Drei Tage streiften wir Ende Oktober 2017 durch das nach den Terroranschlägen spürbar veränderte Paris – überall Kontrollen, schwer bewaffnete Polizisten und Soldaten –, besuchten Kirchen, Museen, Plätze, Straßen, Cafés, Friedhöfe. Auf dem Friedhof Père-Lachaise entdeckten wir das Grab von Swami Vijayananda, der fünf Jahrzehnte bei Anandamayi Ma in Indien gelebt hatte. Nach dem Besuch des Grabes von Andrei Tarkowski auf dem russischen Friedhof in Saint-Geneviève-de-Bois fuhren wir am Ende unseres Kurzurlaubs weiter nach Chaville. Wir parkten am Ortseingang, folgten der Rue de Jouy bis zu der kleinen Allee, die zum Haus Peter Handkes führt, und standen schließlich vor dem hohen Tor. Durch den Zaun waren die mit Äpfeln, Kastanien, Stiften und anderen Dingen mehr belegten Tische zu sehen. Der Blick zurück zur Straße wirkte wie ein Tunnel, der ins Licht führt. Nach einer Weile stillen Verweilens gingen wir wieder auf die Rue de Jouy, erkundeten die nähere Umgebung und kehrten nach einem kurzen Gang durch den nahen Wald der »Niemandsbucht« noch einmal zum Haus zurück. »Er kommt jetzt gleich«, war sich meine Frau sicher, die vor einigen Monaten geträumt hatte, Handke sei bei uns gewesen, habe ihr die Hand gegeben und sich vorgestellt. »Und was machst du dann?« Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Ein Auto kam uns langsam entgegen, fuhr vorbei, setzte wieder zurück, schrammte dabei am Stamm eines Strauches entlang und hielt dann. Der Fahrer stieg aus, fragte, was wir hier suchten – »Nous contemplons la maison du poète Peter Handke« –, begutachtete den Schaden an seinem Wagen, stieg wieder ein und fuhr weiter.
Da, plötzlich, kam von der Straße her Peter Handke die Allee entlang. Einen Stock in der Hand, Blumen und eine kleine Plastiktüte. Mit Sakko, besticktem Hemd und den bekannten Stiefeln. »Er ist es!«, rief ich überrascht. »Sind Sie sicher, dass ich es bin?«, fragte er. »Das bin ich, das bin ich!«, antwortete ich, deutete unbeholfen auf Der Himmel ist auch die andere Erde, mein Buch, das ich auch auf dieser Reise als Kompass immer bei mir trug und von dem ich Handke vor längerer Zeit ein Exemplar hatte zukommen lassen, und stellte mich, meine Frau und unsere Tochter vor. »Sie sind Lehrer?«, erinnerte er sich, während er jedem die Hand gab. Ich nickte. »Dass Sie jetzt hier sind … Sie könnten auch überall sonst in der Welt unterwegs sein«, dachte ich laut. »Hier ist auch Welt«, antwortete Handke.
Nach kurzem Schweigen meinte er, dass er nun »tun« müsse. Ich sagte sofort, dass wir ihn nicht aufhalten wollen. Er übersetze nur, fügte er hinzu, wir könnten kurz reinkommen. »Was heißt hier ›nur‹«, antwortete ich und wehrte das Angebot mit beiden Händen ab. Gerade erst war Rückkehr stromauf, Handkes Übersetzung der Gedichte René Chars, in neuer Ausgabe erschienen. »Bitte, kommen Sie rein, kommen Sie doch!« Er schloss das hohe Tor auf und wir standen im Garten vor dem Haus.
Ich fragte ihn, ob ihn meine kurze Rezension zu Vor der Baumschattenwand nachts über seine Frau erreicht habe. Er verneinte. Auch die Anfrage, die ihm über seinen österreichischen Verlag Jung und Jung für das von José Sánchez de Murillo herausgegebene AUFGANG. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik zuging, hat ihn nie erreicht. Die Post komme nicht ins Haus. Aber es gehe noch immer nicht genug verloren.
