Es ist halb sieben Uhr morgens, die Sonne steht nicht hoch genug, nicht für yeonhui-ro, die noch im Schatten liegt. Ich kreuze sie, gehe bergauf zum grünen Straßenschild, beoseu, steht auf ihm in koreanischen Buchstaben geschrieben: Bus, koreanglisch ausgesprochen: bosu. Es ist windig, der Wind zerrt an meinen Haaren, so verlassen kenne ich Seoul nicht, niemand ist zu sehen außer mir; ich sehe auf meine Armbanduhr, schon zehn Minuten, ich beschließe, nicht länger zu warten, sondern zur U-Bahn-Station zu gehen, eine halbe Stunde wird es dauern, bergab, immer bergab.
Ich komme an einem Geschäft vorbei, sagyejeol stjudio nennt es sich, Vierjahreszeiten-Studio. Familienporträts sind in der Auslage, aufwändig ausgearbeitet und gerahmt, auf dem größten Bild sind Eltern zu sehen, ihre zwei verheirateten Kinder samt Ehegattinnen oder Ehegatten und deren Kinder, drei Generationen, acht Personen insgesamt. Das kleinste Bild zeigt ein Ehepaar, er, Anfang sechzig, steht hinter ihr, sie nur etwas jünger, beide in der koreanischen Festtagstracht. Das Bild aber, das mich am meisten fesselt, ist jenes daneben: ein Ehepaar mit ihren drei Kindern, zwei Töchtern und einem Sohn, alle drei erwachsen, ich schätze sie auf Anfang zwanzig, die Eltern auf Mitte fünfzig. Alle sitzen, nur eine Tochter, es könnte auch die Schwiegertochter sein, steht. Sie sieht weder dem Vater noch der Mutter ähnlich, und ihre rechte Hand liegt auf dem Rücken des Vaters, ihre linke auf der Schulter des Sohnes. Sie beugt sich zu den sitzenden Eltern, beugt sich etwas ins Bild, als müsste sie die Verbindung zu den Sitzenden durch Körperkontakt herstellen. Sie trägt als Einzige eine weiße Bluse, alle anderen sind in dunkle Farben gekleidet, die Mutter in eine dunkelgrüne koreanische Festtagstracht, der Sohn in einen fast schwarzen Pullover und Jeans, die Tochter in einen dunkelblauen Blazer mit passender Hose und der Vater in einen blauen Anzug mit rötlichbrauner Krawatte. Vielleicht interessiert mich die Frau, weil sie eine Position bekam, die auch ich oft einnehme: derjenigen, die ins Foto hineingenommen wurde. Vorher gab es eine kurze Diskussion, ob es auch ohne sie gehen würde, dann einigt man sich und lässt sie gnädigerweise herein. Sie wird nicht gefragt, ob sie eigentlich auf dem Bild sein möchte oder nicht.
Passenderweise bin ich auf dem Weg zu einer Familie, denn es ist chuseok, der koreanische Erntedank- und Familienfesttag. Unpassenderweise ist sie – aus traditionell koreanischer Perspektive – nicht meine Familie, denn ich wurde vom Bruder meiner Mutter eingeladen, und die Tochter, so sahen es die alten Koreaner, ist nicht mehr Teil der Familie, sobald sie heiratet, sie gehört zur Familie des Mannes. Ich bin also auf dem Weg zu einer Familie, die nicht wirklich meine Familie ist, sondern die meiner Mutter, aber auch ihre nicht mehr. Meine kenne ich nicht, aber ihre kenne ich auch nicht, was macht es also für einen Unterschied, ob es meine ist oder nie war oder nicht mehr ist, denke ich, während mich der Bus überholt; ich bin zu sehr damit beschäftigt, meinen Magen zu beruhigen, seit meiner Kindheit grusle ich mich vor diesem Feiertag, denn ich kenne ihn nur als den Geistertag.
Als Kind fürchtete ich mich davor, wenn Mutter das koreanische Kochbuch aus der Küchenschublade hervorkramte, aus jener Schublade, die nur selten geöffnet wurde, denn in ihr befanden sich die verschmähten Dinge: Kerzenstümpfe, Bleistiftstümpfe, uralte, verformte Ginseng-Bonbons, zerbröselnde Gummiringe und leere Streichholzschachteln – und die Kochbücher, Hefte aus gelbem Papier, das sich sandig anfühlte, so aufgeraut war die Oberfläche, und die Schrift schien in dieses Gewebe gestanzt worden zu sein, ich konnte die Buchstaben fühlen, wenn ich über die Sätze strich. Ich mochte dieses Buch, denn es hatte so viele Eselsohren, wie sie nur wirklich wichtige Bücher haben; es war verbogen, gewellt (nassgespritzt und rund getrocknet), es roch nach Gewürzen, Paprikapulver (in den ersten Jahren nach dem Umzug nach Wien war es der Chili-Ersatz der Familie, aus dem einfachen Grund, weil die Farbe stimmte), Chilipulver, Ingwer, Sesamöl und Knoblauch, die paar Spritzer Sojasauce standen von der Seite ab und bildeten ein Relief der anderen Art.
