Nach welchem System ordnen Sie Ihre Bücher?
Mein Mann und ich wohnen seit über 20 Jahren zusammen. Damals haben wir unsere Bücherschätze zusammengeworfen und am Anfang hochkomplizierte Ordnungssysteme angewendet, um zwei recht unterschiedliche Sammlungen zu vereinen. Auf den Ikea-Regalen der Studentenwohnung wurde vieles ausprobiert: Ordnung nach Epochen, nach Sprachen, nach Themen, nach Autoren, die zusammen passen, die also in unseren Köpfen Familien bilden. Eine Zeitlang hatte ich meinen Buchbesitz sogar auf Katalogkarten verzettelt, besonders die Fachliteratur. Ein Hardcover oder gar ein Bildband war eine Anschaffung, auf die wir hinsparten. Und natürlich trieben wir uns in Antiquariaten, auf Flohmärkten und bei fliegenden Buchhändlern auf dem Campus herum.
Inzwischen sind wir nicht nur weniger gierig, sondern auch weniger pedantisch. Gerne und häufig benutze ich Stuttgarts Landes- und Stadtbibliotheken. Beide konnten von meinen Überziehungsgebühren sicher schon ein paar Neuanschaffungen machen. Zu Hause ordnen wir alphabetisch. Doch immer wieder entsteht Wildwuchs, weil wir nicht vollständig damit aufhören können, Bücher zu kaufen, obwohl sie uns wirklich Platzprobleme bereiten. So trifft man plötzlich auf wuchernde Stapel, die unversehens im Schlafzimmer, Flur oder Wohnzimmer emporwachsen oder sich quer über ihre ordentlich einsortierten Brüder legen.
Außerdem gibt es ein Sonderregal, die Giftecke. Hier ist zum Beispiel Platz für Nazi-Literatur, die ich nicht unter meinen »richtigen« Büchern haben will. All diese Machwerke habe ich gelesen, weil sie mir dabei halfen, etwas besser zu durchschauen, wie die Menschen damals dachten, was sie antrieb, wie sie sich selbst verstanden und im Reinen mit sich und ihren grausamen Taten, ihrem verqueren Menschenbild blieben. Diese Recherche war für Das Kleid meiner Mutter von großer Bedeutung.
Ich besitze die gesammelten Werke einiger Dichter von Hitlers Gottbegnadeten-Liste, Hans Blunck, Erwin Guido Kolbenheyer und Ina Seidel. Es sind sehr schlechte Schriftsteller, die zu Recht vergessen sind, aber die Bildungsbürger der Nazizeit lasen sie mit Begeisterung, und diese »Kollegen« trugen ihren Teil dazu bei, die Herrschaft des Nationalsozialismus zu festigen. Fast noch fataler sind die Ratgeber zur Kindererziehung, populärwissenschaftliche Werke über Rassenkunde und Geschichte, Liederbücher, selbst Kochbücher oder ein Bildwörterbuch der deutschen Sprache. Ich habe durch sie eigentlich mehr über das Dritte Reich gelernt als durch die Fachliteratur, denn sie spiegeln unverblümt den Alltag.
Für diesen Beitrag im Logbuch Suhrkamp habe ich die ursprüngliche Ordnung unserer Bücherwände gesprengt und ein kleines Experiment gemacht. Es war mir zu langweilig, Regale zu fotografieren.
In meinem neuen Roman Das Kleid meiner Mutter retten sich der Schriftsteller Gert de Ruit und seine spanische Übersetzerin Carmen Salamanca vor einer Flutwelle auf den Dachboden. Dabei versuchen sie, außer sich selbst auch eine große Anzahl von Büchern dort oben vor dem Wasser in Sicherheit zu bringen. Dies geschieht nicht etwa aus Sentimentalität, sondern ist lebenswichtig: die Exemplare stammen aus dem Lager von Carmens Mann, der Antiquariatsbuchhändler ist. Es handelt sich also um die Existenzgrundlage dieses Haushalts. De Ruit stapelt die Bücher aus Platzgründen zu Mauern und baut so ein kleines Haus, hinter dessen Papierwänden er sich mit Carmen verkriecht.
