Nach welchem System ordnen Sie Ihre Bücher?
Da fangen die Probleme schon an, meine Frau und ich benutzen nämlich verschiedene Ordnungssysteme in Abhängigkeit davon, um welche Abteilung unserer Bibliothek es sich handelt. Was die Philosophie anbelangt, die in der Wohnung wohl den größten Raum einnimmt, so versuche ich, streng chronologisch zu verfahren, nur wird dieses einfache Prinzip immer wieder durch Sonderbestände unterbrochen – so habe ich mich entschieden, alles zur Kritischen Theorie Gehörende zusammenzuhalten, so dass hier die chronologische Reihung aufgegeben wird und die Bücher von Adorno und Bloch bis Habermas zusammenstehen. Erschwerend kommt hinzu, dass ich seit rund einem Jahrzehnt aufgrund des Platzmangels gezwungen bin, die Bücher doppelreihig zu stellen, zunächst strikt nach Primär- und Sekundärliteratur sortiert. Aber Sie wissen selber wahrscheinlich, wie schwer diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten ist – ist ein Buch von Michael Theunissen zu Hegel nun ein Primär- oder ein Sekundärtext? Kurz, ich finde mich schon längst kaum mehr zurecht. Trotz selbstauferlegter Zurückhaltung bei Neuanschaffungen wächst die philosophische Bibliothek unaufhörlich, inzwischen liegen die Bücher häufig auch quer auf anderen, so dass es immer wieder passiert, dass ich das gerade Benötigte nicht finde und daran stundenlang verzweifle – bis ich mich schließlich zur Neuanschaffung entschließe, um das bislang vergeblich gesuchte Buch dann am nächsten Tag in einem der vielen ungeordnet herumstehenden Bücherstapel zu finden. Ein wenig leichter ist es mit der Belletristik, auch hier wächst die Menge zwar beinahe täglich, aber wir verfahren rein alphabetisch und meine Frau nimmt alle zwei Monate die große Leiter, um das Gelesene entsprechend – und wieder in zwei Reihen – einzusortieren. Nehme ich noch die Soziologie, Kulturgeschichte und politische Wissenschaft hinzu, die ebenfalls ganze Regalwände bis zur Decke füllen, so können Sie sich wahrscheinlich vorstellen, in welch wuchernder, längst außer Kontrolle geratener Situation wir leben. Nur die Küche und das Schlafzimmer sind von diesen raumgreifenden Mitbewohnern ausgenommen, ein Grundsatz, den wir allerdings nur aufrechterhalten können, wenn wir demnächst ein Depot anmieten – eine entsetzliche Vorstellung!
Welches Buch lesen Sie gerade?
Was die professionelle Lektüre anbelangt, so lese ich gerade ein hochinteressantes Buch des amerikanischen Rechtstheoretikers Mark Osiel, The Right to do Wrong, in dem er zeigen möchte, dass das moderne Recht eine Reihe von Befugnissen zum moralischen Fehlverhalten enthält, die aber deswegen häufig nicht zur Anwendung gelangen, weil uns die informellen Sanktionsdrohungen einer breit geteilten Zivilmoral an deren Ausübung hindern. In Hinblick auf die Belletristik, zu der ich leider nur am Abend, an langen Wochenenden oder im Urlaub komme, also viel zu selten, habe ich mich vor einigen Jahren entschlossen, die Lektüre von Neuerscheinungen regelmäßig durch das Lesen oder Wiederlesen von »Klassikern« zu unterbrechen; die letzte Neuerscheinung, die ich gelesen habe, war Underground Railroad von Colson Whitehead, ein teils ins Magische abgleitender Roman über den Widerstand der Sklaven im Süden der USA. Gerade aber lese ich wieder Italo Svevo, den ich vor drei Jahrzehnten mal verschlungen habe. Im Augenblick ist Ein Mann wird älter an der Reihe – ein großartiger Roman über die schleichende Desillusionierung eines viel zu früh gealterten Mannes.
Wie weit reicht Ihre Sammlung zurück?
