Eines Tages – es muß 2008 oder Anfang 2009 gewesen sein – erhalte ich einen Brief von Friederike Mayröcker, der aus einem einzigen Satz, einer einzigen Frage besteht: »›wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?‹ (Jacques Derrida)«. Zu einem Zeitpunkt, als Friederike Mayröcker vermutlich intensiv am Manuskript von ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk arbeitet, dessen als Fußnote 8 in den Text hingesetztes Motto, ja, dessen Sprach-Werkzeug lautet: »›wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?‹ (Jacques Derrida)«.
Mir scheint, tatsächlich setzt das Tränengespräch spätestens bereits im Frühjahr 1986 ein, in einer Zeit, als ich eben in Friederike Mayröckers Werk zu versinken beginne, und zwar nicht mit der Frage von Jacques Derrida, sondern mit dem Schlußchoral der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach, mit jenem »Wir setzen uns mit Tränen nieder«, das, mit Anführungszeichen versehen, am 13. Februar 1986 zum Titel eines Ernst Jandl gewidmeten Gedichts wird, in dem von »meine verschwommenen Trachten« die Rede ist, also vielleicht von den Augen, den Tränen und der Schrift zugleich.
Zwei Jahre später wird Ernst Jandl antworten, indem er, ein Dekonstrukteur vor dem Herrn, wie stets mit heller Freude den Mißklang aus dem Wohlklang heraushorchend und den Wohlklang aus dem Mißklang, jenen Bach zitierenden Titel Friederike Mayröckers als irritierendes Moment in sein langes Gedicht »älterndes paar. ein oratorium« einfügt, wo es, sanft in den Reim gleitend, heißt: »wir setzen uns mit tränen nieder; flieder- / duft drückend schlägt sich aufs gemüt«.
Nach Ernst Jandls Tod wird Friederike Mayröcker das Zitat retournieren, sie wird es, um einen halben Satz ergänzt, einer neuen Zuschreibung unterziehen, und zwar am 14. Februar 2003 mit ihrem »›wir setzen uns mit Tränen nieder denn unser Leben war zu kurz‹ (Ernst Jandl)« betitelten Gedicht. Das Zitat wird also nicht etwa falsch erinnert, sondern es ist gewandert – womit das Gespräch über Tränen auch über das Verstummen des Gegenübers hinaus aufrecht erhalten wird.
»mir war, als sei 1 Gegenstand von der Tischplatte gerollt«, notiert Friederike Mayröcker in cahier, sie notiert: »aus dem innersten Leib meine Tränen gerollt«, und vollständig lautet der Satz im Eintrag vom 3. April 2013, die Träne und das Schreibwerkzeug zusammenschauend: »mir war, als sei 1 Gegenstand von der Tischplatte gerollt ich meine da war 1 ungewisses Geräusch 1 blauer Stift, aus dem innersten Leib meine Tränen gerollt«.
Da sind sie, da ist es, ein Buch des Kummers und zugleich ein Buch der Verzückung. Beim Lesen dieser zitierten Sätze meint man, ebenso wie beim Lesen des am selben Tag notierten Moments »es schwebt mir etwas vor, habe diesmal beim Schreiben nicht geweint weiszt du«, meint man also, man werde Zeuge eines mit leiser Stimme geführten Gesprächs zwischen Friederike Mayröcker, dem mit stockenden Karteikartennotizen ein Tagebuch der Trauer um seine Mutter schreibenden Roland Barthes, den ein einfaches »Voilà« aus dem Mund einer Verkäuferin aus der Fassung bringt, und Stendhal, dem Fachmann für lacrime di gioia, der seinerzeit das Projekt einer Autobiographie abbrach mit dem berühmt gewordenen Satz: »Man verdirbt so zarte Erinnerungen, wenn man sie umständlich erzählt.« Tränenworte werden gewechselt, die Worte bringen die Tränen, die Tränen wiederum ersticken die Stimme, welche darum keine Tränenworte mehr hervorzubringen vermag.