Umständlich suchte ich die Mail seines österreichischen Verlegers Jochen Jung vom Sommer, der meine Rezension begeistert dem Dichter über dessen Frau Sophie Semin weitergeleitet hatte, während Handke uns anbot einen Apfel zu nehmen. »Die schmecken nicht, aber nehmen Sie sich ruhig einen.« Meine Frau wählte von einem der Tische einen Apfel aus. Endlich fand ich die Mail und las sie ihm vor.
Danach sprachen wir kurz über seine Petrarca-Preis-Laudatio auf Jan Skácel und dessen »märchenhaften« Übersetzer, Reiner Kunze. (»Der ist jetzt auch schon alt. Wohnt er immer noch in der Nähe von Passau?«) Über seine Lektüren, über Nietzsche, Goethe, Jakob Böhme. (»Ja, das stimmt, ich lese Böhme.«) Über seine Angewohnheit, Bücher erst lange im Freien liegen zu lassen, bevor er sie liest. (»Ja, das mache ich so.«) Über die Journale und Reisetagebücher, die ich besonders schätze. Über Die Wiederholung und Phantasien der Wiederholung. Über das bevorstehende Erscheinen seines Letzten Epos Die Obstdiebin. Und über den vor Kurzem erschienenen Film Bin im Wald. Kann sein, daß ich mich verspäte.
Ich schaute mich noch einmal auf dem durch den Bildband Porträt des Dichters in seiner Abwesenheit und den Film bekannten Grundstück um und bekannte – ein Handke-Leser seit der Kindergeschichte – nicht nur im Hinblick auf Haus und Garten: »Ich liebe diesen Handke-Kosmos!« Und nach einer kurzen Pause: »Der Film ist übrigens sehr gut.« »Ich habe ihn nicht gesehen«, antwortete Handke knapp.
Ich durfte fotografieren, auch ihn. Dann wollten wir ihn wirklich nicht länger aufhalten. Ob ich einen Stock aus dem aufgetürmten Haufen vor dem Tor mitnehmen dürfe, fragte ich noch, als wir uns verabschiedeten. Nein, von dort nicht, der habe eine Symbolik. Von jedem Spaziergang bringe er einen Stock mit, den er dem Haufen hinzufüge. Aber er hole mir einen anderen, mit dem er schon oft, auch in Paris, unterwegs gewesen sei. Er kam mit einem dünnen, rindenlosen Stock wieder, der wie ein Blindenstock aussieht. Seine Frau habe ihn mit dem Stock kommen gesehen und gefragt, ob da ein Blinder käme. Dankbar nahm ich den Stock entgegen, das Welterkennungsinstrument des Dichters für einen Blinden.
Kurz bevor wir durch das Tor traten, fiel mir der Bleistift in meiner Hemdtasche wieder ein. Ich wandte mich noch einmal um und fragte Handke, ob er nicht vielleicht doch noch etwas für mich tun würde, von dem ich wisse, dass er es überhaupt nicht gern mache. Da ich sonst nichts dabei hatte, hielt ich ihm die letzten weißen Seiten meines Buches hin. »Sonst schreibe ich schöner«, bemerkte er mit dem eigenen Kugelschreiber schreibend. »Peter Handke / am 31. Oktober 2017 / Gute Heimfahrt«, stand da. Er schaute mich noch einmal offenherzig an, reichte jedem von uns die Hand und – bedankte sich. Auch wir bedankten uns und gingen langsam die Allee entlang zur Straße. Kein Blick zurück über die Schulter.
An diesem Morgen, auf dem Weg nach Saint-Geneviève-de-Bois und später nach Chaville, hatten wir mehrere Umwege fahren müssen: weil ein LKW beladen wurde und die Straße versperrte, kein Parkplatz zum Einkaufen zu finden war und wir einen weiter entfernten Markt anfahren mussten. »Wer weiß, wozu das gut ist«, hatte ich wie so oft zu meiner Frau gesagt. Doch so präzise funktioniert das Welt-Spiel. Das Zeitfenster für diese unwahrscheinliche Begegnung in der Niemandsbucht war schließlich nicht sehr groß.
Wir kamen am Abend, diesmal über Luxemburg und Belgien, gut zu Hause an.
Die Begegnung mit Handke wirkt nach, eindringlich, weckend, aufmunternd, aufrufend, mahnend – unabsehbar. Und die Gewissheit bleibt, einem Großen der Weltliteratur begegnet zu sein.