Was ist ein Bild?
Es kann das Bild von jemandem sein, ein Abbild.
Es kann eine Vorstellung sein, imaginär.
Eine Ab-Bildung: Fotografie, Zeichnung.
Eine Ein-Bildung, Vorstellung: Zeichen eines Zeitpunktes, das dier Betrachterni1 mit Sinn auflädt.
Es fängt mit dem Gefühl einer Gleichzeitigkeit an. Ich finde es in einem Foto, das an jenem Punkt, dem ersten Schritt zu einer Ereignis-Abfolge entstand, ein Bild von der Zukunft, jetzt.
Die Timeline am Bildschirm ist eine Linie abgebildeter Zeit, ein Kontinuum, das sich ausgehend von dem jeweils bezeichneten Zeitpunkt formiert. Das Scrollen als Bewegung durch die Zeit zeigt Ausgangspunkte späterer Ereignisse. Ein Foto wird zum Zeichen, in dem das Künftige, in seinem widergespiegelten Befund, jetzt geschieht.
Zeitliche Knotenpunkte sind Bilder, verquickte Gleichzeitigkeit. Sind sie prophetisch? Beim Dokumentieren visueller Konstellation entstehen Knotenpunkte. Sie bestehen aus Zufällen, aus den zerbrechlichen Augenblicken von jedwedem Hier-und-Jetzt.
Die Fotografie ist keine Kunst, sondern Magie!, sagt Roland Barthes. Diese Magie besteht aus zufälligen Konstellationen von Realität, die durch die Kamera von einerm bestimmten Betrachterni im Bild gefangen werden.
Barthes weist auf die Vergänglichkeit von jeglichem Kommenden hin. Das Künftige implodiert im Bild des Vergangenen, aus dem es in die Gegenwart des Betrachters explodiert. In seiner Vergänglichkeit ist das Vergangene immer schon Eigenschaft des Kommenden.
Inmitten der Bilderflut verknüpft das Foto einen Ort, oder wie Benjamin sagt, Tatort, mit einem Zeitpunkt sowie mit einem dritten Bestandteil: dem Vorgefühl eines Geschehens.
Indem die Ahnung ders Fotografierenden sich als etwas der Aura Verwandtes ins Bild einschreibt, tastet sie an den Rändern nach einer Kluft, in den Abgrenzungen innerhalb des Wirklichen, in seinen visuellen Umrissen.
Eine Aura der Ahnung schwebt an dem visuellen Bruch.
Die Bildarchive auf Instagram sind Zeichenströme, man kann zu jedem Zeitpunkt zurückkehren. Das Bildarchiv setzt sich aus skizzenhaften Abbildungen der mosaikhaften Wirklichkeit zusammen. Für bestimmte Zeitpunkte sind diese Bilder wichtige Zeichen. Ihre Eigenschaften lassen sich gruppieren, Weisen ihrer möglichen Zusammenstellung lassen sich bezeichnen. Ein Bruch im Bild ist ein Bruch in der Wahrnehmung, bewirkt durch einen Schatten im Gesicht, den Rahmen, oder eine die visuelle Einheit des Bildes durchschneidende Linie. Etwas anderes, Neues entsteht.
Wie passiert das?
Ein Zeitpunkt aus einer anderen Realität, eine Zukunfts-Version, mögliche Verlaufsverästelungen. Indem ich die Bilder als bedeutsame Bestandteile meiner Realität wahrnehme, bereite ich mich auf einen sprunghaften Übergang ins Virtuelle vor. In der Wahrnehmung skizzenhafter Bilder als Zeichen entwickelt sich allmählich eine eigene Bildsprache, die untrennbar mit dem Mich-Selbst-Verstehen im Zeitverlauf verbunden ist.
Ein Bruch im Bild erscheint so wie ein Ausweg. Wohin? In einen anderen Spiegelwinkel des Wirklichen? (DK)
1. Bruch. Schnitt, Spalt
Die Theorie setzt an, Brüche in Bildern zu kategorisieren. Sie sind aus unterschiedlichen Gründen interessant. Brüche sind, wie wir wissen, charakteristische Gegenden mit bestimmten Tätigkeiten, Tricks, Neigungen und Schichten.