Wie aber bringt nun Friederike Mayröcker logos und lacrima in die Waage, wie gelingt es ihr – zu allem entschlossen und ohne Umschweife und ohne den leisesten Anflug von Sentimentalität – so meisterhaft, uns zu trösten (denn von nichts anderem ist hier schließlich die Rede)?
Wie kommt es, daß in und ich schüttelte einen Liebling die immer wieder angerufene Tröstungsfigur, nämlich Gertrude Stein, also jene Jahrhundertautorin, die dem im Buch beweinten Ernst Jandl in den fünfziger Jahren die Tür zur Moderne aufschloß, nicht nur die Erzählerin, sondern auch uns zu trösten scheint? Wie entsteht der Eindruck, wir würden von den Gedichten in von den Umarmungen umarmt? Wie gelingt es ihr, wenn sie ihr Auge auf Hölderlin in der traurigen Gestalt des Scardanelli wirft, auch uns in den tröstenden Blick mit einzuschließen? Und warum überträgt sich die tröstende Wirkung der Musik, die in ihrem Hörspielwerk eine so große Rolle spielt, auch dann auf uns, wenn wir Friederike Mayröcker still lesen?
Ich glaube, es hat mit einem erstaunlichen Prozeß zu tun, der sich an Friederike Mayröckers großen Prosawerken seit dem Tod von Ernst Jandl ablesen läßt. So bleiben, tatsächlich erstaunlich und zugleich unmittelbar einleuchtend, in Requiem für Ernst Jandl sowohl das Weinen als auch die Tränen nahezu konsequent ausgespart – als wollte der Text uns mitteilen: im Schockzustand weint man nicht, und das Trauma kennt keine Träne. Erst in den darauffolgenden Jahren nimmt das Weinen mehr und mehr Raum auch im Geschriebenen ein, bis es in Paloma einmal sogar heißt: »es ist viel von Weinen die Rede, wird der Leser sich denken, und doch ist es meine einzige Zuflucht in dieser Wirrnis«. Und wir erinnern uns an Stendhal, der sich, bevor er seine Autobiographie abbricht, an den Leser wendet, da ihm der Text zerfließt: »Wahrhaftig, ich muß aufhören. Die Schilderung übersteigt die Kraft des Erzählers.«
In ich bin in der Anstalt, ich sitze nur GRAUSAM da, études dann und nun cahier finden sich Tränenmomente jeweils bereits auf der ersten Seite des fortlaufenden Texts, sie stellen demnach Schlüssel dar, mit deren Hilfe die Arbeit in Gang gesetzt wird, sind mit dem Beginn des Schreibens unabdingbar verknüpft.
Das Tränenvergießen, eigentümlich changierend zwischen Affektäußerung und Kulturtechnik – es ließe sich vermuten, Hefte müßten ganz einfach grundsätzlich mit einem Tränenstrom eröffnet werden, so wie E. M. Cioran am 26. Juni 1957 sein erstes Cahier aufschlägt und sogleich notiert: »Wollte mitten auf der Straße weinen! Ich habe den Dämon der Tränen.«
Damit aber wäre noch nichts über die tröstende Wirkung der Werke von Friederike Mayröcker gesagt. Wäre noch nichts darüber gesagt, wie sich die Tränenrede auf uns, auf die Leser überträgt – und zwar, dies ist entscheidend, ohne daß wir uns zum Selbstmitleid aufgerufen fühlen.
Woher diese Innigkeit? Warum zerfließen wir nicht, während wir den Zeilen folgen, sondern rücken nur immer näher an den Text heran? Warum überhaupt existiert er, warum hat, mit dem Stift über das Papier gebeugt, keine Selbstauflösung – des Texts, des schreibenden ›ich‹ – stattgefunden wie bei Stendhal oder Roland Barthes?
