenkratzer, Krankenhäuser und ganz viel Grund und Boden im Dorf, clever, die Leute. Als ich auf der Suche nach meinen Kontaktpersonen das erste, uni-beflaggte Gebäude betrat, wars ein großer Schmuck-, Buch- und Textilladen mit uni-gelabelten Waren. Auch die über dreißig Stock hohen Silver Towers, mit mir im 1-Bedroom-Appartment 7 E, gehören der Uni, manche Profs bleiben hier ihr Leben lang. Nur wenige Schritte entfernt schon der Broadway, die 25 Kilometer lange Monsterstraße mit einem gefälligen Teilabschnitt, und noch ein paar Schritte weiter östlich die Bowery, die mich vor vierzig Jahren als dramatisch überlaufene Elendsstraße voller Pappunterkünfte erschreckte. Damals war ich insgesamt so schockiert, dass ich nach drei Tagen die Stadt fluchtartig verließ – erste große Reise mit 25 und dann New York. Mein Tagebuch (später mehr) beginnt am 7. September 1972: »Eben noch mit einem sehr aufgeräumten Allen Ginsberg aufwärts im Fahrstuhl – im Chelsea Hotel Zimmer 332 angekommen, muß ich erst einmal auf dem Bett ein Dutzend ausgewachsene Kakerlaken töten. New York. Village. Chelsea.« Der Seiten später beschriebene junge Mann, der »mit ausgefranstem Haar, die Füße wie ein Kriegsgefangener in Lumpen gewickelt, schreiend und sich ohrfeigend durchs Village läuft«, hat zum Schock beigetragen – so entstand meine erste veröffentlichte Geschichte überhaupt, Titel Reisen in Katastasia.
Zum Besseren verändert, versorgt mich die Bowery nun in ihren Off-Chelsea-Galerien mit einer ersten Prise Kunst und sonntags und montags mit Gedichten in einem schwülstig als Ballroom dekorierten »House of Poetry« – ab Dienstag schwenken hier wieder Tänzerinnen einer Burlesque Show alles, was sie haben, im Anschluss glutenfreies Dinner. Mit diesen Brüchen, den schnell wechselnden, sich widersprechenden Eindrücken, muss der Fremde klarkommen … New York ist nach wie vor ein Ort der mich hin- und herreißenden, heftig schwankenden Gefühle – fasziniert und abgestoßen zugleich, bin ich stets im love/hate-Modus.
Aus Nostalgie besuche ich die Quartiere, in denen ich früher gewohnt habe, in den 80ern einen furchtbaren Winter lang an der John Ecke Wall Street, wo das Haus überraschenderweise neben der Ground Zero Gedenkstätte heute noch steht. Dort stehen die bereits fertiggestellten ersten zwei von sieben geplanten Neubauten des WTC-Gesamtkomplexes, bei meiner Erstbesteigung anno ʼ72 waren es noch zwei brandneue Wolkenkratzer. Soweit ich mich erinnere, wäre ich dort oben auf dem Turm fast seekrank geworden – die deutlich spürbare Schwankungsbreite im gefühlt 142. Stock betrug eineinhalb Meter … Das neue und nun New Yorks höchstes Gebäude muss entstanden sein, wie ein Spielfilm entsteht, bei dem jeder Geldgeber Änderungen verlangt, so dass in diesem Fall vom sonst so markanten Stil Daniel Libeskinds praktisch nichts mehr zu erkennen ist. Schaue beim Chelsea Hotel in der 23. West vorbei, das – in den 80ern renoviert, mittlerweile leicht heruntergekommen – für Künstler wieder eine preislich interessante Bleibe sein könnte, Uptown folgen jede Menge elegante, neu zu besteigende Glasberge der internationalen Architektenelite. Wechsele rüber zur Eastside, über zerbröselndes Trottoir, weggeknickte Bordsteine, zigmal schlecht geflickte Straßen – aber auch in billigere Supermärkte, die Erinnerung kommt zurück. St. Mark’s Place, unsere alte Juxgegend, der Tompkins Square, ein Ort der Lesungen mit John Giorno und der Fast Speaking Woman Anne Waldman, der Besäufnisse und dem filmmakers-Kino – im heute gewöhnungsbedürftig überfüllten Park gabs Ende der 80er die letzten gewalttätigen Demos in der Stadt. Dann wieder schön, schmiedeeisern umzäunt und mit weißer Spezialstreu wie in einer Manege belegt: der »Tompkins Square Park Dog Run«, auch voll von nach Größe vorsortierten Hunden und Herrchen, die die fallenden Würstchen erahnen und mit eigens dafür konstruierten Schaufeln rechtzeitig auffangen. Das öffentliche Örtchen fürs menschliche Bedürfnis dagegen, ohnehin nur an Parks zu finden, schockiert mich so, dass ich sofort einen Toilettenführer schreiben will, um am nächsten Tag einen bereits fertigen im berühmten St. Mark’s Buchladen zu sehen: den 15 Point Guide to Peeing in the City von Ray Tempus, sicher ein nom de toilette. Schritte entfernt verkündet ein wiederum erfreuliches Plakat – »The little Dog Playgroup will meet Sundays at 11.30 am«. Doch in puncto Schäbigkeit hat sich die Gegend nach meiner Erinnerung seit vier Jahrzehnten kaum verändert.
Stimmt, sagt Regula, die Deutschlehrerin, die Häuser, Straßen und Parks sind so wie früher geblieben, nur die Mieten steigen ins Unerschwingliche …
© Alle Fotos: Ute Döring