Abschied von gestern
oder: ein außergewöhnliches Ziel für eine Republik
Foto: <p class="intro">Anlässlich des 90. Geburtstages von Alexander Kluge zeigen wir noch einmal einen Ausschnitt aus <em>Abschied von gestern</em> aus dem Jahr 1966 sowie die literarische Annäherung der Schriftstellerin Yoko Tawada an den Film.</p> <div style="padding: 45% 0 0 0; position: relative;"><iframe style="position: absolute; top: 0; left: 0; width: 100%; height: 100%;" title="Ausschnitt aus dem Film »Abschied von gestern«" src="https://player.vimeo.com/video/646501725?h=5fb379581e&badge=0&autopause=0&player_id=0&app_id=58479&dnt=1" frameborder="0" allowfullscreen="allowfullscreen"></iframe></div> <p style="text-align: left;">Eine Prozession mit angenähtem Hakenkreuz am Oberarm Marsch, marsch Unterlegt mit der nasalen Singstimme von Paul McCartney Yesterday: Sentimentalität ist unterschätzt Sie bestimmt das Leben als Atmosphäre, wenn sie sexy und absichtslos ins Ohr fließt Paul singt auf Englisch, eine Fremdsprache, anglosächsisch, nicht sächsisch. Aus Leipzig ist Anita G. gekommen ins Land, dessen Programm sie nicht kennt Bunte Republik Täuschland Bunt ist das Land nicht, täuschen will niemand, todernst und grundehrlich wollen sie ein Ziel erreichen: Vom Gestern Abschied nehmen Ein außergewöhnliches Ziel für eine Republik Wer von außen kommt, kann es nie erraten und tappt im Dunklen, tritt dem Einheimischen ins Fettnäpfchen Die Fremde ist ein Mondmensch, ein Mammutmensch Warum erklärt ihr der Beamte nicht, worum es geht in diesem doppelten Musterland Stattdessen stellt er Ja-oder-Nein-Fragen: Jüdisch oder nicht-jüdisch? Opfer oder kein Opfer? Vom Osten oder vom Süden gekommen? Demokratische Exilantin oder Wirtschaftsmigrantin? Vorbestraft oder einfach kriminell? Ausgebildet oder rausgeschmissen? Anita wurde diagnostiziert als Diebin, soll rehabilitiert werden, integriert werden Sie will lieber studieren, weil sie wissen will, sie will einfach wissen Einfach wissen zu wollen ist naiv und die Naivität ist die Unbefangenheit, die keine Feindseligkeit kennt Nur die Naivität kann ohne Strategien wachsen Wer wächst, ist hungrig Anita steckt sich Chips in den Mund, lächelt und öffnet die leuchtenden Augen weit, um zu beobachten, um aufzunehmen, wie eine Kamera ohne Filter Anita kennt keine Auslese Ihr fehlen Kriterien Nur die Klienten haben Kriterien, die ihr Geld, das ihr ins Fleisch gewachsen ist, abschneiden und ausgeben müssen, um die Käuflichkeit der Welt aufrechtzuhalten Anita will nichts kaufen Sie ist unverdorben und nicht berechnend, deshalb nimmt sie einfach eine Jacke, die sie braucht, die ihr nicht gehört, was heißt schon „gehören“? Ein Sommer, der sie frieren lässt, ist schuld Klauen, rauben, stehlen, plündern Dazu fällt Anita ein Synonym ein: enteignen Damit bringt sie oben und unten durcheinander Oben darf beschlagnahmen und enteignen Unten kann nur klauen Anita lässt sich nicht verwickeln in ein System, in dem sie auf der Straße landet, nur weil sie keine Miete gezahlt hat Sie hat ein reines Gewissen, unfreiwillig</p> <p style="text-align: left;">Nicht Anita, sondern ich war die Frau, die von außen kam und Unverschämtes aussprach: Ich will Jura studieren Was genau meinen Sie damit? Ich will wissen, warum mir das Gesetz immer im Weg steht, ich will wissen, mit welchem Recht das Gesetz mich bestraft und einsperrt Etwas wissen zu wollen ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst Nicht jeder, der etwas wissen will, darf studieren Sonst müsste die Universität alle Studienplätze für zukünftige Migranten freihalten Was spricht dagegen? Sie sind naiv, Sie wissen nicht, dass man den Betrieb intakt halten muss Nach dem Abschied von gestern gibt es kein anderes Ziel mehr als Selbsterhaltung</p> <p style="text-align: left;">Anita besucht den Tempel der Akademie unbewaffnet, der Krieg ist schon längst vorbei, das Volk steht ganz oben, das heißt, unterhalb von den herrschaftlichen Treppen und grimmigen Marmorstatuen, es ist jedem erlaubt zu studieren, aber das Volk meistert die neue Lage nicht souverän, verwirrt und verschwitzt steigt es die Treppen hoch zur Sprechstunde bei einem Professor Er hat seinen Mund gereinigt von militärischem Zungenbelag und dem autoritären Kratzen im Hals Er spricht mit der jungen Anita nicht von oben herab, sondern eher zur Seite, wo die Volkssouveränität im Bücherregal steht Der Professor ist hilfsbereit Leider sitzt vor ihm eine Fremde, der nicht zu helfen ist In seinen Augen fehlt ihr alles, nicht nur die Grundlektüre und Latein Etwas Wesentlicheres fehlt der Fremden: Sie kennt das Gestern nicht, sein Gestern, von dem er sich verabschieden wollte Aus dem Käfig seiner Zunft wirft er alte Bälle zu Anita mit Namen seiner Kollegen, die sie nicht kennt Dem kann niemand etwas vorwerfen, der sich mehr als genug bemüht hat, um einen Dialog mit einer Fremden zu führen Anita geht weiter, Straßen gibt es genug, Boutiquen, Baustellen, Gewerkschaft, Brasserie Was ist die Absicht einer Stadt? Sie ist unterwegs mit ihren Kameraaugen Aus der Schallplatte steigt eine Sopranstimme hoch in den tödlichen Himmel, ein Bariton greift nach ihr und bringt sie zum Boden zurück, singt zu tief, fällt in die Hölle, die Sopranistin zieht ihn wieder hoch, die beiden atmen nicht zusammen, aber gleichzeitig Ist es ein Dialog? Nein, es ist eine Opernbühne Anita singt nach Wir hören ihr zu Selbst wenn sie falsch singt In der Verschiebung in ihrem Nachgesang schwirrt ein heiserer Wind, der im Außenbezirk der Großstadt weht Wo Unkraut und Gestein keine Miete zahlen Wo ein Gestern begraben ist, das keiner kennt außer seiner Schwester, Antigone Ihr zuhören, ohne ihr helfen zu wollen Dieser Anita kann man nicht helfen Sie geht ihren eigenen Weg Allein und doch nicht solo Sie knackt eine harte Walnuss mit eigenen Fingerknochen, hat keine Angst vor Schmerzen und gibt ihrem Geliebten die Hälfte der Frucht ab Die Walnuss hat die Form eines Gehirns gebrochen, geteilt, weiterdenkend</p> <p style="text-align: left;">Anita G: Die Initiale „G“ steht für Gestern und „Ashita“ bedeutet auf Japanisch „Morgen“</p>