Das Hotel der Immigranten war die erste Anlaufstelle für alle europäischen Emigrant:innen, die bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein in Buenos Aires ankamen, auf der Flucht vor Armut, Krieg oder dem Holocaust. Anne Jelena Schulte hat mehrfach vor Ort recherchiert und Auswanderer der ersten Generation und deren Kinder zu Gesprächen getroffen. Menschen, die sich vor dem Hintergrund ihrer Migrationserfahrung Gedanken machen über die gegenwärtige Situation von Flüchtlingen vor und in Europa. Denn im Hotel der Immigranten (UA: 14. März 2019, Theaterhaus Gessnerallee Zürich, Regie: Anna-Sophie Mahler) geht es nicht um ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte, sondern um Fragen, die in unserer Gegenwart brennen.
Jedes Mal wenn ich nach Hause kam, das heißt ins Haus meines Cousins, der im Urlaub war, lagen tote Schmetterlinge auf dem Boden. Wahrscheinlich kamen sie durch das gekippte Fenster, angezogen von dem Avocadobaum in der Küche, der durch ein paar herausgenommene Bodenkacheln mit der Erde verwurzelt war. Diese Schmetterlinge, deren rote Flügel mit tropfenförmigen, silbernen Punkten verziert waren, erinnerten mich bei jedem Heimkommen daran nicht in Europa zu sein und an meine unergiebigen Versuche zu verstehen, was das heißt.
Argentinien kannte ich seit meiner Jugend. Diesmal aber war ich mit einer Absicht in Buenos Aires: europäische Auswanderer der ersten Generation zu treffen, Menschen, die als Kinder oder Jugendliche in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts auf der Flucht vor Armut und den europäischen Diktaturen am Hafen des Rio de la Plata vom Schiff geklettert waren.
Wie Pedro Roth.
Ich weiß noch, wie sein Sohn, der das Treffen arrangiert hatte, mir die Tür zu dem Patio öffnete, an dessen Ende Pedros Haus lag, und welche Ruhe von diesem Ort ausging. Eine Schildkröte, verlassene Liebe aus den Kindertagen des Sohnes, kroch über den mit Tonfliesen gekachelten Hof. Pedro erwartete mich in der Küche. Trotz der Hitze trug er über seinem T-Shirt eine mit großen Taschen besetzte Weste, die an eine Kampfausrüstung erinnerte, und tatsächlich waren die bunten Acrylstifte, die aus ihr herausragten, die Munition, mit der Pedro seinen Alltag bewältigte. Pedro zeichnete, jetzt und auch bei allen späteren Begegnungen; er zeichnete, wo auch immer er sich gerade befand, keine noch so knittrige Serviette, kein noch so schmuddliger Fahrschein in seiner Nähe, die er nicht bald in kleine Kunstwerke verwandelte.
Pedro hatte als kleiner Junge in einem Keller das Ghetto von Budapest überlebt, sein Vater war in Auschwitz gestorben. »Frag mich alles, was du willst«, sagte er, nachdem er mir den zweiten Stuhl an dem winzigen Küchentisch angeboten hatte, »hier bin ich.« Hier bin ich. Dieser schlichte Satz enthielt alles, auch die Aussage, die er kurz darauf traf: »Ich versuche, so wenig wie möglich zurückzuschauen.« »Dann war es vielleicht keine gute Idee, dass ich hierherkomme, um dich nach deinem Leben zu fragen«, erwiderte ich verlegen. Er wehrte ab: »Wir sind dabei, uns kennenzulernen, und ich versuche dir zu erklären, wie ich bin.« »Ich möchte nicht stören.« »Du störst nicht!«
Er stand auf und schlurfte in den klobigen Gummischuhen, die er an seinen nackten Füßen trug, in eines der Zimmer, durch deren offen stehende Türen ich auf dem Weg in die Küche ein Archiv von Bildern erspäht hatte, die ordentlich gestapelt im Dämmerlicht der Räume lagerten.
