Es ist ein Abend im Dezember in den späten 90er-Jahren, die Mobiltelefone sind noch groß und haben lange, schwarze Antennen, und wenn man wissen will, was das Internet ist, wählt man sich über ein ISDN-Modem ein, erst dann ist man drin. Weil meine Mutter findet, dass es mir gut täte, Sport zu treiben, befinde ich mich in der Turnhalle des Liechtensteiner Dorfes Nendeln, und versuche den Ball, wenn ich ihn einmal habe, so schnell wieder loszuwerden wie möglich. Am Seitenrand steht ein Mann und heißt Harry. Er trägt Brille und Schnurrbart und sagt »schneller« oder »fester«, aber »langsamer« oder »weicher« sagt er nie. Trotz der Beleuchtung in der Halle dringt das Dunkle von draußen herein. Es ist diese Art von Dunkelheit, die nur in Alpenregionen zu finden ist, sie ist kalt und schwarz und total und will alles in sich verwandeln. Weil ich weiß, was mir nach Verlassen der Halle bevorsteht, habe ich meine ältere Schwester gebeten, mich vom Training abzuholen. »Aber wieso denn?«, hat sie gefragt, »Du musst doch nicht einmal drei Minuten gehen.« »Es ist«, habe ich geantwortet, und meine Antwort durch mehrmaliges Schlucken unterbrochen, »es ist wegen der Krampusse.«
In der Schule erzählen wir uns seit dem ersten Tag im Dezember, dass es heute so weit wäre. Dass die Krampusse kämen. Während wir vom Nikolaus wissen, dass er ein Mensch ist, und ein Heiliger noch dazu, der ein Buch dabeihat, aus dem er vorliest, und Geschenke bringt, wissen wir von seinen Begleitern nur wenig. Ja gut, wir wissen, dass Krampusse braune Umhänge tragen, zu denen große Kapuzen gehören, unter denen man ihre Gesichter, falls sie Gesichter haben, nicht sieht. Und was wir auch wissen, ist, dass die Krampusse irgendwann angefangen haben, sich von ihrem Begleiter zu lösen, dass sie zu Gruppen zusammengerottet durch die Gemeinden ziehen und verprügeln, wer ihnen in die Hände gerät. Falls sie überhaupt Hände haben. Sie tragen Eisenketten und Ruten aus Holz, doch ihre eigentlichen Waffen sind ihre Kostüme, die verbergen, was die Krampusse eigentlich sind. Gespenster? Menschen? Lebende Tote vielleicht? Und warum wollen sie uns eigentlich verprügeln? Was haben wir ihnen jemals getan?
Was ein Neonazi ist, weiß ich mit sieben oder acht vermutlich noch nicht, und daher werde ich zu dieser Zeit vermutlich auch noch nicht gewusst haben, dass die Gemeinde Nendeln, in der ich die ersten 18 Jahre meines Lebens verbringen werde, als Hochburg von Neonazis im Fürstentum Liechtenstein gilt. Einer meiner Klassenkameraden, der sich mit mir in der Sporthalle befindet, wird einige Jahre später zu einer Haftstrafe verurteilt, weil er einen Molotowcocktail in ein Haus wirft, in dem die erste Dönerbude des Dorfes eröffnet werden soll. Und weil ich weder weiß, was ein Neonazi, noch, was eine Hochburg ist, werde ich mit dem Gerücht, dass sich unter den Krampuskostümen Neonazis befänden, die aus Nendeln und dem österreichischen Vorarlberg kämen, vermutlich nichts anfangen können. Angst habe ich trotzdem.