Lese ich Friederike Mayröckers Werke seit die kommunizierenden Gefäsze, der ersten größeren Prosaarbeit nach dem Requiem für Ernst Jandl, noch einmal, gerate ich in einen Zustand, der mich mehr sein läßt als der Zeuge eines vom Weinen schreibenden oder weinend schreibenden ›ich‹. Nach und nach ist es, als löste sich die Träne, fest in der abendländischen Geschichte verwurzelt und zugleich Phänomen eines jeweils gegebenen Augenblicks, von der tränenbenetzten Heftseite, jenem materiellen Beweis der unaufkündbaren Verbindung von Auge und Hand, von Schreibendem und Schrift. Sie löst sich von der Fläche, auf der logos und lacrima sich mischen.
Von Buch zu Buch gewinnt die Träne an Plastizität, Viskosität, Lichtwirkung, bis ich der Suggestion erliege, ich könnte sie, wenn ich nur wollte, von allen Seiten betrachten.
Damit aber wendet Friederike Mayröcker eine Technik an, wie wir sie von den Alten Meistern kennen. Die hohe Kunst der Alten Meister beim Malen von Stilleben bestand in der Darstellung von Oberflächen, des jeweils spezifischen Reflexionsverhaltens natürlicher Materialien. Wir kennen die Meister des Faltenwurfs, der Fischschuppe, kennen die Kupfer-, die Messing-, die Glasmeister. Reine Arrangements unbelebter Dinge sind die Stilleben dieser Glasmeister darum nicht, weil sich auf ihnen bei genauer Betrachtung der Maler selbst zu erkennen gibt: Denn gerade darin zeigt sich ja seine Kunst, daß er über die Fähigkeit verfügt, die Arbeit des Lichts auf einem Weinglas oder einer Karaffe so wirklichkeitsgetreu darzustellen, daß dieses Glas sämtliche auf seine Oberfläche einwirkenden Lichtstrahlen widerzuspiegeln scheint.
Zu meinem Erstaunen erkenne ich im leblosen Gegenstand den Maler, wie er den Pinsel in der Hand hält, um ein Glas zu malen, das, handelt es sich bei ihm tatsächlich um einen Meister, den Maler in seinem Atelier zeigen wird: und ich erlebe ein Moment der Verzückung. Ich bin überzeugt, mit der Träne in Friederike Mayröckers Kunst verhält es sich ganz ähnlich: Kaum hat die Träne das Auge verlassen, spiegelt sich in ihr dieses Auge selbst, und mit ihm spiegeln sich das Gesicht des Schreibenden, die den Stift haltende Hand, das Blatt Papier, die Schrift, der den Schreibplatz umgebende Raum und das Fenster, durch das Licht hereinfällt – kurz: das gesamte Atelier einschließlich des in die Arbeit versunkenen, weinenden, schreibenden ›ich‹.
Die Träne löst sich vom Meister – ohne sie jedoch sähen wir nicht, daß der Meister anwesend ist und, wie wir, die Träne betrachtet. Hierin liegt die tröstende, die tränentrocknende Wirkung: Wären wir doch mit tränenverschleiertem Blick nicht in der Lage, die Träne, die Präsenz selbst nämlich, wahrzunehmen, wenn wir die études, wenn wir das cahier lesen.
Ganz so, wie Roland Barthes in einem lichten Moment in seinem Tagebuch der Trauer notiert:
»Alles ist da, gegenwärtig: Ich bin da.
Das Ich altert nicht.
(Ich bin so ›frisch‹ wie in der Zeit des Reispuders)«
So frisch zu sein wie in der Zeit des Reispuders. – Heute, am 6. Dezember 2014, während ich diese Sätze schreibe, erhalte ich einen Brief von Friederike Mayröcker, und er beginnt mit der Frage: »›WOLLEN SIE MIT MIR ÜBER TRÄNEN SPRECHEN?‹«