Ich wollte das gerne selbst einmal ausprobieren und habe diese Gelegenheit genutzt, mein Bücherhaus nach dem Muster einer persönlichen Chronologie hochzuziehen. Das Fundament bilden Kinderbücher, Märchen, die Bibel, Heiligenlegenden, Comics, aber auch Teenager-Leidenschaften wie Horror- und Kriminalromane. Darauf wächst dann eine kleine Auswahl meiner Lieblinge zu Türmchen hoch: mittelalterliche Epen und Lyrik, die ich während des Studiums kennengelernt habe, Thomas Hardy und Theodor Fontane, zwei leuchtende Sterne an meinem Firmament, spanische und deutsche Romantiker, G.A. Bécquer und E.T.A. Hofmann, für den amerikanischen Süden steht Flannery O’Connor, für New York J.D. Salinger, auch viel deutsche Gegenwart, weil es mich schon interessiert, wie die Kollegen arbeiten.
Dies ist nur eine kleine Auswahl, und die Frage, welches Buch ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde, könnte ich nicht beantworten. Es gibt nicht »das Buch«, nur »die Bibliothek«. Diese ist im Idealfall unendlich und wächst unverdrossen, ohne Rücksicht auf menschliche Lebens- und Lesezeit.
Welches Buch lesen Sie gerade?
Da ich extrem schnell lese, bin ich immer an mehreren Bücher gleichzeitig. Im Augenblick sind das Zone One von Colson Whitehead, die Early stories von Truman Capote, die gesammelten Novellen von Guy de Maupassant, der Gedichtband Voyage of the Sable Venus von Robin Coste Lewis und schließlich ein Kriegsroman von Siegfried Lenz, den er als sehr junger Mann schrieb und der nie gedruckt wurde: Der Überläufer.
Wie weit reicht Ihre Sammlung zurück?
Tatsächlich bis in die Kindheit. Als Zehnjährige habe ich mir sogar ein prätentiöses Exlibris angefertigt und meine Bücher nach Größe und Farbe sortiert; hiervon gibt es immer noch ein paar Bände mit Trost- und Heilfunktion, die ich bei jedem Umzug mitgeschleppt, später meinen eigenen Kinder vorgelesen und jetzt, da diese schon Teenager sind, mit ihnen gemeinsam in ein besonderes Regal einsortiert habe. Neben Kaut, Ende, Preußler und Maar, also den üblichen Klassikern, steht dort ein Bilderbuch meiner Mutter aus den 50er-Jahren: Karlchen bei den Affen von Olga Ptácková-Machácková. Das ist der reinste Adenauer-Struwwelpeter, obwohl das Werk aus der DDR kommt: Dieser arme Knabe Karlchen entwischt seiner Mutter auf einem fliegenden Teppich, weil er keine Lust hat, sich zu waschen und wird bei einer Affenfamilie in der Südsee schlimmer geschrubbt als je zuvor von Menschenhand. Die ganze Handlung ist mit Püppchen nachgestellt und in Schwarz-Weiß fotografiert, wirklich lustig. Meine Mutter mochte das Buch nicht; als Kind dieser Zeit waren Drill und Disziplin für sie bittere Wirklichkeit, aber ich habe es geliebt und meine Jungs ebenfalls.
Welche Bücher liegen Ihnen besonders am Herzen?
Das Giftregal ausgenommen liebe ich alle meine Bücher und bin gerne von ihnen umgeben, fühle mich durch sie behütet und geborgen. Besonders faszinierend finde ich allerdings die älteren Exemplare, wenn sie, vom Inhalt abgesehen, etwas zu erzählen haben. Dazu gehören Bücher meiner Eltern aus deren Kinderzeit, Bücher der Großeltern und anderer Verwandter. Die Benutzerspuren darin sind wunderbar, sie offenbaren etwas über ihre damaligen Besitzer und deren Schicksale. Das können einliegende Kinokarten, Briefe, Zeitungsausschnitte oder Anstreichungen sein.
