Sie hatte die Wegbeschreibung auf die Rückseite einer Quittung gekritzelt. Ein Kilo Äpfel, ein Liter Milch, ein Kilo Reis, ein Liter Mehrfruchtsaft, ein Kilo Bananen, ein Kilo Karotten. Sie musste am Wochenanfang einkaufen gewesen sein, entweder an einem Montag oder einem Dienstag – Karotten, Äpfel und Bananen kaufte sie immer am Anfang der Woche.
Ich schlug die Adresse des Friedhofs im Stadtplan nach; ich wusste nur, dass er sich in der Nähe ihrer Wohnung befand; sie hatte mir oft von ihren Nachmittagsspaziergängen erzählt, davon, wie weich sich das Gras zwischen den Grabsteinen angefühlt, wie überraschend warm das Licht der späten Sonne auf ihren Händen gebrannt habe, wie lang die Schatten gewesen seien, die die steinernen Engel auf die Erde geworfen hätten. Ich war überrascht, wie unsentimental das Gelände auf mich wirkte, ich hatte es mir verträumter vorgestellt: Die Gräber schienen aus einem Pflichtbewusstsein heraus dekoriert worden zu sein, die Blumensträuße befanden sich noch in den Plastikverpackungen, die Pflanzen in den Töpfen waren verdorrt und die Schleifen starr vor Staub.
Meine Mutter hatte mich gebeten, zwei Grabstellen zu besichtigen; schon vor Jahren hatte sie beschlossen, das Grab meines Vaters in Süd-Korea nach Österreich zu verlegen. »Warum wollen Sie das tun?«, fragte ich sie (in Korea werden Eltern gesiezt), »dürfen Sie das überhaupt?« Sie nickte eifrig. Im Handgepäck wäre es erlaubt, seine Asche zu transportieren, nicht aber im aufgegebenen Koffer. »Warum nicht im Koffer?«, fragte ich weiter. Sie schüttelte den Kopf, das wisse sie auch nicht.
Während ich versuchte, die abtrünnigen Steinchen, die vom Kiesweg in meine Sandalen gehüpft waren, durch die Zehen hindurch wieder ins Freie zu schütteln, las ich die Namen auf den Grabsteinen: Müller, Huber, Kletzian, Doppel, Mayer, Kratochwil. Kim stach heraus, Kim Soo-Pyung noch mehr. Würde sich, fragte ich mich, sein Grabstein in diese Umgebung einfügen? Oder wäre er vollkommen deplatziert? Würden sich die Besucher über seinen Namen wundern? Glaubten sie, dass Kim der Vorname wäre oder der Nachname? Und wäre ein Wiener Steinmetz in der Lage, die koreanischen Schriftzeichen fehlerfrei zu übertragen? Wenn nein – würde Mutter den Makel hinnehmen oder sich auf eine Art und Weise beschweren, die es mir unmöglich machen würde, denselben Steinmetz mit ihrem oder dem Grabstein meines Bruders zu beauftragen? Vater hatte nie die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen. War ein Migrant, wenn auch ein toter, in einem Land akzeptabel, das sämtliche Pässe und Übergänge schließen wollte? War mein Vater überhaupt ein Migrant? Er war schließlich nicht emigriert, jedenfalls nicht selbst.
Ich hatte versucht, Mutter ihr Vorhaben auszureden. Es erschien mir falsch, einen Menschen (selbst wenn es bloß seine sterblichen Überreste waren) gegen seinen Willen (selbst wenn man in diesem Fall weder von Wille noch von Geist sprechen kann) in ein Land zurückzubringen, dem er den Rücken zugekehrt hatte – trotz Frau und Kindern, die sich geweigert hatten, ihn zu begleiten. Für Vater war die Abreise aus Wien endgültig gewesen; er hatte eine Wohnung in Süd-Korea gekauft und eine Haushälterin angestellt.
Ich lief alle Wege ab, alle Pfade im Bereich X, XII und XXV, so wie es Mutter aufgeschrieben hatte, und hielt nach freien Grabstellen Ausschau. Es gab einige. Begraben zu werden, sei vielen nicht mehr wichtig, erinnerte ich mich an ihre Worte. Das sei gut, hatte sie mit einem Lächeln erklärt, dann sei die Auswahl größer. Ich blickte auf ihre Notizen, darauf festgehalten auch der Weg zu ihrer Lieblingsgrabstelle: »Von der Mitte aus, dort, wo zwei Bäume stehen, ist es das sechste Grab …« Zwei Bäume? Wo auch immer ich hinsah, entdeckte ich Bäume in Paaren – auf diesem Friedhof schien es sie ausschließlich paarweise zu geben. Ich gab die Suche auf. Wer weiß, ob sie es überhaupt schaffen würde, seine Asche durch den Zoll zu bekommen. Bei der Fluggesellschaft hatte man ihr dringend geraten, den Ausgang mit der grünen Markierung Nichts zu verzollen zu nehmen, aber sie hatte noch immer die Angewohnheit, Aufschriften in deutscher Sprache zu übersehen, als handle es sich bei den Buchstaben lediglich um Ornamente. Ich stellte mir vor, wie sie die Existenz der Holzurne erklären würde. »Ja«, würde sie sagen, »ich habe mich für das Holzmodell entschieden, weil es besser für die Umwelt ist. Ich habe gehört, dass es mit der Zeit verrottet, und eines Tages befände sich im Grab nichts anderes als Erde. Allein schon deswegen habe ich nichts zu verzollen.« »Aber gnädige Frau«, würde der Zollbeamte antworten, »lassen Sie mich doch einen Blick in die Urne werfen. Sie könnten ja weiß Gott was nach Österreich schmuggeln.« Sie würde sich natürlich weigern, die Urne beschützen, und so ginge es eine Zeit lang hin und her. Würde man sich schließlich einigen? Würde sie die Urne verzollen müssen? Wenn schon nicht den Inhalt, dann wenigstens die Verpackung?
Ich setzte mich auf die Bank und schlug die Zeitung auf, die jemand absichtlich vergessen haben musste; Trump hatte wieder einmal China beleidigt, die Beweise gegen Putins Hacker mehrten sich, Kim Jong Un hatte eine weitere Rakete abgeschossen. Ich blickte auf; der junge Baum und sein Zwilling spendeten wenig Schatten, die Blätter waren nicht dicht genug für ein Laubdach. Es war ein heißer Tag, ein richtiger Sommertag Anfang Mai, und während ich wünschte, ich hätte mich mehr dem tatsächlichen und weniger dem theoretischen Wetter entsprechend angezogen, meinte ich den Grund zu erkennen, warum mich der Umzug des väterlichen Grabes melancholisch stimmte: Mir schien, als würden meine Eltern wieder ins Exil gehen, ein zweites Mal.