Marode und teuer, geht also auch. Kein Wunder, dass die New York Times Anfang April auf eineinhalb Seiten ohne aufrichtiges Bedauern foto- und faktenreich feststellt: »Last Bohemian Turns Out the Lights« – der letzte Rebell und Künstler, Clayton Patterson, verlässt die Lower East Side und zieht in die österreichischen Alpen. Er hat genug von der Ruinierung dieses einst weltweit einflussreichen, bedeutenden Zentrums der Gegenkultur, von neuen, hässlichen Kettenläden, Edel-Restaurants und überhöhten Parkkosten. Der gar nicht empfindsam wirkende 65jährige Kerl, ein langhaariger Brocken mit ordentlich aus dem Bart geknotetem, blond auf die Brust gelegtem Mädchenzopf und Totenkopf auf der Kappe, gehörte als Galerist, Tattoo-Gesellschafts-Gründer und Fotograf zum Underground-Adel des Viertels – aber, sagt er, die Community, die kreative Energie, seine Lieblingsplätze sind weg, dafür werden die Drinks immer teurer.
Dieses Lied, in Kreuzberg und Hamburg-Eimsbüttel gut bekannt, wird auch in New York gesungen, was aber die Herren des Marktes hier und dort von ihren Absichten nicht abhält. Doch an Cafés und Kneipen aller Art besteht kein Mangel. Die von mir besuchten heißen »The bitter End« oder »The double down Saloon«, ›no hippies‹‚ und ›shut up and drink‹ steht auf Schildern hinterm Tresen, dies Halt die Klappe gibts in vielen Variationen, ›shut up and love New York‹ oder ›shut up and be a nice guy‹. Der Volksmund sagt es ironisch: bitte keine Kritik, sei nett oder hau ab, und keine Nörgeleien über gar nichts … auch nicht über die in den weltbekannten Burgerbratereien plakatierte Warnung ›20 Minuten seating limit‹. Stundenlang sitzen darf man in der »Bohne«, meinem neuen Stammcafé, in dem sich Zwanzigjährige bei Rockmusik aus den Siebzigern wohlfühlen, mit Laptop oder Hündchen oder beidem. Ein fremdes Land lernt man am besten in seinen Supermärkten und Kneipen kennen, sagte mir Richard Brautigan einmal, und nicht in seinen Museen oder Kathedralen. Von dem, was ich früher in New York kennenlernte, ist vieles noch da. Der von mir gern gehörte, einzigartige Sound der Stadt, das Grundrauschen, das Wind, Motoren, Autohupen und gnadenlose Signalhörner produzieren – manche nehmen per Smartphone sogar das infernale Donnern einfahrender U-Bahnzüge auf, für späteres Wiederhören.
Der Anspruch der New Yorker, unbedingt Spaß haben zu wollen, besteht nach wie vor und wird erfüllt. Noch immer deutlich spürbar steigt das Saturday Night Fieber, wenn die endlich pflichtbefreiten Massen überallhin ausschwärmen, Gentlemen und kleine Gauner ihre aufgebrezelten Ladies in feine Restaurants führen, wenn das Tempo nochmals einen Zahn höher geschaltet wird. Die dröhnenden Biker und vollgedröhnten Hells Angels sind noch da, sowie die am Union Square in Scharen tanzende Hare Krishna-Sekte, das UN-Hauptquartier mit einem Haufen schwacher Kunst drum herum, die in Chinatown unter sich gebliebenen Chinesen sind noch da und die zahlreichen, schwer bepackten Parkbankbewohner auch. Der megakrasse Klassenunterschied, der private Luxus und der öffentliche Dreck sind ebenfalls erhalten geblieben – dieses Missverhältnis verstehe ich nicht, so wie ich nicht verstehe, dass die Werbung die Köpfe zukotet und die freien TV-Sender nicht von revoltierenden Massen gestürmt werden, dass gewisse Banken weiterhin die Börsenzahlen auf protzigen Laufbildern projizieren dürfen und dass die Einkommensteuer, die fürs wohlhabende Bürgertum effektivste Gesetzesformel zum Geldverdienen, hier nach wie vor nur 3,9 Prozent beträgt … da kann der reiche Onkel schon mal ’ne Sitzbank für den Central Park springen lassen. Die Widersprüche sinds, sagt die Designerin Nana, die New York so lebendig machen: Handelt es sich also um eine bösartige Maschine, die Individualität auslöscht, Biographien zermalmt, oder existiert hier ein Kraftfeld, das für die vielen Einzelnen genau das Gegenteil bewirken kann? So gesehen, ist die Stadt selbst ihr eigenes Museum und ein Future Lab zugleich. Clayton Patterson wird sich in den Alpen noch wundern, was ihm hier verloren ging.
Jenseits der weltweit größten Einkaufspassage gibt es genug Neues. Völlig neu ist mir die Fahrradstadt New York mit ihren hunderten grünen Wegen und Radstraßen. Und das Grüne überhaupt, die manchmal glückende Wiedergewinnung der Natur wie bei der auf einer lange ungenutzten Hochbahntrasse angelegten, blumen- und buschbepflanzten, von viel Volk belaufenen ›High Line‹ – der Fotograf Joel Sternfeld war eines nachts über die Zäune geklettert, sah, was zwischen den rostigen Gleisen wuchs, und sorgte bei der Verwaltung für den Bau des hochgelegten Spazierweges … Ein vernünftiges Verständnis füreinander, ja, eine angenehme Freundlichkeit scheint eingezogen zu sein und die Egos zu dämpfen. Soziale Kompetenz ist hier das Entscheidende, sagt mein Freund Timo, seit vier Jahren im Kunsthandel dabei. Der Gemeinsinn rührt sich bereits seit längerem – dafür gehen die Daumen hoch.
Es gibt also wenig Grund zu klagen. Ich arbeite bis um vier, dann geh ich shoppen, ich bin ein New Yorker – so siehts aus. In Wahrheit gilt jedoch auch für mich noch immer, was der einst bedeutende »Polyglott«-Verlag 1971 als seinen ersten Satz in den von mir benutzten Reiseführer geschrieben hat: »New York, das ist zunächst New York City, die aus den Stadtteilen Manhattan, Bronx, Queens, Brooklyn und Richmond bestehende Stadt im eigentlichen Sinn.«
© Alle Fotos: Ute Döring