I
Eine Pflanzenplage, die sich ausbreitet von Baum zu Baum. Unaufhaltsam, unsichtbar, eine verborgene Fäulnis, den Augen der Welt entzogen. Ist sie emporgewachsen aus den dunklen Tiefen der Erde? Oder haben unscheinbare Lebewesen sie an die Oberfläche gebracht? Ein Pilz vielleicht? Nein, sie bewegt sich schneller als die Sporen, vermehrt sich in den Wurzeln der Bäume, nistet in ihren hölzernen Herzen. Sie ist ein uralter Kriechteufel. Tötet ihn. Tötet ihn mit Feuer. Brennt ihn nieder und seht, wie er lodert, steckt all die verseuchten Buchen in Brand, die Fichten und gewaltigen Eichen, die die Zeiten überdauert haben, ihre Stämme, verwundet von den tausendfachen Bissen der Insekten. Alle sterben sie jetzt, sind krank und sterben, stehen aufrecht und sterben. Lasst es brennen und seht, wie die Flammen in den Himmel lecken, sonst wird dieses Übel die Welt verzehren, wird sich nähren vom Tod, wird das ergraute Grün verschlingen. Und jetzt schweigt. Hört zu. Hört, wie es wächst.
II
Kennengelernt habe ich ihn in den Bergen, in einem Dorf, wo außer in den Sommermonaten kaum jemand wohnt. Ich drehte gerade eine Runde mit meinem Hund, es war schon Nacht, und ich sah ihn in seinem Garten die Erde umgraben. Die kleine Hündin kroch unter den Sträuchern hindurch, die sich um das Grundstück ziehen, und lief auf ihn zu, ein weißer Blitz im Mondlicht. Der Mann ging in die Hocke, strich ihr über den Kopf, und als sie sich auf den Rücken legte, kniete er sich mit einem Bein auf den Boden und kraulte ihr den Bauch. Ich bat um Entschuldigung, aber er sagte, das mache doch nichts, er liebe Tiere. Ich fragte ihn, ob er gern nachts im Garten arbeite. »Ja«, sagte er, »das ist die beste Zeit. Die Pflanzen schlafen und spüren es nicht so sehr, sie leiden weniger, wenn man sie umsetzt, wie ein Patient im Ätherschlaf. Wir sollten den Pflanzen gegenüber achtsamer sein.« Als Kind, erzählte er, habe er immer Angst vor der großen Eiche im Garten gehabt. Seine Großmutter habe sich an einem der Äste erhängt. Damals sei das ein gesunder Baum gewesen, stark und robust, doch jetzt, etwa sechzig Jahre später, sei sein mächtiger Stamm voller Parasiten und faule von innen her, und da er über das Dach des Hauses rage und man nicht ausschließen könne, dass er bei einem der Winterstürme umstürze und es unter sich begrabe, werde er ihn bald fällen müssen. Nur finde er nicht den nötigen Mut, die Axt an diesen Riesen zu setzen, denn er sei eines der wenigen verbliebenen Exemplare eines ehemals großen und urwüchsigen, düsteren, wunderschönen Waldes, den die Gründer des Dorfes für den Bau ihrer Häuser gerodet hätten. Er deutete auf den Baum, aber in der Dunkelheit sah ich nur seinen massigen Umriss. »Er ist halb tot und verfault«, sagte er, »aber er wächst weiter.« Er erzählte mir, dass sein Inneres von Fledermäusen bewohnt sei, und die Kolibris ernährten sich von den scharlachroten Blüten einer auf den höchsten Ästen wachsenden Zwitterpflanze, dem Tristerix corymbosus, im Volksmund bekannt als quintral, cutre oder ñipe. Jedes Jahr habe seine Großmutter diesen Parasiten beschnitten, weil sie sehen wollte, wie er danach umso kräftiger ausschlug und blühte, vollgesogen mit dem Saft aus dem Stamm, um den Nektar zu produzieren, an dem sich Scharen von Vögeln und Insekten berauschten. »Bis heute weiß ich nicht, warum sie sich umgebracht hat. Nie hat mir jemand gesagt, dass sie sich das Leben genommen hat, es war ein Familiengeheimnis, ich war noch ein kleiner Junge, höchstens fünf oder sechs Jahre alt, aber später, Jahrzehnte später, als meine Tochter geboren wurde, erzählte es mir meine alte nana, das Kindermädchen, das