Grenzwertig: Zwei kurze Geschichten, die es nicht mehr in den Erzählband Surabaya Gold geschafft haben, obwohl sie dort hineingehörten.
Wer ihn damals in unseren Kreis mitgebracht hatte, ist mir so wenig erinnerlich wie sein richtiger Name – im Gedächtnis blieb dagegen sein wodurch auch immer erworbener, eher unglücklicher Spitzname Banane. Er gehörte zu den Leuten, die Anfang der siebziger Jahre auch deshalb willkommen waren, weil sie stets mehr zu rauchen mit sich führten, als sie für sich selbst benötigten. In entsprechend erheiterter, abendlicher Runde improvisierte Banane manchmal ein paar Liedchen auf seiner Klampfe, andere Male schien er bei den laufenden Gesprächen nicht ganz mitzukommen, sodass er von dem einen oder anderen wie auch mir nicht durchweg ernst genommen wurde. Das sollte sich nach einer mit ihm gemeinsam verbrachten, unvergesslichen Woche ändern.
An einem kühlen Aprilmorgen war mir ein dicker Fisch durch die Lappen gegangen – am späten Nachmittag desselben Tages gondelte ich halbwegs entspannt über die Nord-Süd-Autobahn in Richtung Italien. Zuvor hatte ich enttäuscht das Firmenbüro verlassen, um zu Hause bei meiner Lady über die Brutalität des Geschäftslebens zu klagen … über die verdammten Werbeärsche, die mir im Haifischbecken der PR den vermeintlich sicheren, großen Auftrag weggebissen hätten (für Kenner: einen fetten Etat des Verbandes der deutschen Futtermittelindustrie) … Du musst mal ausspannen, meinte sie am Ende des Gejammers, mach dir ein paar schöne Tage im Süden, fahr nach San Remo. Wieso San Remo? Das Meer, Spielcasinos, ein berühmtes Schlagerfestival … klang etwas süßlich, San Remo … kein Wallfahrtsort für langhaarige Mittzwanziger … aber wieso nicht, für ’n Kurztrip. Meine Freundin Isabel, acht, neun Jahre älter und reiseerfahrener als ich, hatte rein biographisch andere Koordinaten im Kopf – mediterrane Promenaden, schöne Parks und alte Grandhotels mit knarrenden Dielen sagten ihr was … Bei der Gelegenheit hätte mir bereits klarwerden können, dass ihr kitschiger San-Remo-Tipp für die Zukunft unserer Beziehung nicht unbedingt Gutes verhieß.
Isabel hatte als Reisebegleitung für mich unseren ständigen Besucher Banane zur Mitfahrt überredet – der studierte schon länger Psychologie, was vielleicht mit seinem pummeligen Aussehen, seiner breiten Kinnlade und den bebrillten Glupschaugen zusammenhängen mochte … für unser jugendliches Alter hingen seine Tränensäcke jedenfalls viel zu tief. Schwer zu ertragen, mit dem leicht verschobenen, nicht ganz zustande gekommenen Gesicht doch kein Belmondo, sondern eher jemand wie der Komiker Fernandel zu sein, unter schrägen Blicken und erotischem Dauermangel leiden zu müssen … wobei es ihm auch in der folgenden Geschichte wenig bis nichts nutzte, dass in Frankreich viele Menschen die schönen Männer ebenso lieben wie die schönhässlichen. Banane galt in unserer Clique als der unausgesprochen traurige Fall eines Benachteiligten, der ständig mit allen Mitteln gegen seine Melancholie ankämpfen mußte.
