Der Germanistikprofessor Masahiko Tsuchiya ist Spezialist für deutschsprachige, insbesondere österreichische Literatur, die von mehrsprachigen Menschen geschrieben wird. Er unterrichtet seit vielen Jahren an der Städtischen Universität Nagoya und hat mir zu meinem ersten Japanaufenthalt verholfen, indem er mir 2011 eine Semesterstelle an seiner Uni anbot. So kam ich für vier Monate nach Nagoya – eine industriell geprägte Hafenstadt ungefähr auf halbem Weg zwischen Tokyo und Kyoto –, Japan und das Unterrichten zum ersten Mal erlebend.
Als Gastprofessorin sollte ich in drei Seminaren und einer Vorlesung fortgeschrittenen Englischunterricht geben, anhand frei wählbarer Themen aus der europäischen Kulturgeschichte. Ich wählte für die Vorlesung Johann Gottfried Seumes Reise ins Baltikum und für die Seminare Napoleon im Spiegel der Literatur.
Da eine Vorlesung in einer Fremdsprache aber nicht wirklich funktioniert, wurde sie letztlich mit Referaten über Europa im 18. Jahrhundert gefüllt, und in den Seminaren entwirrten wir die Knoten der Französischen Revolution, um zu erklären, warum Napoleon kein König war. Meine Spekulation, dass es mit etwas phraseologischem Geschick möglich sein müsste, in einfacher Sprache intelligente Gedanken zu verhandeln, ging zwar auf, aber leider war es so viel Arbeit, dass ich kaum zum Japanischlernen kam.
Am Ende des Semesters – ich war völlig geschlaucht, und der japanische Sommer fing gerade an, unerträgliche Schwüle zu verbreiten – nutzte Masahiko Tsuchiya meine Anwesenheit, um seine Sammlung von Interviews mit mehrsprachigen Schriftstellern zu erweitern, und ich stellte ihm im Gegenzug einige Fragen zur japanischen Germanistik.
Zwei Jahre später lud mich die Sprachwissenschaftlerin Bertlinde Vögel ein, zwei Monate bei ihr in Osaka zu verbringen, einfach so, weil wir uns gut verstanden hatten, als Geschenk für eine noch unbefriedigte Japanliebhaberin. Dort schrieb ich den Großteil des schaudernden Fächers.
Im Januar 2014 trat ich schließlich ein Aufenthaltsstipendium des Goethe-Instituts in Kyoto an. Endlich die luxuriös müßige Umgebung, um Werke zu schaffen und das Sprachstudium zu vertiefen! Es ging auch tatsächlich was weiter, doch zugleich störte mich mein eigenes Unbehagen. Aus diesem Aufenthalt stammt die STAY FOOLISH-Serie für das Logbuch.
Wieder traf ich mich mit Masahiko Tsuchiya. Er borgte mir Geld und begleitete mich zum Architekturpark Meiji Mura (Meiji-Dorf), wo ein Sammler wichtige Gebäude der Meiji-Zeit – Crossover zwischen westlichen und japanischen Stilen – an einem malerischen Seeufer angeordnet hat, flankiert von Denkmälern der Industrie – wie etwa dem ersten japanischen Röntgenapparat – und der Kultur – zum Beispiel ließ ich mich im Zimmer fotografieren, in dem (nacheinander) Mori Ogai und Natsume Soseki gewohnt hatten – und dann gibt es noch das wie ein Kristall unerhörter Religion aus dem Boden geschossen zu sein scheinende Hotel aus Backstein und Vulkanzement, das der junge Frank Lloyd Wright entworfen hat. Als ich Masahiko das Geld zurückbrachte, machten wir das zweite Interview.
Sowohl Tsuchiyas als auch mein Idiom weisen ziemlich markante Macken auf – aber nicht immer dieselben. Wie es so ist bei Leuten mit theoretisch potentiell perfekter Sprachbeherrschung, hängt die Qualität der Satzbildung von der momentanen Verfassung und Konzentration ab, und so auch hier: Haben wir im ersten Gespräch manchmal recht gockelhaft aneinander vorbeigeredet, habe ich mich im zweiten Interview idiotischerweise an seinen Konjunktivgebrauch angepasst.