sich um mich kümmerte, wenn meine Mutter zur Arbeit ging: ›Deine Großmutter hat sich mitten in der Nacht an diesem Ast erhängt. Es war furchtbar, schrecklich, und erst hieß es, wir sollten sie nicht herunterholen und auf die Polizei warten, ja, genau so haben sie es gesagt – nicht herunterholen, lasst sie dort! –, aber dein Vater wollte sie nicht einfach hängen lassen, er ist auf den Baum geklettert, immer höher und höher – alle fragten sich, wie sie es so weit nach oben geschafft hatte –, und dann hat er ihr die Schlinge vom Hals genommen. Sie ist durchs Astwerk gefallen und mit einem dumpfen Knall aufgeschlagen. Dein Vater ist gleich mit der Axt auf den Stamm losgegangen, aber dein Großvater hat ihn zurückgehalten. Die Großmutter hatte diesen Baum immer geliebt, sagte er, sie hatte ihn wachsen sehen, hatte ihn gepflegt und gedüngt, hatte ihn gewässert und gestutzt, hatte sich noch die kleinste Kleinigkeit zu Herzen genommen. Er ist also hier stehen geblieben und steht immer noch hier, auch wenn er früher oder später gefällt werden muss. Eher früher.‹«
III
Am nächsten Morgen ging ich mit meiner siebenjährigen Tochter im Wald spazieren, und wir fanden zwei tote Hunde. Sie waren vergiftet worden. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich kannte die blutigen Kadaver von jungen Hunden neben der Autobahn, unter die Räder gekommen im gnadenlosen Verkehr, hatte eine aufgeschlitzte Katze gesehen, über die eine Hundemeute hergefallen war, hatte sogar eigenhändig einem Lamm das Messer in die Kehle gestoßen und zugesehen, wie es ausblutete, bevor die Gauchos es bei einem gemeinsamen Asado grillten, aber alle diese Tode, wie grausig auch immer, verblassten im Angesicht der Auswirkungen des Gifts. Der erste Hund war ein Schäferhund, er lag mitten auf dem Waldweg. Das Maul aufgerissen, das Zahnfleisch schwarz und gedunsen, die Zunge heraushängend, um ein Vielfaches angeschwollen, die Blutgefäße zum Bersten gefüllt. Ich trat vorsichtig näher und sagte meiner Tochter, sie solle stehen bleiben, nicht hinschauen, aber sie hörte nicht auf mich und hängte sich an mich, steckte den Kopf in die Falten meiner Jacke und äugte hindurch. Die Beine des Hundes waren steif und zum Himmel gereckt, der Unterleib aufgebläht von den Gasen, die Haut gespannt, als wäre es der Bauch einer schwangeren Frau. Der ganze Körper schien kurz vorm Platzen zu sein, ich sah schon die Eingeweide durch die Gegend spritzen. Was mich jedoch am meisten erschreckte, waren die verzerrten Gesichtszüge, ein Ausdruck von unfassbarem Schmerz lag auf ihnen. Der Todeskampf musste so fürchterlich gewesen sein, dass der Hund selbst jetzt noch zu jaulen schien. Der zweite Hund lag etwa zwanzig Meter weiter, halb im Dickicht neben dem Pfad. Es war eine Promenadenmischung, Beagle und Schweißhund, mit schwarzem Kopf und weißem Körper, und obwohl er bestimmt an derselben Substanz verendet war, die auch den Schäferhund umgebracht hatte, zeigte er keine der Entstellungen, die auf das Gift deuteten. Wären nicht die vielen Fliegen gewesen, die über seine Augenlider krabbelten, hätte man denken können, er sei nur eingeschlafen. Den ersten Hund kannten wir nicht, aber dieser hier war ein Freund von uns, meine Tochter hatte schon als Vierjährige mit ihm gespielt. Wenn wir spazieren gingen, lief er neben uns her, und manchmal scharrte er an der Haustür und bettelte um Essensreste. Sie hatte ihn Flecki genannt. Als sie ihn erkannte, weinte sie nicht, aber kaum führte der Waldweg uns auf eine Lichtung, brach sie zusammen. Ich hielt sie in meinen Armen, so fest ich konnte. Sie sagte, sie habe Angst – die hatte ich auch – um ihren