Gar nicht so weit, wie man das vielleicht erwarten könnte. Natürlich besitzen wir eine Ausgabe der Bibel, irgendwo wird sich auch ein Band mit Tragödien von Aischylos befinden, aber der wirklich systematische Bestand beginnt erst mit Platon und Aristoteles – dessen Nikomachische Ethik ich immer wieder in Seminaren unterrichte, weil ich sie sowohl in methodischer als auch in inhaltlicher Hinsicht für ganz bedeutend, für auch heute noch unverbraucht und aktuell halte.
Welche Bücher liegen Ihnen besonders am Herzen?
Am Herzen liegen mir alle philosophischen oder soziologischen Bücher, aus denen ich etwas gelernt habe, und das waren unglaublich viele, angefangen mit Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukács über Dutzende Bücher der soziologischen Klassiker, Max Weber, Durkheim, Georg Simmel, die großen Studien der philosophischen Anthropologie, Gehlen und Plessner, natürlich immer wieder Kant und Hegel, bis hin zu den Büchern jüngerer Zeit von Isaiah Berlin, Bernard Williams oder John Rawls. Aber mir schwirrt der Kopf, wenn ich mir darüber Rechenschaft abzulegen versuche, ich lasse zu viel weg, sobald ich mit solchen Aufzählungen beginne, immer wieder gab’s diese Momente der Erschütterung, aus wenigen Sätzen eines Autors oder einer Autorin, zuletzt Judith Shklar, etwas wirklich Neues gelernt zu haben. Das wird mit Bezug auf die Literatur nicht leichter, auch dort gibt es diese Flut unglaublich bewegender Texte, und es kommt mir geradezu unfair, ja ungerecht vor, eines dieser Werke, seien es Romane, Gedichtsammlungen oder Dramen, besonders hervorzuheben. Über viele Jahre hinweg war ich der festen Überzeugung, Peter Handkes Wunschloses Unglück sei der stärkste, erschütterndste Text, der mir je begegnen könnte; dann las ich Paul Nizans Das Leben des Antoine B. und war eines Besseren belehrt. Und so geht’s mir, glücklicherweise, bis heute immer wieder. Mit jeder Lektüre eines Romans oder eines Gedichtes beginnt erneut das Abenteuer des möglichen Verschlungenwerdens, des Verschwindens in fremde Welten.
Welches Buch hat Ihr Leben verändert?
Hier geht’s mir so wie bei der vorherigen Frage. Es gibt für mich nicht das eine Buch, das mein Leben verändert hat. Insgesamt bedeutet mir bis heute Jean Piagets Weisheit und Illusionen der Philosophie sehr viel, weil es mich nachhaltig darin bestärkt hat, bei der Klärung philosophischer Fragen die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften einzubeziehen. Aber um ganz ehrlich zu sein: Dylans Doppelalbum Blonde on Blonde hat mein Leben stärker beeinflusst, mehr in eine später dann als richtig empfundene Richtung gebracht als jedes Buch.
Welches Buch haben Sie zuletzt verschenkt?
Das war, wenn ich nicht ganz falschliege, Alle, außer mir der italienischen Autorin Francesca Melandri, ein umfangreicher Roman, den ich zuvor selber mit größter Spannung gelesen habe, über die nicht nachlassende Wirkung des Kolonialismus. Sehr faszinierend!
Wer soll Ihre Bücher einmal bekommen?
Da setzt sich das Problem fort, auf das ich in der ersten Antwort verwiesen habe: Zwar wächst unsere Bibliothek durch Zusendungen und Neueinkäufe, von denen ich trotz der Proteste meiner Frau nicht lassen kann, unaufhörlich, wird immer reichhaltiger, aber ihr zukünftiger Bestimmungsort ist uns beiden vollkommen unklar. Die Kinder, mit dem Internet groß geworden, haben daran wohl nur geringes Interesse, aber auch den Antiquariaten fehlen heute aus denselben Gründen die Möglichkeiten, ganze Bibliotheken zu kaufen. Sie sollten die Frage nicht stellen, denn sie erfüllt denjenigen, der seine Bücher wirklich liebt, mit Angst und Schrecken.
Wie sieht/sähe Ihre ideale Bibliothek aus?
Ich denke, darauf kann es immer nur eine Antwort geben: Wie die eigene, weil sie ein Spiegel der Bildungsgeschichte ist, die man durchlaufen hat.