Bevor ich einstieg, wollte ich den Schriftzug fotografieren. ›Yokohama Express‹, der Name gefiel mir, weil er so sinnlos war, die Reederei hatte nichts mit Japan zu tun, und ›Express‹ klang nach Nachtzug. ›Yokohama Express‹, ein Name um seiner selbst willen, so wie meine Reise eine Reise um ihrer selbst willen sein würde, jedenfalls wenn man Theater als Selbstzweck betrachtet; ich recherchierte gerade für ein neues Stück.
So stand ich mit der Kamera vor der schwarzen Schiffswand und legte den Kopf in den Nacken, irgendwo dort oben musste der Name stehen, doch da waren nur Container; an blauen Stahlarmen schwebten sie hin und her zwischen Deck und Land. Hinter meinem Rücken kreisten selbstfahrende Transporter, und zu meinen Füßen schwappte das Hafenwasser, mit einem Netz überspannt, einem Menschenauffangnetz. Vor Kurzem soll hier im Hafen von Rotterdam ein alter Mann ertrunken sein, der seinen Enkel von einem Containerschiff abholen wollte.
Ohne das Foto gemacht zu haben, kletterte ich die Gangway hoch, gefolgt von Herrn B., den die Reederei zu meiner Begleitung bestimmt hatte.
Die Gänge auf dem mit Containertürmen zugebauten Deck waren schmal, wie ein lästiges Zugeständnis an die Besatzung, dabei hatte mir die Reederei versichert, dass man nicht beabsichtige, den Menschen loszuwerden. Die Investition in selbstfahrende Schiffe würde sich nicht lohnen, denn der Mensch sei letzten Endes doch sehr billig, gemessen an Faktoren wie zum Beispiel Treibstoff.
Einen Teil der Mannschaft fand ich dann in der Offiziersmesse, die Männer trugen graue Overalls und saßen beim Abendessen. Auf dem Tisch war eine mit Saucen, Servietten, Gewürzen und Zahnstochern beladene Drehscheibe installiert, so konnte man sich das Gewünschte direkt an seinen Platz drehen, ohne jemanden bitten zu müssen.
An die zehn Tische standen hier, doch nur dieser eine war besetzt, still war es in dem mit blauem Teppich ausgelegten Raum. Ich holte mir Schnittbrot und Schnittkäse vom Büffet und setzte mich dazu. Die Männer grüßten freundlich, wenn auch befremdet, »Theaterautorin, das hatten wir noch nie«, hatte der PR-Experte der Reederei gesagt. Ähnliches schienen auch diese Männer zu denken, und so begann ich betont nüchtern mit einer Datenerhebung:
Besatzungsstärke? Siebenundzwanzig.
Nationalitäten? Etwa die Hälfte Philippiner, zwei Polen, der Rest Deutsche.
Frauen? Keine.
Verständigung? Englisch.
Alle sprechen Englisch? Alle.
Auch die Philippiner? Auch die Philippiner.
Wo sind die Philippiner denn? Die essen woanders.
Warum? Die wollen das so. Die wollen unter sich sein.
Einziger Philippiner im Raum war der Steward, der die leer gegessenen Teller abräumte. Das Tageslicht sickerte nur spärlich durch die Bullaugen, und die unbesetzten Tische schimmerten weiß in dieser Dämmerung. Ein überreiztes Hirn hätte fantasieren können, dort speisten Gespenster, umso besser gefiel mir der Vorschlag des Ersten Offiziers, durch die Wohnbereiche des Schiffes zu führen. Hätte ich erst den Speisesaal der Philippiner gesehen, würden sich die Verhältnisse auf der ›Yokohama Express‹ klären.
Wir begannen mit dem Tagesraum der Philippiner; väterlich lächelnd zeigte der Offizier auf die Karaoke-Anlage: »Das macht denen Spaß.« An der Wand daneben hing – offizielle Schiffsdekoration – ein Bild von Marilyn Monroe in wehendem Kleidchen. Am Ende des Ganges befanden sich ein kleiner Swimmingpool, der mit Meerwasser befüllt werden konnte, sowie ein Fitnessraum mit ein paar Geräten und einer Tischtennisplatte. Alle Räume waren menschenleer.
Vielleicht mahnte die Präsenz des Herrn B. daran, nicht zu viel zu zeigen. Er folgte mir auf dem Fuß, und wo er war, war auch die Konzernzentrale. Den Speisesaal der Philippiner bekam ich jedenfalls nicht zu sehen, und auch nicht die privaten Unterbringungen der Männer.