eigenen Hund, das süßeste und zutraulichste Tier, das mir je begegnet ist. Warum, fragte sie, warum hatte man die Hunde vergiftet? Ich sagte, das wisse ich nicht, aber wahrscheinlich sei es ein Unfall gewesen, Rattengift, Schneckengift, es gebe viele tödliche chemische Substanzen, die man im Garten benutze, und im Dorf gebe es viele schöne Gärten. Wahrscheinlich hatten die Hunde, erklärte ich ihr, etwas von dem Gift gefressen, ohne es zu merken, oder sie hatten eine Ratte gejagt, die an einem dieser kleinen, mit Gift präparierten Wachswürfel genagt hatte, die die Hausbesitzer an ihren Grundstücksgrenzen auslegten, und die Ratte war davon schon ein bisschen dusslig geworden. Nur verschwieg ich ihr, dass das jedes Jahr passiert. Ein oder zweimal im Jahr tote Hunde. Manchmal nur einer, manchmal sehr viel mehr, aber zuverlässig bringen die ersten Sommertage und das Ende des Herbstes tote Hunde. Die Menschen, die das ganze Jahr über hier leben, wissen, dass einer von ihnen sie vergiftet, einer aus ihrer Mitte, aber niemand weiß, wer. Er oder sie legt Zyanid aus, und innerhalb weniger Wochen finden wir die Tierleichen irgendwo in der Nähe des Dorfes. Fast immer sind es streunende Hunde, ausgesetzte Tiere, da viele Menschen aus der Gegend eigens in die Berge fahren, um ihre nicht länger erwünschten Lieblinge loszuwerden, doch auch Haustiere von uns sind unter den Opfern. Es gibt ein paar Verdächtige, weil sie in der Vergangenheit schon mal damit gedroht haben. So hat etwa ein Mann, der in derselben Straße wohnt wie wir, einmal zu einem Freund von mir gesagt, ich solle meinen Hund an der Leine führen. Ob ich denn nicht wüsste, dass jemand jeden Sommer Hunde vergiftet? Der Mann wohnt drei Häuser weiter, aber ich habe noch nie mit ihm gesprochen, ich habe ihn nur ein paarmal gesehen, da stand er bei seinem Auto und rauchte. Ein Kopfnicken von ihm, ein Kopfnicken von mir, das war’s, wir reden nicht miteinander.
IV
Schon deprimierend, wie langsam in meinem Garten alles wächst. Die Winter in den Bergen sind hart, der Frühling und der Sommer sind kurz und trocken, und die Erde im Garten hat kaum den Namen verdient, da sie nur spärlich einen Müllhaufen bedeckt. Der Vorbesitzer, der die Hütte gebaut und an mich verkauft hat, hat das Gelände nivelliert und mit Schutt aufgefüllt, weshalb ich jedes Mal, wenn ich Blumen oder einen Baum pflanzen will und in der Erde grabe, auf Betonbrocken stoße, dazwischen Kabel, Flaschendeckel, Plastikreste. Ich könnte alle möglichen Düngemittel einsetzen, aber ich mag meine Bäume so, wie sie sind, auch wenn sie nicht sehr groß werden. Die Wurzeln finden nirgendwo einen Weg, denn unter der dünnen Schicht Erde, die ich noch aufgetragen habe, ist der Boden hart, ein fester Lehm, die meisten Bäume werden also kümmerlich bleiben, seltsame Bonsai-Schönheiten, aber eben mickrig. Wie der Nachtgärtner mir erzählte, war der Wissenschaftler, der die modernen stickstoffhaltigen Düngemittel erfunden hat – ein deutscher Chemiker namens Fritz Haber – auch der erste Mensch, der eine Massenvernichtungswaffe erfand, das Chlorgas, das er im Ersten Weltkrieg in die Schützengräben strömen ließ. Sein gelblich-grünes Gift tötete Tausende von Soldaten, unzählige kratzten sich die Kehle auf, als das Gas in ihren Lungen blubberte, sie erstickten an ihrem eigenen Rotz und Erbrochenem; dagegen rettete sein Düngemittel, gewonnen aus dem in der Luft der Atmosphäre enthaltenen Stickstoff, Hunderte Millionen Menschen vor dem Hungertod und trug entscheidend zur Überbevölkerung des Planeten bei. Heute herrscht an Stickstoff kein Mangel, aber in früheren Jahrhunderten wurden Kriege