Es beginnt damit, dass ich als einer von 22 Menschen in einem Halbkreis stehe und darauf warte, dass der Mann in der Mitte meinen Nachnamen sagt. Das dauert ein bisschen, aufgerufen wird streng alphabetisch. Manchmal hasse ich das Alphabet. »Quaderer«, fordert der Mann mich irgendwann auf, zu ihm zu treten. Ich ziehe die Startnummer 18. Sofort schicke ich Pascal eine Nachricht. Er befindet sich gerade auf Recherchereise und stattet dem ehemaligen Spitzenpolitiker Holger Apfel einen Besuch in dessen Bar am Ballermann ab. Da passt die 18 ganz gut.
Der open mike sei ein wichtiger Wettbewerb. Das wird an diesem Wochenende mehrfach betont. Ein Sprungbrett, ein Katapult, ein Teilchenbeschleuniger. Wenn ich es richtig verstehe, liegt der Grund für seine Wichtigkeit zu einem großen Teil in der Zusammensetzung des Publikums. Vertreterinnen und Vertreter von Verlagen, Agenturen, dem Feuilleton, alle seien sie da. Dass wir diese Chance nutzen sollen, sagt der Mann in der Mitte: »Sprecht mit so vielen Menschen wie möglich! Knüpft Kontakte! Baut eure Netzwerke aus!« Ich fühle mich wie ein Start-up, trinke Club-Mate, nur für Tischtennis ist es zu kalt.
Die Stimmung unter den Teilnehmenden ist äußerst kollegial. Man ist sehr höflich, auf Umgangsformen wird hoher Wert gelegt. Ich fühle mich sofort wohl, denn ich liebe ja Umgangsformen. Da ich erst am Sonntag lesen werde, höre ich mir den kompletten Samstag lang ungestört Texte an. Mit einigen kann ich etwas anfangen, mit anderen weniger, so ist das wohl bei Wettbewerben wie diesem. Am Samstagabend bestelle ich eine Pizza. Es dauert über zwei Stunden, bis sie geliefert wird, zwischenzeitlich rufe ich an und frage nach, man entschuldigt sich, zur Entschädigung kriege ich einen Doughnut.
Am Sonntagvormittag überlege ich, Folgendes zu twittern: »Als ich heute Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, sah ich mich in einen hoffnungsvollen Jungautor mit Hang zur Nervosität verwandelt #openmike24«, lasse es dann aber, zu viele Zeichen, ich weiß nicht, wo ich kürzen soll. Der Heimathafen füllt sich nur langsam, die meisten wirken verkatert, ich bin nervös. Als ich meinen Name höre, gehe ich durch das Publikum auf die Bühne. Ich nehme am Tisch Platz. Esther Kormann stellt mich vor. Ihren Worten zufolge scheine ich ein interessanter junger Mann zu sein. Die Gesichter der Menschen in den Stuhlreihen vor mir kann ich nicht erkennen, das Licht ist zu hell. Ich sehe nur Schemen. Die Schemen derer, die den Wettbewerb so wichtig machen. Die Schemen des literarischen Felds. Diesem Netz an Beziehungen und Visitenkärtchen. Dann beginne ich zu lesen. Es läuft gut, ich lese gerne vor, dann sind die fünfzehn Minuten um, ich gehe von der Bühne und werde umarmt, dann ist Pause. Ich werde noch mehr umarmt, Menschen geben mir Visitenkarten, ich stecke sie schnell in meine Hosentasche, ich freue und schäme mich gleichzeitig, dann ist Preisverleihung. Der Mann aus der Mitte hält eine Rede. Der open mike sei ein wichtiger Wettbewerb, sagt er. Dann erklärt er warum (Zusammensetzung des Publikums: Verlage, Agenturen, Feuilleton). Anschließend bittet er die Bezirksbürgermeisterin des Problembezirks Neukölln auf die Bühne, die mir eine sehr gut gelaunte Person zu sein scheint. Sie berichtet von der Schönheit des Herbstes und davon, dass sie vor Kurzem mit ihrem Sohn ein Herbstgedicht auswendig gelernt habe. Sie sagt es auf. Es ist schön. Ich stelle mir vor, wie ich als Baum verkleidet auf der Bühne eines Schultheaters stehe und den Herbst darzustellen versuche. Dann werden die Preise vergeben. Rudi Nuss erhält den Preis der taz-Publikumsjury. Thilo Dierkes gewinnt den ersten Preis für Prosa, ich den zweiten, Sandra Burkhardt denjenigen für Lyrik.
Ich freue mich sehr. Es wird viel applaudiert. Eine Journalistin streckt mir ein Aufnahmegerät ins Gesicht und sagt, dass ich hineinjubeln solle. Dass ich das lieber nicht wolle, antworte ich. Sei auch okay, sagt sie und geht weg. Ich werde umarmt und umarme zurück. Überhaupt, denke ich, lässt sich dieses Wochenende am besten als einzige, lange Umarmung verstehen. Ein Mal ist sie herzlich, ein anderes Mal labbrig, wieder ein anderes Mal so fest, dass mir für eine Millisekunde die Luft wegbleibt. Das Gute an Umarmungen ist die Wärme der Körper, das Schlechte die damit einhergehende Bewegungsunfähigkeit. Abends gehe ich mit Juli und Tatjana ins Kino. Wir schauen Doctor Strange. Das Wochenende ist ein schönes gewesen.