Nur ein Mal im Jahr suchte Mutter nach dem Kochbuch, und weil sie es nie finden konnte, obwohl es sich immer am selben Ort befand, rief sie mich früher oder später, um ihr bei der Suche zu helfen. Von diesem Moment an wusste ich, dass es für mich kein Entkommen gab, ich war gefangen, die Küchensklavin, ich würde mit ihr einkaufen gehen und anschließend in Kochtöpfen und Pfannen herumrühren müssen, ich würde erklärt und gezeigt bekommen, wie man den Kochlöffel, der keiner war, sondern der Esslöffel von Frau Müller aus Braunschweig, die ihn uns geschenkt hatte, nachdem sie unsere koreanischen Löffel gesehen und für Dessertbesteck gehalten hatte, richtig benutzt, und alle meine Gebete – in diesen Stunden wollte ich an alles glauben, auch an eine höhere Macht, Hauptsache, sie würde mich aus der Küchenhölle retten – würden nicht fruchten, ich würde den ganzen Nachmittag in diesem engen Raum mit Blick auf eine kurzgewachsene Birke verbringen, gegen die ich, wie ich später entdeckte, allergisch war.
Das Menü, das Mutter zubereitete, bestand immer aus den folgenden Speisen: ein Fleischgericht, scharfes, gedünstetes Rindfleisch, eine Variante des bulgogi, ein großer gebratener Fisch, möglichst im Ganzen mit Kopf und Flossen, viele kleine kurz angebratene, getrocknete Fischlein mit einem Schuss Sojasauce und etwas Zucker, diverse Pflanzen, blanchiert und in Knoblauch, Salz und Sesamöl mariniert, meistens Stiele, die sich beim Kochen braun verfärbten, eine große Portion gebratene Glasnudeln mit Karotten, Brokkoliröschen, Erbsen, Fleischhäufchen und Spiegeleistreifen und schließlich kleine Eierspeisen, im Touristenhandbuch auch Pfannkuchen genannt, tatsächlich haben sie mit Pfannkuchen wenig gemeinsam: Man nehme etwas Reismehl, mische es mit einem Ei und Wasser, tunke viele gewaschene und halbierte Jungzwiebeln in den Teig und brate die Omeletts in der Pfanne mit etwas Öl. Mutter benutzte immer Weizenmehl statt Reismehl, darüber jammerte sie jedes Jahr, Reismehl sei in Wien so teuer, normales Mehl schmecke zwar schlechter, aber, und dann seufzte sie, wenn man keine Zähne habe, müsse man eben mit dem Zahnfleisch auskommen. Koreanische Sprichwörter gehörten auch zu diesem Nachmittag.
Sobald die Gerichte fertig waren, richtete sie sie auf den schlichtesten weißen Porzellantellern an, die wir besaßen, währenddessen musste ich den Couchtisch wischen, die Silberlöffel und Silberstäbchen polieren und anschließend die Speisen ins Wohnzimmer tragen.
Dann kam der Teil, vor dem ich mich so fürchtete: Mutter servierte den Reis, wir knieten uns auf den Boden und verbeugten uns drei Mal, dann sagte sie, lassen Sie es sich gut schmecken, Vater, lassen Sie es sich gut schmecken, Mutter, Ihre Enkelin Anna hat mitgeholfen, deswegen sind es dieses Jahr so viele Gerichte, und wir verließen den Raum, löschten das Licht, und ich durfte kein Wort sagen, bis meine Großeltern gekommen waren, von den Speisen gegessen hatten und wieder gegangen waren. Natürlich glaubte ich nicht wirklich, dass die Toten kommen und gehen konnten, wie es ihnen beliebte, wenn auch nur an einem Tag im Jahr, aber als mein Bruder erklärte, die Räucherstäbchen machten dies möglich, der Rauch sei eine Art Geistertor, schien es mir doch möglicher; ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn ich einen dabei ertappt hätte.
Auch dieses Jahr, bei meinem Onkel und meiner Tante in Seoul, gab es das bizarre Gespräch mit den Verstorbenen, das in mir das Gefühl aufkommen ließ, ich wäre die Einzige, die sie nicht sehen konnte, alle anderen verhielten sich so, als wären meine Großeltern im Raum, nur noch nicht hier. Zuvor aber waren die Verbeugungen an der Reihe, und diese fanden auf Anweisung meiner Tante in Gruppen statt: zuerst die Männer, der Sohn, die Enkel und die Urenkel, dann die Frauen. Und wie auf Stichwort die Diskussion: Darf ich mich, die eigentlich keine Enkelin mehr ist, mitverbeugen oder nicht? Wenn ja, wann? Zu den Ehefrauen passte ich nicht, zu den Urenkelinnen passte ich aber auch nicht. Nach langem Hin und Her einigte man sich, ich solle mich mit den Ehefrauen verbeugen, in der letzten Reihe, schräg hinten, hier würden mich die Geister nicht sofort entdecken – ich wurde nicht gefragt, ob ich eigentlich im Bild sein wollte oder nicht.