geführt, um an die Exkremente von Fledermäusen und Vögeln zu gelangen, und Diebe plünderten die Gräber ägyptischer Pharaonen, nicht auf der Suche nach Gold oder Schmuck, sondern nach dem Stickstoff in den Knochen der Mumien und all der Sklaven, die man zusammen mit ihnen begrub. Dem Nachtgärtner zufolge zerstampften die Mapuche die Skelette ihrer besiegten Feinde und verstreuten dieses Mehl auf ihren Anbauflächen als Dünger, immer mitten in der Nacht, wenn die Bäume fest schlafen, da sie glaubten, einige von ihnen – der Magnolienbaum und die Araukarie – könnten einem Krieger in die Seele blicken, ihm seine tiefsten Geheimnisse stehlen und über die Wurzeln des Waldes verbreiten, worauf die flauschigen Fäden der Pilze sie aufnähmen und den Erdsprossen der Pflanzen zuflüsterten. Das Ansehen des Kriegers vor der Gemeinschaft war damit ruiniert. Seines geheimen Lebens beraubt, vor den Augen der Welt ausgestellt und entblößt, welkte der Mann langsam dahin, vertrocknete von innen her, und dabei wusste er nicht einmal, warum.
V
Die Anlage des Dorfes ist sehr merkwürdig. Egal welchen Weg man nimmt, immer landet man bei einem kleinen Waldstück, das sich nahe dem unteren Ende versteckt. Es ist einer der wenigen Bereiche, die den gewaltigen Brand überlebt haben, der Ende der Neunzigerjahre einen großen Teil der Gegend zerstört hat, selbst die Existenz des Dorfes war bedroht. Das Feuer tobte, bis es keine Nahrung mehr fand und ausbrannte. Zweihundert Jahre hatte der Wald gestanden, und in weniger als zwei Wochen war er verschwunden. Er wurde wieder aufgeforstet, hauptsächlich mit Kiefern, die ursprünglichen heimischen Arten aber waren verloren, abgesehen von dieser Miniaturoase, deren wilder Charakter einen Kontrast bildet zu all den Ziergärten mit ihren beschnittenen Hecken. Auf mich übt dieses Wäldchen eine seltsame magnetische Kraft aus, es zieht mich an und führt mich immer weiter hinunter zu dem alten Weg, über den man zum See gelangt. Ganze Tage bin ich dort zwischen den Bäumen spaziert, immer allein, da die Einheimischen das Waldstück offensichtlich meiden, der Grund ist mir unbekannt, und die meisten Auswärtigen, wohlhabende Familien, die in den Sommermonaten ein Landhaus mieten, besuchen es nur selten oder sehen es bloß im Vorübergehen. Mittendrin gibt es eine kleine, in Kalkstein gehauene Grotte. Der Nachtgärtner sagte mir, vor Jahren habe es im Dorf eine Baumschule gegeben, und die Besitzer hätten dort Samen gelagert, abseits des Eingangs in ewiger Dunkelheit. Heute ist sie leer, nur ab und zu kommen Jugendliche vorbei, wovon die Kondomverpackungen auf dem Boden zeugen, oder Touristen, deren benutztes Klopapier ich dann aufheben und vergraben darf. Der See liegt ein Stück weiter, und dort versammeln sich die Familien. Er ist recht klein und künstlich, mehr ein Teich als ein richtiger See, aber er wirkt so natürlich, dass ein Dutzend Enten am Wasser brüten. Ein Falke mit rotem Schwanz patrouilliert über der südlichen Seite, ein weißer Kranich herrscht über die nördliche Hälfte, wo es sumpfiger ist. Im Frühjahr murmeln und gluckern die Bäche, die das Becken speisen, aber dann trocknen sie aus, werden überwuchert und verschwinden, als hätte es sie nie gegeben. Der See ist seit Jahrzehnten nicht mehr zugefroren. Wie man mir erzählte, ist beim letzten Mal ein kleiner Junge im Eis eingebrochen und ertrunken, damals war Pinochet gerade an die Macht gekommen, nur konnte mir niemand den Namen des Jungen sagen. Wahrscheinlich ist die Geschichte erfunden, um die Kinder abends vom See fernzuhalten, und sie lebt fort, auch wenn das Klima wärmer geworden ist und sich kein Eis mehr bildet.