Die Abfahrt war für morgen früh, sechs Uhr geplant. In der Hoffnung, hier mehr zu erfahren, folgte ich der Einladung des Kapitäns und setzte mich zu einer Handvoll Männer an die Mannschaftsbar, die sich im dunkelsten Winkel der Offiziersmesse befand. Über dem Tresen hing eine kinderkopfgroße Messingglocke, vermutlich um an eine Schiffsglocke zu erinnern, vielleicht auch an die christlichen Werte. Werte. Diese Frage hatte ich in meiner Datenerhebung ganz vergessen: Was haben wir eigentlich geladen?
Der Erste Offizier, verantwortlich für Fracht und nüchterne Einsatzbereitschaft, setzte seine Grapefruitlimonade ab. Würden die Hafenbehörden ihm den Inhalt jedes Containers mitteilen, gäbe es – melancholische Pause – noch mehr Bürokratie. Normale Container, Kühlcontainer, Gefahrengut, mehr wisse er nicht von seiner Ladung. Ein junger Ingenieur verkündete in Rostocker Küstensound, dass auf seiner ersten Reise ein Kühlcontainer ausgefallen sei, da musste er, damals noch Praktikant, den ganzen Tag Schokoladeneis aufwischen: »Dann weiß man, was drin ist.«
Auf dem Barhocker neben mir meldete sich ein älterer Ingenieur zu Wort, dessen Gesicht ballonartig aus dem Overall herausragte. Er wolle mir mal etwas erklären: Früher sei er viele Monate am Stück durchgefahren, anders als heute, wo man drei Monate fahre, um sich dann drei Monate an Land zu erholen. Und noch etwas wolle er mir erklären. Er spülte sich die Kehle und sagte dann so laut, dass Herr B. es unbedingt hören musste: »Die Philippinos haben Arbeitsverträge wie ich früher, oder schlimmer. Bis zu zehn Monaten fahren die durch, und wenn dann jemand die anschnauzt, weil die nicht mehr funktionieren nach zehn Monaten an Deck, dann werde ich böse, sehr böse werde ich dann.«
Die Messingglocke über seinem kahlen Schädel reflektierte das rosafarbene Licht der Barbeleuchtung, Kapitän und Erster Offizier wünschten gute Nacht.
Kaum waren die beiden aus dem Raum, wurde der Ton weicher: »Ein guter Kapitän.« Gut, weil er die Leute ihr Bier trinken lasse, andere kontrollierten das Feierabendbier, und dann wäre das Schiff ein Gefängnis. Der Rostocker hielt eine Salzstange hoch, ein guter Kapitän, andere sparten an Salzstangen, um bei der Firma damit zu prahlen, wie wenig sie ausgegeben hätten während der Überfahrt.
Herr B. sagte nichts, den Henkel seines Halbliterglases fest in der Hand.
Ich ging dann zu Bett.
›Supercargo‹ stand über meiner geräumigen Kajüte, die direkt neben der des Kapitäns lag; ›Supercargo‹ ist ein Vertreter, der mit auf die Reise geht, wenn es besonders wertvolle Ware zu überwachen gilt. ›Supercargos‹ Bett war sehr weich und das kaum wahrnehmbare Schaukeln des Schiffes war sehr wohlig. Kaum eingeschlafen, klingelte das Telefon auf dem Nachttisch: »Wir fahren früher ab, wollen Sie raufkommen?« Es war halb zwei Uhr morgens.
»Earlier than expected«, sagte der Kapitän, »much earlier«, erwiderte der Lotse, die Augen klein vor Müdigkeit. Herr B. fehlte, alle Versuche, ihn zu wecken, waren gescheitert. Hier oben, auf der gläsernen Kapitänsbrücke, hatte man alles im Blick, Container, Hafen und sogar die Vorgänge an Deck: Der Kapitän brauchte nur auf einen Monitor zu tippen, schon sah man zwei Philippiner in grellorangefarbenen Overalls, die gerade die Leinen einholten. Um den Bierrausch des Herrn B. nicht ungenutzt zu lassen, fragte ich, ob ich dem Leinen-Einholen auch direkt beiwohnen dürfe. Die Bitte wurde abgelehnt, Lacksplitter könnten mir in die Augen fliegen.