Ich habe hier ein Buch ausgewählt, das ursprünglich Gertrud Seitz, meiner Großmutter väterlicherseits gehört hat. Sie wurde 190? als Tochter eines bekannten Stuttgarter Architekten geboren, wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf, war Schauspielerin an der Esslinger Landesbühne und an verschiedenen Fronttheatern, später an einer Stuttgarter Lesebühne – eine schöne Frau mit vielen Verehrern, in der Nachkriegszeit verarmt, schwer krank und ziemlich heruntergekommen. Aus ihrer behüteten Kindheit stammt Aus schwäbischen Gauen. Das Buch enthält eine Erzählung über den 30jährigen Krieg und eine über Friedrich Schiller, beide patriotisch und romantisch zugleich, die vollendete Selbstvergewisserung des schwäbischen Bildungsbürgertums.
Auf dem Titelblatt ist die erste Besitzerin mit Tinte ordentlich eingetragen.
Es folgen mein Vater, der in den Fünfzigern diskret mit Bleistift seinen Namen eingeschrieben hat, und ich, die in den frühen Achtzigern selbstbewusst ihr hässliches fotokopiertes Exlibris hineingeknallt hat.
Von derselben Gertrud Seitz erbte ich eine Sammlung von Kriminalromanen. Die frühesten stammen von 1949. Ich habe sie nicht alle gelesen habe, weil sie meistens sterbenslangweilig sind. Doch Gertrud verschlang Krimis und vertrieb sich mit ihnen vor allem die langen Wartezeiten während der Proben. Man kann hier gut verfolgen, wie sich das Genre entwickelt hat, wer übersetzt wurde, wie diese Bücher ihre Aufmachung änderten, vom Heftchen zum Paperback. Gertruds Spuren sind überall. Nur kurz hieß sie »Hahn«, dann benutzte sie wieder den Künstler- und Mädchennamen »Seitz«. Es wird sichtbar, zu welchen Anlässen sie die Bücher geschenkt bekam und von wem, wo sie Eselsohren als Lesezeichen hineinkniff und wie diese Lektüre kleine Fluchten aus einem sicher nicht einfachen Leben ermöglichte – alle Bände sind vollständig zerlesen.
Welches Buch hat Ihr Leben verändert?
Kein wirklicher Leser und erst recht kein Schriftsteller wird sich, wenn er ehrlich antworten möchte, bei dieser Frage auf ein einziges Buch beschränken können.
Die meisten Kinder haben den Wunsch, nach dem Lesen in die Rolle des geliebten Helden zu schlüpfen. Sie verkleiden sich, werden zu Pippi Langstrumpf, Winnetou oder dem Sams. Ich hingegen wollte schon sehr früh selbst etwas erschaffen, etwas schreiben, das dem glich, von dem ich lesend so hingerissen war. In der Grundschulzeit habe ich Märchen geschrieben und mir immer neue Bücher dazu gewünscht. Heute noch kann ich viele auswendig erzählen, besonders die gruseligen der Brüder Grimm und von Wilhelm Hauff. Dieses Imitieren hat bis in die frühen Zwanziger nicht aufgehört. Ich habe immer wieder versucht, im Stil bewunderter Autoren zu schreiben und so ein Gesellenstück nach dem anderen angefertigt. Ob das nun Else Lasker-Schüler war, Oscar Wilde, Charles Bukowski oder Katherine Mansfield und Carson McCullers, stets gab es neue Veränderungen des Lebens, des Lesens und des Schreibens, bis die Lehrzeit irgendwann zu Ende war und ich diese Art der Übung nicht mehr brauchte. Selbstverständlich lese ich heute noch mit Bewunderung und Respekt, auch oft, um zu lernen, aber nie mehr, um zu imitieren.
