Hans Höller: Das Klassische. Teil IV
Überlegung zur Notwendigkeit der Kunst nach 1945 – eine Vorlesung zu Peter Handke in vier Teilen anlässlich des Erscheinens des Buches Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945
Foto: <b style="line-height: 1.5em;">1.</b> In der Tageszeitung <i>Der Standard </i>wurde am 25. Oktober 2013 Ruth Klügers <a title="Ruth Klügers Weimarer Rede" href="http://derstandard.at/1381369753512/Weimar-und-Buchenwald" target="_blank" rel="noopener noreferrer">Weimarer Rede</a> vom August des Jahres abgedruckt: »<i>Wie kommt man nach Weimar?«</i> Gemeint ist, wie man von Buchenwald nach Weimar kommt, denn die topographische Nähe von Buchenwald und Weimar bedeutete für viele ehemalige Buchenwald-Häftlinge eine unüberbrückbare Entfernung. Denn zwischen ihnen und Weimar, liege, wie das der emigrierte Literaturwissenschaftler Richard Alewyn fomuliert hat, »Buchenwald«. »Weimar«, schreibt Ruth Klüger, »das war, das ist, Lebensbejahung durch Dichtung, Kunst und Kultur. / Und Buchenwald? War Lebensvernichtung und Lebensverneinung«, und das ist es für die Überlebenden noch immer. Klüger führt ihre Auseinandersetzung mit den beiden Stätten der deutschen Kultur anhand der Interpretation der Goethe’schen <i>Iphigenie</i> auf dem Hintergrund von Imre Kertész’ Erzählung <i>Der Spurensucher</i>. Sie schiebt aber auf einmal diese Text-Auseinandersetzung mit der ›lebens-weltlichen‹ Wendung der Frage beiseite, dass Dichtung »aber auch einfach dazu dienen« könne, »das Leben erträglicher zu machen.« Sie sei »zu Goethe auf einem anderen Weg und mit Empfindungen« gekommen, »die dem Potential von Weimar, nämlich der Lebensbejahung, gemäßer sind.« Es war »zunächst der Aufruhr der Todesangst der Zwölfjährigen im Todeslager«: »Ich hab ein Leben, es ist meins, es hat erst angefangen, nehmt es mir nicht, es gehört mir […], dieses Leben, das geb ich nicht auf, ich hab Angst, ich will noch was lernen – und auch eine große Wut hab ich. Das war das Grundgefühl.« Und dann erzählt sie, dass sie im Lager Groß-Rosen »wieder ein Buch ergattert« hatte, »ein altes, halb zerrissenes Schulbuch war es, ohne Deckel und mit fehlenden Seiten. Es war ein Schatz, mein bestes Buch je. Ich hatte einen Zugang zu der Welt da draußen gefunden«. Dieses Buch enthielt den <i>Osterspaziergang</i> aus dem <i>Faust</i>. Und was sprachliche Bilder zu bewirken vermögen, das kann man daran ablesen, wie Klüger die ersten Verse liest: »›Vom Eise befreit sind Strom und Bäche.‹ Man muss Atem holen«, schreibt sie, »um diesen Vers richtig zu sagen. Ich holte Atem. Es war der Wind eines großen Aufbruchs oder Ausbruchs, der mich direkt ansprach: ›Aus dem hohlen finstern Tor / Dringt ein buntes Gewimmel hervor.‹« Ruth Klüger bemerkt dazu: »Eine ausdrücklich nicht exklusiv christliche, nicht religiöse Auferstehung, an der ich teilhaben konnte. ›Sie feiern die Auferstehung des Herrn, / Denn sie sind selber auferstanden‹«. Heute verstehe sie die Verse von den Menschen, die aus einer »quetschenden Enge« ausbrechen, weil sie »es damals so gut verstanden habe«. Sie habe sie »sofort auswendig gekonnt wegen der Versprechen, die sie enthielten. – Und die sie hielten. ›Im Tale grünet Hoffungsglück.‹ Und sie setzt dazu: »Es war mein Tor zu Weimar.« <b>2.</b> Ein Zweiundzwanzigjähriger schließt Anfang 1965 seinen ersten Roman ab. Die kleinteilige Romanstruktur vermittelt den Eindruck von Zerbrochenheit. Beschrieben wird eine dörfliche Gegend im slowenischen Südkärnten. Es gibt nichts Pittoreskes in den Landschaftsbeschreibungen, die Erzählintention ist bestimmt vom Freiwerden, vom Hinauskommen-Wollen aus den lähmend und fahl beschriebenen Räumen einer großen Unfreiheit. Alles ist wie von einem »Kriegszustand« gezeichnet, der jugendliche Erzähler ist blind, was er mit dem Krieg in Verbindung bringt, aber er weiß auch, dass es das alte epische Bild des blinden Sehers gibt. Schon in diesem ersten Roman Handkes, <a title="Die Hornissen" href="http://www.suhrkamp.de/buecher/die_hornissen-peter_handke_36916.html" target="_blank" rel="noopener noreferrer"><i>Die Hornissen</i></a>, geht es um die Buch-Tradition. Der fiktionale Erzähler versucht, sich an ein Buch zu erinnern, um darin eine Form für seine