Ich habe keine Verwandtschaft in Nordkorea, meine Familie lebt über den Süden der Halbinsel verstreut. Ein Onkel, der älteste Bruder meines Vaters, ging mit 18 Jahren als Soldat im Korea-Krieg verschollen. Er soll laut einer Familienlegende im Norden ein glückliches Leben als General führen; wie so viele Legenden erweist sich auch diese als unglaubwürdig: Selbst wenn er es geschafft hätte, sich vom Stigma eines Anti-Kommunisten zu befreien, wäre es doch schwierig gewesen, das Regime all die Jahre zu überleben.
Wie die Mehrheit aller Koreaner kenne ich Korea nur geteilt, die Teilung fühlt sich jedoch nicht mehr wie eine vorübergehende an, sondern wie eine endgültige. Das war nicht immer so: Als Kind ging ich automatisch davon aus, einmal eine Wiedervereinigung mitzuerleben. Sämtliche Geschichten meiner Eltern über Südkorea begannen und endeten stets mit dem Happy End, der Wiedervereinigung. Auch das hat sich geändert. Inzwischen ist mein Vater gestorben, und meine Mutter glaubt schon lange nicht mehr daran, dass es ein vereintes Korea geben wird; manchmal habe ich den Eindruck, sie fürchtet sich davor. In ihrer Furcht ist sie europäischer als ihre Landsleute, die von den Drohungen Kim Jong Uns schon so abgestumpft sind, dass sie sie fast nicht mehr zur Kenntnis nehmen.
In den letzten Monaten erreichte der Nordkorea-Konflikt ein neues Stadium: Ende Juli hieß es, Hawaii und Alaska bereiteten sich auf einen Atomangriff aus Nordkorea vor, die Namen und Reichweiten der Raketen, die Kim Jong Un abschoss, wurden länger und größer und die Militärmanöver, mit denen Trump antwortete, bedrohlicher. Anfang letzter Woche rief der UN-Sicherheitsrat die bis dato schärfsten Wirtschaftssanktionen aus, die diesmal von China und Russland unterstützt wurden – was prompt Racheschwüre aus Nordkorea nach sich zog sowie einen verbalen Ausfall Trumps (Stichwort »fire and fury«). Dies wiederum führte zu einer neuen Drohung (wie Nordkorea den US-Militärstützpunkt in Guam mit vier Raketen zerstören würde).
Kim ist gelungen, was seinem Großvater und Vater nicht gelungen ist: Er hat aus einem (anfänglichen) Bruderzwist einen ausgewachsenen internationalen Konflikt gemacht. Ein Krieg zwischen den USA und Nordkorea wird immer wahrscheinlicher, und in diesem Szenario gibt Kim den perfekten Bösewicht ab. Wenn man sich jedoch zu den Wurzeln dieses Konflikts durchgräbt, macht man die interessante Entdeckung, dass es in der historischen Entwicklung des Nordens und Südens Parallelen gibt: In Nordkorea entstand nicht lange nach den ersten freien Wahlen eine als Demokratie getarnte, von ehemaligen Militärs bemannte Regierung, die diktatorische Züge hatte. Im Süden dauerte es etwas länger, bis das Militär übernahm. 1961 putschte sich General Park Chung-hee an die Macht, die er bis zu seiner Ermordung 1979 nicht mehr abgab; auch er versuchte anfangs, den Schein einer Demokratie zu wahren.
Park Chung-hee und Kim Il-sung waren beide Soldaten, die sich gegen Großmächte zu behaupten hatten, Park gegen die USA und Kim gegen die Sowjetunion. Und beide kamen zu dem Schluss, dass sie sich Waffen beschaffen mussten, die sie im wahrsten Sinne des Wortes unangreifbar machen würden. Park begann 1974 ein Atomwaffenprogramm, das jedoch von Henry Kissinger gestoppt wurde (durch die Zusage von Hilfsgeldern). Von Kim Il-sung ist dergleichen nicht bekannt, doch sein Sohn Kim Jong-il startete 2004 ein ebensolches Programm, das er dazu nutzte, um »Hilfsgelder« zu erpressen.