Ich öffnete die Tür zum Austritt neben der Brücke. Die glitzernden Lichter ließen den Containerhafen jetzt aussehen wie einen riesigen Zirkus. Der Kapitän stellte sich neben mich und zeigte auf den gelben Halbmond, »fast ein bisschen kitschig«. Hier, in der Nachtluft, begann er von seiner Kapitänsverantwortung zu reden, von Fischerbooten in ärmeren Häfen, die von den Containerriesen hinweggewischt werden, ohne dass je eine Zeitung darüber schreibt.
Um vier Uhr morgens trieb die ›Yokohama Express‹ zur Mitte der Fahrrinne hin, Schlepperboote mit weißen Masten zogen und schoben sie aufs offene Meer. Um acht Uhr schnitt sich der Kapitän eine Banane in die Haferflocken. Der philippinische Steward servierte Toast mit Rührei; Herr B., der mit am Frühstückstisch saß, nahm es entgegen und berichtete von seinem grundsätzlich festen, gesunden Schlaf.
Schlafen. Ich hatte nur zwei Stunden geschlafen, doch alle, mit denen ich die Nacht durchwacht hatte, arbeiteten einfach weiter. Um nicht faul auszusehen, nahm ich die Ohrstöpsel entgegen, die der junge Rostocker mir reichte, und folgte ihm durch eine Stahltür. Feuchtheiße Luft schlug uns entgegen, nach kürzester Zeit klebte mir die Kleidung auf der Haut. Der Ingenieur, dem der Schweiß den Hals herunterlief, brüllte mir zu, dass hier das Schweröl auf 140 Grad erhitzt werde. Der Maschinenraum setzte sich aus mehreren Podesten zusammen, alles war grasgrün gestrichen, eine Maschinenwiese, bestehend aus Pumpen, Kesseln und hohen, waschmaschinenartigen Gebilden. Vielleicht lag es an den Ohrstöpseln, vielleicht an der Hitze in Kombination mit der Müdigkeit: Ein Gefühl von Unwirklichkeit stellte sich ein. Alles begann ineinanderzufließen, das grelle Grün, die schweren Gerüche, der Lärm. Mehrmals horchte ich auf, weil ich glaubte, dass jemand einen Klassiksender aufgedreht hätte. Das rhythmische Stampfen und die hell-metallischen Klänge ergaben eine Sinfonie, ein Maschinenkonzert, dirigiert vom weltweiten Warenverkehr.
Manchmal begegneten wir einem der philippinischen Deckarbeiter: Hier räumte einer einen Haufen Stofffetzen fort, dort fräste einer ein Eisenteil, weiter hinten wurde ein Stahlreifen an einer Schiene einem unbekannten Ziel entgegengeschoben.
Sie kletterten in dem Maschinenraum herum wie Arbeitsbienen, die die Königin bedienen.
Der Kapitän hatte über das Geländer gegenüber meiner Tür ein Polster gehängt, das ich jetzt auf die Sonnenliege eines Zwischendecks legte. Nett war es hier, sehr nett sogar, ein strahlender Hochsommertag, an dem gemächlich ein Haufen bunter Kisten über die Nordsee bewegt wurde.
Ich versuchte, zu dösen.
Ich versuchte, nicht nachzudenken.
Nicht über die unterschiedlichen Arbeitsverträge von Europäern und Philippinern, nicht über die Auswirkungen des Schweröls auf die Natur, nicht über die Fischerboote, die hinweggewischt werden, ohne dass einer darüber schreibt, nicht über die Sinnhaftigkeit des Transports von Schokoladeneis über die Weltmeere. Zwölf Cent kostet der Transport eines iPads von China nach Europa, hatte man mir in der Reederei erzählt.
Die Zeit an Bord begann, sich zu dehnen, monotones Tuckern des Motors, Monotonie auch in den Gesichtern. Erst als am nächsten Morgen die Elbvillen in Sicht kamen, wurde es munter, der Kapitän holte mich an das Pult mit der Hupe. Kaum ertönte das durchdringende Signal, rissen die Gäste eines Ausflugslokals ihre Arme hoch. Der Kapitän lachte: »Das funktioniert immer.«
Zwei Tage war ich auf der ›Yokohama Express‹ und bin mit keinem der Philippiner ins Gespräch gekommen, auch ihren Speisesaal habe ich nicht gefunden. Kurz habe ich mich gefragt, ob sie überhaupt essen, dann stellte ich sie mir mit Suppentellern auf den Knien in Doppelstockbetten vor, dann in einem verborgenen, bunt angemalten Saal, in dem Musik gemacht wurde.
Wo die ›Yokohama Express‹ jetzt gerade fährt, weiß ich nicht. Es war ja noch nicht einmal möglich, ihren Namenszug zu fotografieren.