Erfahrung und Beschreibung der Welt zu finden. »Jedoch weiß er nicht mehr, wie er zu dem Buch gekommen ist. Was ihm davon jetzt gegenwärtig ist, scheint durch die Gegenwart verworfen und abgeändert; die Protokolle in seinem Gedächtnis sind beschlagnahmt, das Urteil über jenes Buch, ob es zu lesen sei oder nicht, ist kassiert und getilgt worden, dadurch, daß er den Urteilsspruch vergessen hat« (<i>Die Hornissen</i>). Er muss das Buch jedenfalls vor seiner Erblindung gelesen haben. Die Beschreibung des beschädigten Buchs erweckt den Eindruck, dass das Weltwissen Kafkas von diesem Erzähler Besitz ergriffen hat. In seinem Herumtasten findet er im Vergessen eine Rettungsmöglichkeit, aber die Sprache gibt indirekt zu verstehen, dass es hier um den Zusammenhang von Erinnern und Vergessen geht. »Sie wollte sich genau erinnern und sie wollte vergessen«, hat Ilse Aichinger von der skandalösen Schienenlegerin Calamity Jane geschrieben: »Es entsprach ihr«, und Aichinger meinte damit, dass es ihrem eigenen Schreiben entsprach, »die abgründigere und zerstörerische Form der Erinnerung zu wählen« (<a title="Film und Verhängnis" href="http://www.fischerverlage.de/buch/film_und_verhaengnis/9783596156597" target="_blank" rel="nofollow noopener noreferrer"><i>Film und Verhängnis</i></a>). Handke schließt den Roman mit einem Traumstück ab, in welchem der Erzähler seinen Bruder »über ein vereistes Schneefeld gehen« sieht. Der kommentierte Traum folgt unmittelbar auf den in der Passage davor zitierten Satz: »›Die Nacht spottet der Beschreibung‹«. »Der über das Schneefeld geht«, habe darauf zu achten, »unbeschwert mit leichten Füßen zu gehen« und »nicht aus dem geordneten Ablauf der Bewegungen zu fallen«. Wenn er nämlich »aus dem Schritt kommt, zeitigt dies sein Einbrechen«. »Hält er ein, so wird sein plötzliches Gewicht ihn durch die Decke stoßen«. Er hat also »die Ordnung der Bewegungen« zu finden, »die ihn herausführt. Wenn er gerufen wird, darf er nicht halten oder Antwort geben. Als ich ihn anrief, brach er ein […]. Unter der Eisschicht ist der Schnee aus dichtem Staub.« (<i>Die Hornissen</i>) In einer verschroben und antiquiert wirkenden Sprache wird ein Traumbild von Orpheus im Gebirge beschrieben. Es liest sich wie das Bild gewordene unbewusste Wissen des vom Einbrechen gefährdeten Schreibens nach Auschwitz. »Unter der Eisschicht ist der Schnee aus dichtem Staub« lautet der letzte Satz des Romans. <b>3.</b> In Handkes Werk beginnt mit <i>Die Hornissen</i> die erzählerische Suche, wie man, wenn man eingebrochen ist, wieder auf die Beine kommt, wie man hinaus gelangt und seinen Weg gehen kann. Es ist kein Flaneur, der am Schluss des ersten Romans über brüchiges Terrain zu gehen lernt. Dieser Gehende hat ein Werk im Sinn, und Gehen und Schreiben sind ihm verwandte Vorstellungen. Und in diesem »Am-Werk-Sein« wird Buch für Buch entstehen, und diese Bücher werden ein episches Organon der Rettung bilden. Und es ist nicht zuletzt das Buch selber, die literarische Tradition, die so gerettet wird mit allen ihren befreienden Motiven und Symbolen: Ob es die Leiter ist, die in die Krone eines Apfelbaums reicht und uns daran erinnert, dass das Paradies offen steht; oder die Hühnerleiter, die zur Jakobsleiter wird; oder alle die verschlossenen Türen und Tore, die uns daran erinnern, dass wir uns nicht abhalten lassen sollen, sie zu öffnen, genauso wie wir die Schwellen in der Landschaft nicht übersehen sollten. Das Abenteuer von Handkes Beschreibung der Landschaft liegt ja nicht zuletzt darin, dass sie sich wie ein episches Passagen-Werk ausnimmt. Denn der Autor hat die Schwellenkunde aus Benjamins <a title="Das Passagen-Werk" href="http://www.suhrkamp.de/buecher/das_passagen-werk-walter_benjamin_11200.html" target="_blank" rel="noopener noreferrer"><i>Passagen-Werk</i></a> seinem klassischen Schreiben zugrunde gelegt, nachdem er zuvor aber selber die »Schönheit der Schwellen!