Einmal auf der Autobahn, waren seine und auch meine Probleme vergessen, unsere Stimmung wurde leichter und leichter. Die Leichtigkeit ließ sich durch das von ihm mitgebrachte Beutelchen Marihuana noch steigern, die Landschaft rauschte grün vorbei, und nach den ersten hundertfünfzig oder zweihundert Kilometern in Richtung der Schlagerstadt San Remo begannen wir zu singen – Dylan, Donovan und deutsche Wanderlieder. Stunden später, längst in Hochstimmung, hämmerten wir die Rhythmen aufs Armaturenbrett und johlten Song um Song in den verqualmten Fond, am lautesten das »I can᾽t get no … babbabam … and I try and I try and I try … babbadam … but I can᾽t get no … babbadam …«, bis wir schlagartig verstummten und völlig überrascht vor einem unvermuteten, rotweißgeringelten Schlagbaum standen … mais oui, es gab Grenzen, hier war’s die deutsch-französische, der Grenzübergang nahe Mulhouse. Ein kleiner schwarzer Mann in dunkelblauer Uniform wollte, dass wir das Autofenster öffnen. Na gut, in Ordnung – mal kurz lüften, das hatten wir wegen des noch kühlen Aprilwetters seit Stunden nicht gemacht, nur geraucht … und geraucht und geraucht, ein Pfeifchen nach dem anderen …
Zwei, drei Minuten später befanden wir uns in einer engen Zelle – konsterniert und wie von Geisterhand hineingestoßen, könnte man sagen. Der schwarze Mann kuckte autoritär. Wir kuckten durch die Gitterstäbe zu, wie sich im Vorraum drei Uniformierte über unser Gepäck hermachten und die von mir vor der Abreise wahllos schnell in die Reisetasche gestopften Hosen und Jacken befingerten … mit zunehmendem Erfolg, wie sich nach und nach herausstellte.
Hat ’ne verflucht gute Nase, unser schwarzer Freund.
Für eine so schwer im Auto hängende Geruchswolke braucht man keinen besonderen Riecher, sagte Banane.
Seine Miene war noch trauriger und schuldbewusster als gewohnt – die Zöllner hatten auf den ersten Blick die knubbelige Ausbeulung an seinem Hosenbein entdeckt und einen prallvollen Beutel mit weißen Pillen herausgezogen. Die Erklärung, das seien Tabletten für seinen kranken Magen, wiesen sie bereits leicht triumphierend zurück: Das schicken wir erst mal ins Labor nach Belfort. Das für den nächsten Tag erwartete Untersuchungsergebnis kannte Banane bereits und flüsterte mir Ahnungslosem zu, hundert LSD-Trips, für die Jugend von San Remo. Bist du wahnsinnig, sagte ich und wusste, die Lage war ernst. Zumal die Zollbeamten aus jeder meiner Hosen und Jacken ein Stückchen Shit hervorzauberten … in fast allen Taschen fand sich tatsächlich ein verschieden großer Brocken Haschisch, so selbstverständlich wie Kleingeld, Kaugummi oder Tempos … Macht zusammen 29 Gramm, sagte der wiegende Zöllner … eine überraschend große, halbvergessene Menge, auch für mich, dem eine seiner Gewohnheiten im unpassendsten Moment in die Quere kam … schon erstaunlich, dass so viel Stoff zum Naschen in den Taschen von wochenlang ungetragenen Klamotten steckte.
An der Grenze aus dem Auto gefischt, eingesperrt, zum ersten Mal im Knast – soweit ich mich erinnere, habe ich niemals wieder derart die Fassung verloren wie in dieser Nacht … Mit beiden Händen umklammerte ich die Gitterstäbe, zunehmend wütend darüber, machtlos und ohne Chance zu sein, diese Zelle auf der Stelle verlassen zu können. Da passierte etwas, das auf keinen Fall hinzunehmen war. Während Banane, den Kopf auf die Hände gestützt, stumm auf der Pritsche hockte, rüttelte ich an der Tür, begann zu fluchen und die Wärter mit allen mir bekannten französischen Schimpfwörtern zu verfluchen – die wurden unruhig. Sinnlos, hier stundenlang herumzuschreien, sinnlos auch der folgende Sinneswandel. Idiotisch geradezu die gangsterfilmgesteuerte Idee, die Beamten mit einem ihnen durchs Gitter entgegengewedelten, mehrfach aufgestockten Bündel Hunderter dazu bewegen zu wollen, uns frei zu lassen, und das sofort – der Höhepunkt meiner Fehleinschätzung des Geschehens im noch jungen, blinden Glauben an die Allmacht des Geldes. Kommentarlos nahmen sie mir die hingehaltenen Hunderter ab.