MT – So. Heute möchte ich dich interviewen in Bezug auf deine Biographie, auf dein literarisches Werk und auf die Situation der jüngeren Lyriker im deutschsprachigen Raum. Zuerst zum Lebenslauf: Du bist in den USA geboren und um fünf Uhr dann nach Wien gesiedelt. Wie ist es eigentlich für dich, deine eigene Identität zwischen Amerikanern und Österreichern?
AC – Ich weiß nie richtig, was Identität bedeutet, aber eine Sache ist vielleicht die einfachste und deutlichste Antwort: dass ich immer sozusagen eine Ausrede hatte, dass ich fremd bin eigentlich – seit ich fünf bin.
MT – Das heißt, die Fremdheit wäre für dich eigentlich eine Motivation? Zur neuen Identität in Österreich oder fast schon … ist es schwer zu sagen?
AC – Wie viele Emigrantenkinder, glaube ich, habe ich mich sehr gewehrt gegen jede Unterstellung, man hätte Probleme oder fühlte sich fremd. Nein, ganz und gar nicht, ich bin perfekt integriert, und es gibt überhaupt keine Probleme, nur einen kleinen Vorteil habe ich, indem ich bei Bedarf sagen kann, das und das funktioniert nicht, ich bin asozial wegen bla bla bla. Also es ist eine gute Ausrede. Dass es auch tiefere Dinge prägen könnte, darauf komme ich erst nach und nach.
MT – Zu Hause hast du damals wahrscheinlich auf Englisch gesprochen mit deinen Eltern, oder? Und draußen hast du natürlich auf Deutsch gesprochen mit anderen Kindern. Das heißt etwas zweisprachig dabei. Gibt es irgendwelche Einflüsse von der Muttersprache auf die deutsche Sprache?
AC – Ich glaube schon. Zum Beispiel der Stil meiner Schwester und von mir auf Deutsch, wenn wir versuchen, ganz normal zu schreiben, eine E-Mail zum Beispiel, diese E-Mails sind ein bisschen komisch, vielleicht nicht ganz, wie ein Deutscher schreiben würde . Vielleicht kommt das dazu zur schriftstellerischen Arbeit an sich, dass man versucht, sich mit der Grammatik so vertraut zu machen, dass man nicht so viele Konventionen übernimmt. Und das prägt dann auch eine Ideologie, dass man gegen Konventionen ist, weil man sie nicht kann. Also akzeptiert man sie nicht. Also stehen zu jedem beliebigen Zeitpunkt mehr Sachen in Frage als bei jemandem, der vielleicht von zu Hause aus mehr Idiome im Deutschen mitbekommen hat oder so Arten zu sprechen mit unterschiedlichen Arten von Leuten, man übernimmt doch viel von den Eltern, das Verhältnis zu Obrigkeiten, Gästen, Fremden, gefährlichen Bettlern etc., also irgendwie ahmt man das nach, und bei mir ist da ein Filter von der Sprache dazwischen. Also meine Eltern sind mir peinlich (das hört man öfters), aber gleichzeitig ist mir peinlich, dass ich nicht einmal einen funktionierenden Interaktionsmodus habe, den ich selbst kritisieren könnte, sondern ich habe an mir eher sehr knochentrocken wörtliche zwischenmenschliche Interaktionen zu kritisieren.
MT – Das heißt, die Sprache bringt dir eine durch Fremdheit ausgeprägte Sprache, mit dem man aus gewissem Abstand die deutsche Sprache beobachten könnte.