Wie im Fall der sogenannten »Schamlippen« bedeutet ihre Existenz nicht nur Lücken oder Unterbrechungen, Fehler oder Wunden in ansonsten glatten Flächen, auch wenn das Negative – das Negierende oder das Negierte? – nicht aus der Existenz des Herausfallenden wegzudenken ist, das ebenso in Zusammenhängen mit der Umgebung steht wie das Herausragende. Wir kennen die Brüche nur als etwas IN etwas anderem; sie deuten aber an, dass man auch umgekehrt denken könnte. Der Schlitz droht sozusagen immer mit der Umstülpung der ganzen Welt.
Wie Filme insbesondere vorführen, mit ihrem exklusiven Zugriff auf unsere ausgelieferte Aufmerksamkeit, gibt es allerhand, was zwischen zwei Bildern passieren kann. Kaum vorstellbar, dass jemand auf so viele Arten probiert hätte, die Augen zu und wieder aufzumachen, wie es Schnitttechniken gibt. Aber doch – etwa in einer Situation, wo der offizielle Teil quälend lähmend uninteressant ist, aber noch unbedingt stattfinden muss. In solchen Situationen wird der Zwischenraum plötzlich lebensnotwendig, eben als Lebensraum. Denken wir an Asphalt und an dichte Gesetzesnetze, an Internetformulare oder philosophische Systeme.
Umstülpung ist in der Tat ein monströser Gedanke. Eine »Poetik des Zwischenraums« klingt furchtbar, verquatscht und allerdings auch beruhigend prätentiös, aufgeladen mit all den Aktivitäten (Umwertung der Werte, Aufwertung des Vergessenen, Kleinen, gegenüber dem sogenannten Großen, all dem Brimborium), mit denen die Fassaden der Institutionen geschmückt werden, damit von der Grundstruktur her alles so bleiben kann, wie es ist. Um es von der Sache her zu denken: die Art von Werteumkehrung, die jederzeit wieder umkehrbar ist und also nichts verändert.
Sogar wenn wir ganz konkret erwähnten, dass Asphalt an sich nicht böse ist, solange zwischen ihm anderes auch Raum bekommt, und das für fast alles gilt, auch für Zuchtlachs, auch für aufgeforstete Fichtenwälder, auch für Gemeinschaft, wirkt es für einen literarischen Text unangenehm moralisch. Es wächst nun mal nicht nur, was auf den Schildern steht. (Und wenn man den Zwischenraum als Sehenswürdigkeit anpreist, steht eben das auf den Schildern.) Das wissen wir, ja, die inoffiziellen, unbeschilderten Qualitäten der Wirklichkeit sind seit jeher der Lebensraum der Kunst, ihr größter Feind der ihr zu nahe tretende Erklärungstext.
Tut sich etwa zwischen den klaffenden Schenkeln der Verschönerungsmaßnahmen – ein Gähnen auf?
Eine Lücke ist auf eine Situation angewiesen, wo es mehrere Ebenen gibt, da hinter der Welt, die offen klafft, eine andere Welt zu sehen ist. Sie ist also umgekehrt Indiz für diese Tatsache der so beliebten Mehrschichtigkeit. Wie Zeigerpflanzen auf Mineralgehalte des Bodens weist sie auf das Vorkommen der Bedingungen ihrer Existenz hin. Entsprechend beliebt sind solche Zeigerphänomene bei Theoretikernnnie, die das Bekannte, aber Vergessene gerne beschreiben. Das, wo sofort die Erfahrung sich umorganisiert, um die neuen Begriffe anzuprobieren, und die Beschreibung dadurch bestätigt. Theorie ist ja sozusagen Mode für Realität. (AC)
1 Hier wird polnisches Gendering benutzt: alle für alle Geschlechter notwendigen Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende. Zurück zur Textstelle