Park und Kim Il-sung waren fast gleich alt, Park bloß 5 Jahre jünger. Beide gelten als »Staatsgründer«, Kim als »Gründer« des Staates Nordkorea, Park als Begründer des »modernen Korea«. Kim begann seine militärische Karriere schon sehr früh, arbeitete sich in den 1930er Jahren bis zum Guerilla-Führer hoch. Park entschied sich ebenfalls für eine militärische Laufbahn, im Gegensatz zu Kim absolvierte er aber die Militärakademie und diente im Zweiten Weltkrieg dem japanischen Kaiser.
Wie das Kim-Regime versuchte auch Park, die Südhälfte Koreas vom Rest der Welt abzuschirmen. Die Ausfuhr von Informationen wurde strengstens kontrolliert. Wollte man zwischen 1961 und 1979 als Südkoreaner ausreisen, wurde man genauestens überprüft, ehe man einen Reisepass ausgestellt bekam — oder eben nicht. Kim Il-sung war allerdings besser darin, die nördliche Landeshälfte abzuschotten, Park war zu sehr von amerikanischen Hilfsgeldern abhängig, als dass er den Süden hätte vollkommen abkapseln können. Der Norden hingegen war ohnehin durch den Kalten Krieg und seine Allianz mit der Sowjetunion und China isoliert, die totale Isolation somit nur ein kleiner (letzter) Schritt hin zu einer totalen Diktatur.
Ich weiß nicht, wann genau Kim Il-sung die Idee kam, Ausbeutung zum Fundament der nordkoreanischen Wirtschaft zu machen. Als ehemaligem Guerilla-Führer war es ihm vermutlich mehr als vertraut, Verrat zu bestrafen und Loyalität zu belohnen. Doch einen nicht gerade kleinen Teil der Bevölkerung zu Verbrechern zu machen, nicht, weil sie etwas verbrochen haben, sondern um den Vorrat an Personal konstant hoch zu halten, das unentgeltlich arbeitet und dabei nicht einmal gut ernährt wird, sprich: billig in der Erhaltung ist, ist weit weg von den Idealen einer gerechten Gesellschaft, die noch 1948, im Gründungsjahr Nordkoreas, südkoreanische Studenten und Intellektuelle dazu brachten, in den Norden abzuwandern.
Die Liste der Menschenrechtsverbrechen in der Volksrepublik ist lang, die wirklich interessante Frage aber ist: Hätte sich Nordkorea ohne die bereits existierende Isolation zu einem totalitären Staat entwickelt? Der Süden war vollständigen in westliche Kooperationen eingebettet: Mit den USA und Japan gab es Wirtschafts- und Bildungsabkommen. Die Demokratisierung wäre ohne das Christentum, das sich ab dem 19. Jahrhundert ungehindert auf der gesamten Halbinsel verbreiten konnte, nicht möglich gewesen; in Nord-Korea wurden Christen gewaltsam vertrieben oder »beseitigt«, solche »Schwachstellen« konnte sich das Regime nicht leisten. Park konnte Missionare bzw. christliche Hilfsgruppen nicht verbieten, er musste sie ins Land lassen. Ohne deren Unterstützung hätte es die Studentenbewegung wesentlich schwieriger gehabt, womöglich wäre sie ergebnislos verpufft. So leisteten die vielen Studentendemos, die bereits 1964 begannen, ihren Beitrag zu einer pro-westlich orientierten Demokratie, wie sie Südkorea heute ist.