Am nächsten Morgen wurden wir ins Stadtgefängnis von Mulhouse verlegt, einem morbide-düsterem Gebäude aus Napoleons Zeiten. Dort verhörten uns Kripobeamte nach den durchsichtigen Regeln der Kripokunst: Woher, wohin, Fragen nach Hintermännern, nach Kontaktleuten in Frankreich, unter Androhung erheblicher Gefängnisstrafen und Versprechungen im Fall von Kooperation … Wir hatten nicht das Geringste anzubieten, verharmlosten uns als verführte Gelegenheitskonsumenten dieser oder jener in unseren heimatlichen Stammkneipen problemlos zu erlangenden Substanzen. In den Vernehmungspausen platzierten sie uns in mannshohen Holzverschlägen, eine äußerst unangenehme Situation, die sich gegen Abend noch verschlechterte, als das Laborergebnis bestätigte, was Banane mir schon geflüstert hatte – vor den Kommissaren spielte er allerdings den Verwunderten, der die hundert weißen Pillen von einem Kommilitonen erhalten habe und so weiter, keine Ahnung. Nach einer weiteren schlaflosen Zellennacht wurden die Verhöre fortgesetzt, wobei ich einer instinktiven Eingebung folgend verlangte, die Beweismittel noch einmal sehen zu dürfen. Ja, das ginge schon, sagte der Kommissar und begann zunehmend nervöser mit seinen Kollegen in diversen Schränken zu stöbern, um schließlich mit drei kleinen Kügelchen zurückzukehren – machte sechs Gramm auf der Waage. Nur noch sechs Gramm, sagte ich, soso … das würd’ ich doch gern einem Anwalt erzählen …
Nach drei Tagen brachten sie uns zur Grenze. Im Hof der Grenzstation parkte mein alter Volvo, der in der kurzen Zeit stark an Wert gewonnen hatte – nur bei Zahlung von 24.000 DM hätten wir die Autoschlüssel zurückbekommen. Die Karre würde als Neuwagen nicht mal die Hälfte kosten, sagte ich – ja, eben, sagten die Beamten. Es brauchte etliche Erklärungen, bis wir ihre Gebührenordnung begriffen. Die Grundlage lieferte das französische Zollgesetz. Es schrieb vor, dass als Zollstrafe der doppelte Marktpreis der geschmuggelten Ware fällig sei, was überraschenderweise auch für die zum Schmuggeln benutzten Gegenstände galt – der Strafbescheid war demnach so korrekt errechnet wie bei legalen Waren. Der kriminelle Aspekt eines verbotenen Schmuggelguts stand auf einem anderen Blatt: Nach einer behördlichen Verordnung wurden wir zwei des Landes verwiesen und in den grenzüberschreitenden Schienenbus ins vier, fünf Kilometer entfernte Weil am Rhein gesetzt, eine Stadt der Stühle und der Weinfeste. Am Abend saßen wir dort … ohne Geld, Auto und Gras, ohne Hoffnung, Frankreich jemals wieder betreten zu dürfen … Großmütter rumpelten mit ihren überschwappenden Halblitergläsern Riesling an unserem Tisch vorbei, und der ganze Saal sang Sweet Home Alabama, textsicher.
Nach wie vor fassungslos studierten wir die Papiere, insbesondere die Ausweisungsverordnung – ein unbefristeter Rausschmiss, Adieu, la belle France. In der Kopfzeile des Dokuments wurden die verantwortlichen Autoritäten aufgeführt, in einer längeren Reihe jeweils blockartig gedruckter, voller Adressen:
Im Namen des Präsidenten der Republik
Im Namen des Präsidenten der Region Elsaß-Lothringen
Im Namen des Präsidenten des Regierungsbezirks Colmar
Im Namen des Präsidenten des Distrikts Mulhouse
Im Namen des Präsidenten der Zollverwaltung Mulhouse …
wird verfügt … im Stil einer, wie wir fanden, typisch französischen Hierarchie-Arie, der maschinengetippt die Beschreibung der Straftat folgte. Die Quittung stand auf einem anderen Blatt, die vierundzwanzig Riesen, bei Lage der Dinge nicht aufzutreiben. An unserer Schuld rechneten wir nicht herum, obwohl die lächerliche Restmenge von sechs Gramm weniger wiegen mochte als die von den Polizisten unangetastet gebliebenen hundert Magentabletten … Seit unserer Festnahme hatte sich Banane deswegen immer wieder Vorwürfe gemacht – die Sache arbeitete in ihm. Und nach dem zweiten Schoppen führte dieses ständige Sinnieren zu einer, wie er glaubte, uns rettenden Eingebung.