Wer soll Ihre Bücher einmal bekommen?
Selbst bin ich keine Sammlerin von der Art, wie man sie auf Antiquariatsmessen trifft. Bücher begeistern mich als lebendige Wesen, als Freunde. Wertvolles gibt es kaum in meiner Bibliothek. Selten bewahre ich etwas auf, das den eigenen Schreibprozess angeht; ebenso pragmatisch empfinde ich die Buchnachlassfrage. Alles, was ich als Schriftstellerin zu sagen habe, findet man in den Büchern, die ich geschrieben habe. Alles, was mich als Menschen ausmacht, wird mit mir verschwunden sein, wenn ich sterbe. Ich verlange nicht von meinen Nachfahren, dass sie sich mit Papierbergen belasten, die ihnen nichts bedeuten. Das finde ich anmaßend. Ich hoffe, meine Kinder werden sich aus der Bibliothek ihrer Eltern die wenigen Bücher heraussuchen, die sie wirklich geliebt haben und dabei vielleicht die Stimmen ihrer ersten Vorleser wieder hören.
Wie sieht/sähe Ihre ideale Bibliothek aus?
Als Studentin habe zunächst in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek meine Seminararbeiten geschrieben, später auch dort gearbeitet, zunächst als Praktikantin, später als wissenschaftliche Hilfskraft in der dortigen, sehr vielfältigen Handschriftenabteilung. Für ein paar Jahre war die öffentliche Bibliothek mein Lebensmittelpunkt, als Benutzerin ebenso wie als Angestellte.
Ich habe früher immer in Bibliotheken geschrieben, zu Hause arbeite ich erst, seit ich Kinder habe. Für mich ist die Bibliothek der ideale Ort schlechthin. Er bietet die Möglichkeit zum vollständigen Rückzug, fast wie in einem Kloster – in Hamburg gab es die sogenannten Waben, winzige abschließbare Arbeitskämmerchen mitten im Lesesaal, die von Doktoranden und Examenskandidaten genutzt werden konnten.
Aber Einsamkeit gefällt mir nicht ununterbrochen; die Tatsache, dass andere Leute um mich herum ebenfalls lesen, schreiben, schlafen, sich quälen oder begeistert Neues entdecken, hat mich immer getröstet und getragen. Die Möglichkeit zum Kontakt, zum Austausch ist vorhanden. Und es tut sehr gut, sich zwischen den Regalen der unterschiedlichen Forschungsgebiete zu bewegen und so neue Impulse zu erhalten. Ich verirre mich gerne bei Medizin, Botanik, Zoologie und Psychologie.
Außerdem treffen so viele unterschiedliche Menschen in Bibliotheken zusammen – von Forschern und Studierenden, den Angestellten bis hin zu denjenigen, die die Bibliothek als Zufluchtsort nutzen, um dem Leben auf der Straße zu entkommen. Dass Bibliotheken diese Leute dulden und nicht vertreiben, finde ich vorbildlich. Die meisten von ihnen lesen auch.
In der idealen Bibliothek müsste es ein paar Sofas geben, die ausschließlich zum Schlafen gedacht sind, dazu mindestens eine sehr gute Cafeteria und vielleicht sogar einen kleinen Supermarkt, um sich tagsüber zu versorgen, außerdem genügend gepflegte Waschräume und reichlich Möglichkeiten, gemeinschaftlich und geräuschvoll zu arbeiten oder sich in die völlige Stille zurückzuziehen.
Erstaunlich gut funktioniert vieles davon in der neuen Stuttgarter Stadtbibliothek. Diese ist zum beliebten Treffpunkt geworden, besonders für junge Leute. Es gefällt mir sehr, sie überall sitzen zu sehen, auch wenn nicht alle in Arbeitsgruppen ackern, sondern Musik hören oder ihre Smartphones benutzen. Sie ziehen sich in die stumme Gegenwart der Büchern zurück, das finde ich großartig.