Als er zurückkehrte, gab er mir einen Katalog mit Zeichnungen für eine Ausstellung zur Shoah. Es dominierten die Farben Schwarz und Rot, zu sehen waren Menschen mit deformierten Körpern, Münder, aus denen die Zahnreihen herauswuchsen, Hände, die aus Sträflingskleidung herabhingen wie schwere Gewichte.
Pedro sprach Spanisch mit stark osteuropäischem Akzent, er selbst machte mich darauf aufmerksam. Den Ehrgeiz anderer Immigranten, den Heimatakzent so vollständig wie möglich abzulegen, kannte er nicht. Vielleicht, so überlegte er, kultivierte er diesen sogar, war er doch das Einzige, was er aus jenen Jahren herübergerettet hatte, in denen sein Vater noch lebte. Pedro erzählte mir von einem Bild, von einer gemalten Kindheitserinnerung. Es zeigte den Vater am Ufer eines Sees, wie er dem im Wasser stehenden Kind ein Boot mit Spielsachen zuschieben möchte, das umkippt.
»Weißt du«, sagte Pedro, »ich kann es verstehen. Aber nicht verzeihen.« Was genau es sei, das er verstehen könne, wollte ich wissen.
»Eine unbewaffnete Gruppe anzugreifen. Es ist so naheliegend, das eigene Selbstbewusstsein zu stärken, indem man Schwächere zerstört. Gewalt gegen Frauen, das ist dasselbe.« »So kann man es erklären, aber es ergibt keinen Sinn«, sagte ich. »Nichts hat Sinn!«, rief er.
Pedro legte seinen Stift aus der Hand. »Vielleicht«, sagte er nach einer Weile, »wiederhole ich mit meiner Unverzeihlichkeit die Haltung der Täter. Ich weiß es nicht, ich denke das zum ersten Mal. Aus Angst, dass diese Erfahrung sich wiederholt: abgewiesen zu werden bis in die letzte Konsequenz, den Tod.« Er schaute mich an, seine grünen Augen hatten sich tiefer in die Höhlen gezogen, blickten müde.
Beim Abschied verschwand er noch einmal in den Untiefen seiner Räume und kehrte mit einem kleinen Heftchen zurück, das von ihm geschriebene Essays enthielt. Während sie zu Hause in dicken Jacken durch die Straßen liefen und sich bei jeder Gelegenheit über den »Weihnachtsstress« beklagten, saß ich im Haus meines Cousins neben einem ratternden Ventilator und las Sätze wie diese: »Ich schlage vor, dass wir uns die Macht über die Imagination zurückholen, dass wir damit beginnen, die Zukunft neu zu träumen ohne Angst, uns zu irren. Wir denken oder denken nicht, handeln oder handeln nicht, kämpfen oder kämpfen nicht – die Leerstelle wird immer von denen besetzt, die eindeutig Position beziehen. Wenn wir nicht denken, wird unser Kopf von den Ideen anderer besetzt, verschenken wir den Raum unseres freien Willens.«
Der Katalog und das Heftchen, diese beiden Pedro-Werke, die auf den ersten Blick so unterschiedlich wirkten, gehörten zusammen. Sein Vertrauen in die Generation von Europäern, der er und seine Familie zum Opfer gefallen waren, war gebrochen, nicht aber das in die Möglichkeiten der Menschheit. Pedro suchte nicht die Aussöhnung mit der Vergangenheit, sondern die mit der Zukunft.
»Seit der Renaissance wird Fortschrittlichkeit mit Technologie gleichgesetzt«, schrieb er. »Die Elektronik und die billige Energie haben die Arbeit und die Lebensweise der Menschen verändert. Aber verwechseln wir das doch bitte nicht mit Fortschritt, der nur dann gegeben ist, wenn der Mensch in seiner Menschlichkeit voranschreitet, wenn er den anderen wahrnimmt und zu teilen lernt.«
Zuerst erschienen in: Suhrkamp Theater Magazin 2019