Um Gottes Willen. Harry pfeift. Doch dieses Mal bringt sein Pfiff nicht die Erlösung, die eine beendete Trainingseinheit an gewöhnlichen Tagen brächte, denn was jetzt kommt, ist schlimmer, als alle Linienläufe und Liegestütze und Laufeinheiten mit oder ohne Ball es jemals sein könnten. Wir, die F-Junioren des Unterländer Sportvereins, die Nachwuchshoffnung des Liechtensteiner Fußballs, stehen nach Verlassen der Umkleidekabine im Foyer nebeneinander und fürchten uns. Vielleicht fürchten wir uns so sehr, dass wir uns an den Händen halten, aber das weiß ich nicht mehr. Meine Erinnerung wird an diesem Punkt schwammig. Schemenhaft sehe ich vor mir, wie sie auf dem Vorplatz auftauchen. Erst ein Krampus, dann ein zweiter, dann ein dritter, der mit seiner Kette rasselt, es folgt ein vierter, ein fünfter, ein sechster, und bald ist die ganze Turnhalle von diesen Kapuzen tragenden Nichtwesen umstellt, hinter denen sich vielleicht keine Nichtwesen, sondern Neonazis verstecken. Wo ist meine Schwester? War es unverantwortlich, sie hierher zu bestellen? Was, wenn sie –
Weil mich an dieser Stelle meine Erinnerung vollends verlässt, schreibe ich der Liechtensteiner Landespolizei eine E-Mail. Es ist jetzt 2017, die Antennen an den Handys sind mittlerweile verschwunden und ins Internet einwählen muss man sich auch nicht mehr, man ist jetzt die ganze Zeit drin. Unter der Betreffzeile »Nazi-Krampusse in Liechtenstein« schildere ich den Turnhallenvorfall, frage nach, was an den Gerüchten dran sei, ob ich mich richtig erinnere oder falsch, und wenn ich mich falsch erinnere, welcher Vorfall es dann gewesen sein könnte, der mich zur falschen Erinnerung inspirierte. Man teilt mir mit, dass der Landespolizei diesbezüglich nur ein einziges Ereignis bekannt sei: Im Dezember 2003 sei ein Jugendlicher in Mauren so schlimm von Krampussen verprügelt worden, dass er ins Krankenhaus habe eingeliefert werden müssen. Der Frage nach den Neonazis wird keine weitere Beachtung geschenkt.
Für mich ist die Gefahr aber real. Ich sehe die Krampusse vor der Turnhalle vor mir, wie ich ein paar Jahre später nach dem EM-Spiel Deutschland gegen Polen ein Auto durch Vaduz fahren sehe, durch dessen offenes Fenster ein junger Mann eine Reichkriegsflagge schwenkt. Polizisten werden das Auto anhalten und sagen, dass es gefährlich sei, sich so weit aus dem Fenster zu lehnen. Metaphorisch gemeint ist das nicht. Das Gefühl der Bedrohung, das ich in der Turnhalle stehend verspüre, wird in den kommenden Jahren bleiben, nur wird sein Auslöser nicht mehr aus den Kapuzenträgern bestehen, sondern aus denen, von denen wir uns erzählen, dass sie darunter stecken. Die rasselnden Ketten der Krampusse werden zum Speichel der Nazis, der mir bei einem Volksfest über die Brillengläser hinabläuft. Ihre Schatten werfenden Kapuzen werden zu den getönten Scheiben des VW Golfs, der auf dem Parkplatz nahe meiner Bushaltestelle auf mich wartet. Da sind »88«- und »Blood and Honour«-Sticker auf Mopeds und Autos, »Herberts Militär-Stüble« ist da, in dem es Gasmasken und Uniformen aus dem Zweiten Weltkrieg zu kaufen gibt, da sind Ohrfeigen am Staatsfeiertag, auf den Köpfen sogenannter Ausländer zerbrochene Flaschen, und Drohbriefe mit spiegelverkehrten Hakenkreuzen, die ich eines Morgens in meinem Briefkasten finde, sind da auch. Einige meiner Schul- und Fußballkollegen mögen mich irgendwann nicht mehr besonders, sie werden zu dem, wovor wir uns einmal gemeinsam gefürchtet haben, zu Krampussen, zu Nazis, zu Nazikrampussen, und ich werde zu irgendwas anderem, von dem ich selbst nicht genau weiß, was es ist.
In diesen Tagen, in denen es die Internettelefonie noch nicht gibt, geschieht dann etwas Seltsames. Als Harry sich zu uns, seinen Junioren, ins Foyer der Turnhalle gesellt, verschwinden die Krampusse so schlagartig, wie sie aufgetaucht sind. Als hätte es sie nie gegeben. Meine Schwester kommt etwas zu spät und Harry macht ihr ein Kompliment für ihr Aussehen. Sie nimmt mich bei der Hand und wir gehen nach Hause. Vielleicht, denke ich an ihrer Hand durch die Dunkelheit gehend, ist es tatsächlich so, dass man Kind oder Jugendlicher sein muss, um die Krampusse sehen zu können. Vielleicht ist es so, dass die Krampusse die Erwachsenen meiden, weil es für die Krampusse das Schlimmste wäre, von den Erwachsenen gesehen zu werden. Weil die Erwachsenen die sind, die das Sagen haben, und solange die, die das Sagen haben, sagen, Nein, das hast du dir eingebildet, Krampusse gibt es hier nicht, haben die, von denen man sagt, dass sie nicht existieren, obwohl sie existieren, einen Raum, der viel größer ist, als es die Turnhalle oder Nendeln oder Harrys Bart jemals sein könnten. Und das soll so niemals nie sein. Kein Fußbreit denen.