Gegründet wurde das Dorf von europäischen Einwanderern. Es hat eindeutig ein fremdländisches Flair, wie man es aus anderen Landesteilen nicht kennt, auch wenn man in einigen Kleinstädten im Süden genauso auf blonde und blauäugige Mädchen trifft, die sich inmitten unserer ausgesprochen homogenen Bevölkerung tummeln, dieser Mischung aus Mapuche und Spaniern. Die Siedler haben den Ort wie ein Refugium errichtet, hoch oben in den Bergen. Was mich an Chile schon immer verwundert hat, ist die Tatsache, dass wir mit den Bergen nichts anfangen können, wir bewohnen sie nicht. Die Anden sind wie ein Schwert, das uns von oben bis unten im Rücken steckt, aber wir ignorieren diese fantastischen Gipfel und lassen uns an der Küste nieder, als würde das ganze Land unter einem heillosen Schwindel leiden, einer Höhenangst, die uns daran hindert, das Imposanteste unserer einzigartigen Landschaft zu genießen. Weniger als eine Stunde von hier, nahe der Autobahnabfahrt, wo es auf einer unbefestigten Straße in die Berge hinaufgeht, steht eine große Kaserne; der Mann, der unser Haus gebaut hat, war ein pensionierter Offizier. Ich habe ein wenig recherchiert, rein aus Neugier, und herausgefunden, dass man ihn beschuldigte, während der Diktatur mitverantwortlich gewesen zu sein für das Verschwinden mehrerer politischer Häftlinge. Ich bin ihm nur zweimal begegnet, einmal, als er mir das Grundstück gezeigt hat, und dann beim Unterschreiben der Dokumente. Damals wusste ich nichts davon, vermutete allerdings etwas wegen des geringen Kaufpreises, den er verlangte, aber er war auch schon todkrank. Kaum ein Jahr später ist er gestorben. Der Nachtgärtner sagte mir, er sei ein Widerling gewesen, niemand im Ort habe ihn ausstehen können, da er immer mit seinem alten Dienstrevolver im Gürtel herumgelaufen sei und sich geweigert habe, die Handwerker zu bezahlen, die an seinem Haus Reparaturarbeiten ausführten. Bei unserem Einzug fand ich auf einem der Tische im Wohnzimmer eine alte Handgranate, ohne Zünder. Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, was ich damit gemacht habe.
VI
Der Nachtgärtner war früher Mathematiker, jetzt spricht er von der Mathematik wie ein trockener Alkoholiker vom Schnaps, mit einer Mischung aus Sehnsucht und Angst. Er hatte, wie er mir sagte, am Anfang einer brillanten Karriere gestanden, die Mathematik aber aufgegeben, als er auf die Arbeiten Alexander Grothendiecks stieß, eines wahren Genies, der in den Sechzigerjahren die Geometrie revolutionierte wie niemand sonst seit den Zeiten Euklids und der auf dem Höhepunkt seines internationalen Ruhms der Mathematik abschwor. Niemand konnte es sich erklären. Er hinterließ ein wahrlich verstörendes Vermächtnis, das bis heute in Schockwellen sämtliche Teilgebiete seiner Disziplin erfasst und das zu diskutieren oder auch nur zu erwähnen er sich bis zu seinem Tod im Jahr 2014 weigerte. Genau wie der Nachtgärtner verließ Grothendieck mit vierzig Jahren sein Haus, seine Familie, seine Freunde, verkroch sich irgendwo in den Pyrenäen und lebte wie ein Mönch. Es war, als hätte Einstein nach Veröffentlichung seiner Relativitätstheorie die Physik aufgegeben oder Maradona nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft beschlossen, nie wieder einen Ball zu treten. Natürlich war die Bewunderung für Grothendieck nicht der einzige Grund, weshalb der Nachtgärtner aus seinem alten Leben ausstieg. Er hatte eine ruinöse Scheidung hinter sich, hatte sich mit seiner einzigen Tochter zerstritten, und noch dazu hatte man Hautkrebs bei ihm diagnostiziert. Doch bei allem Schmerz, betonte er, sei das zweitrangig gewesen neben der plötzlichen Feststellung, dass