Der Verdacht lässt sich nicht von der Hand weisen: Kooperation ist unerlässlich für eine offene, freie Gesellschaft, für Demokratie, für die Werte, die wir uns heute gezwungen sehen, zu verteidigen. Womöglich wären wir nicht in der Situation, sie verteidigen zu müssen, hätten wir früher, besser, anders kooperiert? Denn Kooperation kann nur gelingen, wenn beide auf Augenhöhe verhandeln, wenn nicht einer wichtiger, mächtiger ist als der andere. Oder wenn die Werte des einen als wertvoller erachtet werden, als die des anderen. Auch wenn dies der Westen nicht gerne hört, er behandelt seine Kooperationspartner aus der nicht-westlichen Welt selten wie gleichberechtigte Partner. Gleichheit, ein unersetzlicher Wert der westlichen Welt, gilt nicht für alle. Die Interkontinentalraketen sollen Kim Jong Un diese Gleichheit verschaffen sowie einen Platz am Verhandlungstisch. Der Platz, den er anstrebt, muss jedoch gleicher sein, als der, der ihm zugestanden würde, besäße er keine. Würde Kim tatsächlich das Atomprogramm beenden, beendeten die USA und Südkorea ihre Militärmanöver? Sind Nordkoreas Raketentests wirklich »nur« eine Antwort auf die Angst vor einer US-amerikanischen »Invasion«? Ich bezweifle es.
Ich würde eine totale Demilitarisierung der koreanischen Halbinsel begrüßen, einen Friedensvertrag, der den Kriegszustand endgültig beendet. Doch in den Kreis der Verhandelnden dürften nur die Koreas, die USA, China, Russland und Japan müssten sich im Interesse der De-Eskalation aus diesen Gesprächen heraushalten. Das Schicksal Nord- und Südkoreas sollte endlich, 64 Jahre nach Ende des Koreakriegs, nicht von Außenstehenden diktiert werden, schon gar nicht von Großmächten, nur dann wäre eine wirkliche Versöhnung möglich. Aber Kim Jong Un hat es abgelehnt, mit dem Süden zu verhandeln, bereits nach 5 Minuten war das Gespräch zwischen den Außenministern der Koreas auf dem ASEAN-Gipfel beendet. Er greift lieber auf das übliche Arsenal an Drohungen zurück. Damit hat er bewiesen, dass er es verdient, eine Witzfigur zu sein. Er ist ein gewöhnlicher Krimineller mit einer außergewöhnlichen Verantwortung, der dabei ist, sein Land völlig zu isolieren.
Ich habe keine Verwandtschaft in, aber eine Verwandte aus Nordkorea. Meine Tante floh als Jugendliche kurz vor Ausbruch des Koreakriegs in den Süden, ihr Vater und zwei Schwestern blieben allerdings zurück. Sie wollten nach Kriegsende nachkommen, doch die Teilung machte ihre Pläne zunichte. Eines Tages, mehr als 30 Jahre nach der Flucht, erhielt meine Tante einen Anruf von einer Frau, die behauptete, ihre Nichte zu sein. Sie sei nun in Südkorea, erklärte die fremde Stimme, und sie hoffe darauf, das einzige Familienmitglied zu treffen, das sie im Süden noch habe. Viele Gedanken seien ihr in diesem Moment durch den Kopf gegangen, erzählte meine Tante später: Konnte dies tatsächlich die Tochter ihrer Schwester sein? Was, wenn es sich um eine Betrügerin handelte, die sie nur um eine größere Summe erleichtern wollte? Was, wenn es doch ihre Nichte war? Wie hatte sie nach Südkorea fliehen können? Und war sie allein gekommen?
Meine Tante legte wortlos auf. Sie stellte nicht eine Frage. Bis heute ist sie davon überzeugt, dass sie von einer Betrügerin angerufen wurde. Nur die Entrüstung, die bis vor kurzem in ihrer Stimme mitschwang, wenn sie davon berichtete, ist leiser geworden – wie ihre Hoffnung kleiner geworden ist, ihre Heimat jemals wiederzusehen.
Konflikt und Kooperation ist die Kurzfassung eines Beitrags, der am 26. August 2017 in der österreichischen Tageszeitung Die Presse erscheinen wird.