« (<a title="Langsame Heimkehr" href="http://www.suhrkamp.de/buecher/langsame_heimkehr-peter_handke_37569.html" target="_blank" rel="noopener noreferrer"><i>Langsame Heimkehr</i></a>) in einem sein Leben und sein Schreiben rettenden Moment entdeckt hatte. Es gibt eine Gestalt in Handkes Büchern, auf die man seit dem ersten Roman <i>Die Hornissen </i>(1966) immer wieder trifft. Ein Mann geht auf der Straße dahin, er geht und geht, und seine weiten Hosenbeine flattern im Wind, als wären sie die Flügel des Hermes. Im Spätwerk, wie in <a title="Immer noch Sturm" href="http://www.suhrkamp.de/buecher/immer_noch_sturm-peter_handke_46323.html" target="_blank" rel="noopener noreferrer"><i>Immer noch Sturm</i></a>, nimmt diese Imago des Erzählens immer mehr die Rolle des Hermes pychopompos an, des Totenführers. Seine schönste Verkörperung findet der seines Wegs Gehende im Bild des auferstandenen Christus, den der Autor Ende der Achtzigerjahre am Beginn seiner Weltreise auf einem Fresko in einer griechischen Kirche sah: »der für sich Wandelnde von den Toten Auferstandene, umweht von der Frühmorgenluft, durchlässig für alles Licht der Welt«. Diese spinozistisch-goetheanische Christus-Deutung in <i>Gestern unterwegs </i>ist zugleich ein persönliches existenzielles Motiv der Auferstehung. Wie oft habe er selber – »ich persönlich-unpersönlich« – »das schon erlebt, etwa im Herbst 1978 im Central Park von New York«, nachdem er »endlich den Anfang der Langsamen Heimkehr geschaffen hatte«. Das Werk-Motiv der Bewegung ins Offene, das Aufstehen, sich in Bewegung setzen und zu den andern hinbewegen, verweist auf die frühe Erfahrung der mütterlichen Depression, gegen die sich Handkes Schreiben zur Wehr setzt. In dieser literarischen Gegenbewegung zur Weltkrankheit der Depression findet das Wagnis einer heute aktuellen Klassik seine tiefste und sinnfälligste Begründung. Benjamins Theorie der Schwellen und Passagen oder die neu gelesenen biblischen Bilder, ob es die Jakobsleiter ist oder der Schöpfungswind, die befreiende Kafka-Deutung, die uns ermuntert, die verschlossenen Türen aufzustoßen, und all die anderen Bilder der großen Schrift-Tradition dürften kaum jemals so dringend zur Rettung beansprucht worden sein wie in Handkes erzählerischer Arbeit der Befreiung aus der Schwerkraft der Depression. In mehreren Büchern hat er sie mit der Disposition der Mutter in Zusammenhang gebracht. Die irritierende Wendung »So weit ich mich zurückerinnern kann, bin ich wie geboren für Entsetzen und Schrecken«, die am Beginn von <a title="Der kurze Brief zum langen Abschied" href="http://www.suhrkamp.de/buecher/der_kurze_brief_zum_langen_abschied-peter_handke_39786.html" target="_blank" rel="noopener noreferrer"><i>Der kurze Brief zum langen Abschied</i></a> steht, hat mit dem geschichtlichen Datum der Geburt im Jahr 1942 zu tun, aber die erzählerische Kontextualisierung in den kindheitlichen Ängsten um die Mutter legen auch jenen anderen Zusammenhang nahe. In <i>Der kurze Brief zum langen Abschied</i> zieht ein bald dreißigjähriger ›Held‹ aus, um auf seiner Reise durch die USA das Fürchten zu verlernen – oder wenigstens das brutale Ausgesetztsein an die im Ich gestaute Angst, die aus der Kindheit kommt, zu ›sänftigen‹. Er erinnert sich auf der Reise, wie er »einmal gegen Abend« auf »einem hohen Felskegel« nach seiner Mutter gesucht habe: »Sie wurde ab und zu schwermütig, und ich glaubte, sie hätte sich, wenn nicht hinuntergestürzt, so doch einfach hinabfallen lassen. […] Ich konnte den Mund nicht mehr aufmachen, die Luft tat mir weh; alles an mir war vor Angst tief nach innen gesunken. […] Ich wurde immer schwerer.« Die Bilder, auf die der Erzähler bei seiner Beschreibung der Angst um die Mutter verfällt, geben zu verstehen, dass die späteren – klassischen – Bilder des luftigen, alles leichter machenden, die konkaven Formen betonenden Raums<sup><a href="#_ftn1" name="_ftnref1">1</a></sup> jene Schreckensbilder der Angst um die Mutter und der Kriegsangst vergessen machen. Es ist jenes Vergessen, von dem Ilse Aichinger in <i>Film und Verhängnis</i> gesagt hat, dass es die »abgründigere und zerstörerische Form der Erinnerung« sei. <div> [caption id="attachment_3996" align="aligncenter" width="500"]<a href="https://www.logbuch-suhrkamp.de/wp-content/uploads/HandkecJerryBauer_Folge-4.jpg"><img class="size-full wp-image-3996" src="https://www.logbuch-suhrkamp.de/wp-content/uploads/HandkecJerryBauer_Folge-4.jpg" alt="Peter Handke" width="500" height="676" /></a> © Jerry Bauer[/caption] </div>