Wir suchen diese Leute auf, sagte er, wir fangen beim Letzten unten an und wenn’s nicht klappt, beschweren wir uns beim Nächsthöheren auf der Liste, einer nach dem anderen kommt dran, am Ende gehen wir zum Präsidenten der Republik nach Paris und protestieren …
Keine Chance, sagte ich.
Aber wir nutzen sie, sagte Banane – wir ha’m die Adressen, klingeln an der Tür, egal ob Mühlhouse oder Élysée-Palast.
Was für eine Idee … Eine ganz einfache Idee, eine der damals allgegenwärtigen Grundideen, eine emanzipatorische Kampflosung … Immer ran an die Autoritäten! Keine Angst vor niemandem! Im Gegensatz zu mir hatte Banane diesen Leitgedanken internalisiert und wusste, was in der verfahrenen Situation zu tun war.
Die Zollverwaltung Mulhouse residierte in einer Villa, in der sich laut Klingelbrett auch die Dienstwohnung des uns ja namentlich bekannten Präsidenten befand. Ein großer, freundlicher Herr empfing uns in seinem Büro und ließ sich nicht anmerken, ob er den Fall bereits kannte. So entwickelte sich ein unsererseits eher kleinlaut und seinerseits eher belehrend geführtes Gespräch: Ja, wissen Sie, wir haben ein Drogenproblem in Europa, und leider beschuldigen sich unsere beiden Länder in dieser Frage gegenseitig – da muss schon etwas geschehen, verstehen Sie? Wir verstanden das. Das Verständnis mussten wir gar nicht heucheln. Tatsächlich bedauerten wir seit Tagen, dass wir auf der Fahrt nicht wenigstens einmal vor der Grenze ordentlich durchgelüftet hatten. Banane gelang es, wie zuvor bei den Verhören ein paar Tränen in sein Fernandelgesicht zu zaubern und mit zarter Stimme zu sagen, dass wir mit diesen schlimmen Dingen absolut nichts zu tun hätten, glauben Sie bitte … wir sind nur arme Studenten, diese fürchterliche Strafe verdienten wir nicht und würden sie sowieso nie im Leben bezahlen können … und meine alte kranke Mutter auch nicht. Der Präsident schien von unserem Bittbesuch zunehmend gerührt zu sein und fand Gefallen daran, uns die komplizierte Problematik mit der Güte der Macht geradezu väterlich zu erklären. Zu den permanent durch meinen Kopf rotierenden vierundzwanzig Riesen äußerte er sich nicht. Schließlich atmete er tief durch, breitete mit präsidialer Geste beide Arme über seinem Schreibtisch aus und sagte etwas pathetisch, Gehen Sie morgen früh zur Grenzstation, und man wird Ihnen dort Bescheid geben.
Wir kamen zu Fuß zum Showdown in das verhasste Grenzgebäude. Die Zöllner erwarteten uns, gleichzeitig fuhr der Rechtsanwalt, Maître Eisenlaub, mit seinem Citroën vor – er brachte eine unverschämt hohe Rechnung für unser vor Tagen aus dem Knast geführtes, sich obendrein als nutzlos erwiesenes Telefonat mit. Ohne weitere Erklärung drückte mir der Leiter der Zollstation die Autoschlüssel in die Hand. Unter den Blicken der mürrisch glotzenden Zöllnertruppe gingen wir noch ungläubigen Schrittes hinüber zum Parkplatz im Hof. Es war ein gutes Gefühl, sich wieder in ein verloren geglaubtes Auto setzen zu können. Wir verstauten unser nunmehr risikofreies Gepäck und fuhren los.
Von einer Raststätte aus rief ich später zu Hause bei Isabel an. Sie schrie sofort auf … Warum ich mich so lange nicht gemeldet hätte, sie sorge sich seit vier Tagen … Ja, sorry, sagte ich, wir sind unterwegs aufgehalten worden … aber jetzt fahren wir nach San Remo rein … sieht schön aus hier, ganz so, wie du’s beschrieben hast …