die Mathematik – nicht die Atomwaffen, die Computer, der biologische Krieg oder die Klimakatastrophe –, unsere Welt so sehr verändere, dass wir in spätestens ein paar Jahrzehnten schlicht nicht mehr in der Lage seien zu begreifen, was es heiße, Mensch zu sein. Richtig begriffen hätten wir das nie, sagte er, aber es werde immer schlimmer. Wir könnten Atome zerlegen, einen Blick auf das erste Licht werfen und das Ende des Universums voraussagen, und das mit nur einer Handvoll Gleichungen, ein paar verschnörkelten Linien und obskuren Symbolen, die kein normaler Mensch verstehe, auch wenn sie unser aller Leben bis ins Kleinste beherrschten. Aber das betreffe nicht nur die Normalsterblichen, selbst die Wissenschaftler hätten aufgehört, die Welt zu verstehen. Man nehme nur die Quantenmechanik, sagte er, das Kronjuwel unserer Spezies, das Exakteste, Schönste und Universellste in der theoretischen Physik. Sie stecke hinter dem Internet, hinter der Überlegenheit unserer Mobiltelefone und hinter dem Versprechen einer künftigen Rechenleistung, die die Computer mit einer gottgleichen Intelligenz versehe. Sie habe unsere Welt vollkommen transformiert. Wir wüssten sie anzuwenden, sie funktioniere auf seltsam wunderbare Weise, und doch gebe es nicht eine einzige Menschenseele, ob lebendig oder tot, die sie wirklich begreife. Der Verstand komme nicht an gegen ihre Paradoxien und Widersprüche. Als wäre die Theorie von einem fernen Planeten auf die Erde gefallen, und wir dürften nun um sie herumturnen wie die Affen, mit ihr spielen und sie mit Stöcken und Steinen bewerfen, ohne jedes echte Verständnis.
Deshalb arbeitet er jetzt im Garten, kümmert sich um seine eigenen Sachen und macht sich auf anderen Grundstücken im Ort nützlich. Soweit ich weiß, hat er keine Freunde, und seine Nachbarn halten ihn für einen komischen Kauz, aber mir gefällt der Gedanke, dass wir Freunde sind, denn manchmal stellt er mir einen Eimer Kompost vors Haus, als Geschenk für meine Pflanzen. Mein ältester Baum ist eine Zitrone, eine wuchtige Masse ausladender und schwer herabhängender Äste. Neulich fragte mich der Nachtgärtner, ob ich wisse, wie Zitrusbäume sterben: Wenn sie nicht vorzeitig gefällt werden und ein hohes Alter erreichen, wenn sie es schaffen, Dürren und Krankheiten zu überstehen, all die Angriffe von Schädlingen und Pilzen und sonstigen Plagen, dann gehen sie an Überfülle zugrunde. Sobald ihr Lebenszyklus an sein Ende kommt, tragen sie eine ungeheure Menge von Früchten. In ihrem letzten Jahr knospen und blühen sie in gewaltigen Trauben und erfüllen die Luft mit einer solchen Süße, dass es einem noch zwei Straßen weiter in der Kehle und in der Nase juckt; die Früchte reifen alle auf einen Schlag, ganze Äste brechen unter ihrem Gewicht, und ein paar Wochen später ist der Boden bedeckt mit verfaulten Zitronen. Was für ein Anblick, sagte er, eine solche Üppigkeit vor dem Tod. Vorstellbar sei das im Reich der Tiere, man denke nur an die Millionen von Lachsen, die nach dem Laichen und Besamen tot umkippten, oder die Abermillionen Heringe, die über Hunderte von Kilometern die Wasser an den Küsten des Pazifiks mit ihrem Sperma und ihren Eiern weiß färbten. Die Bäume aber seien andere Organismen, und eine solche Demonstration monströser Fruchtbarkeit sei eher untypisch für eine Pflanze und ähnele mehr unserer eigenen Art mit ihrem unkontrollierten, zerstörerischen Wachstum. Ich fragte ihn, wie viel Lebenszeit meinem Zitronenbaum noch bleibe. Er sagte mir, das könne man unmöglich wissen, zumindest nicht, ohne ihn zu fällen und sich seinen Stamm von innen anzusehen. Aber wer würde das schon wollen?
Deutsch von Thomas Brovot