AC – Ja, und andererseits fehlt dann einfach etwas an Kultur, also so, das sieht man bei Haushalten manchmal, nicht, es gibt Leute, die haben sehr kultivierte Haushalte, und da stecken nicht nur praktische Überlegungen, sondern auch Überlieferung dahinter: Wie macht man das, wie soll es aussehen, wenns fertig ist, tradierte Ästhetiken, Harmonie-Tricks in der Einrichtung und darin, wie man den Alltag navigiert, was für ein Zustand der Wohnung zum Beispiel Ruhe erlaubt und auch gewährt. In Emigrantenfamilien ist es oft so, dass diese unendliche Quantität des zu Lernenden und der Anpassungsleistung zu einer permanenten leichten Notsituation führt bei gleichzeitiger Resignation; dass man immer in einem Provisorium lebt, die praktischen Dinge an erste Stelle setzt und viel wegfällt, was sonst von Familie zu Familie übertragen wird an Stil oder bestimmten vornehmen Gepflogenheiten. Und so geschieht es, dass man manchmal auf Besuch etwas ins Leere geht, man verfehlt sich, wie man Besuche macht, diese Formalitäten, diese Förmlichkeiten funktionieren oft nicht so gut. Das sind so die Dinge, die bei mir wieder verstärkt werden, wo ich selbst im Ausland lebe, sowas wie eine ganz leichte Dauerpanik kann bei nervösen oder sensiblen oder besorgten Leuten durch die empfundene Integrationsforderung entstehen.
MT – Fühlst du dich als Migrantenkind oder nicht so?
AC – Was ist ein Migrantengefühl … also als Amerikaner waren wir immer sozusagen gute Ausländer, diskriminiert bin ich nie gewesen – weiße Haut, Schulleistungen in Ordnung, und der amerikanische Akzent ist immer eher mit Belustigung verbunden.
MT – Ganz anders als türkische oder jugoslawische Erfahrungen. Könnte man sagen, dass solcher Migrantenhintergrund irgendeine Bereicherung deiner literarischen Arbeit darstellen könnte?
AC – Wenn die amerikanische Kultur nicht so arm wäre, ja.
MT – Aha.
AC – Ich meine, die amerikanische Kultur ist eine Emigrantenkultur, zumindest die weiße (die schwarze anders, ganz schlimm, aber weniger uptight, weil wenn man unfreiwillig da ist, hat man keinen Anlass, sich andauernd innerlich zu rechtfertigen und zu stählen). Dadurch stapeln sich Generationen von solchen Reduktionsgeschichten, wo ganze Familien als Kolonialisten versucht haben, irgendwie zu überleben, und gleichzeitig ihre Superiorität meinten behaupten zu müssen, und dadurch Kulturstandards fallengelassen haben. Multikulti birgt ja immer diese Gefahr, dass gerade im besten Fall, wenn sich alle positiv gegenüberstehen, qualifizierte Kritik fehlt.
MT – Ja. Was ist für dich eigentlich ein Anlass zur Literatur selbst? Hattest du als Kind oder in der Schulzeit Anlass zu dichten?
AC – Ja, schon die klassische Geschichte, dass man als Kind das Gefühl hat, es gibt eine andere Welt, die hat man ein Bedürfnis möglichst manifest zu machen, ihr eine Existenzform zu geben. Geschichten schreiben, sich selbst ausdrücken, das vermischt sich zu Einhornschnulzen. Jedenfalls, es ging darum, dieses Schöne, dieses Andere irgendwie zu behaupten, bevor ich dann die Entdeckung machte, dass es es auch bei anderen gibt.
MT – Du bist in die Waldorfschule gegangen, nicht? Das wäre vielleicht auch ein Einfluss auf deine Literatur, meinst du nicht?
AC – Ja, sicherlich. Habs ein bisschen einfacher gehabt als andere, in dieser Waldorfschule. Ich hätte sonst wahrscheinlich in ganz anderem Stil rebelliert und mir viele Chancen verbaut, die ich so noch hatte.
MT – Ah ja. Hast du vielleicht gute Lehrer gehabt und konntest deinen eigenen Entwicklungsprozess gut durchführen?
AC – Ja. Nach dem Wechsel wegen schlechtem Verhalten bin ich an eine Lehrerin geraten, die ich sehr bewundert habe, und das hat mich rausgehauen aus dieser Protesthaltung. Andere Lehrer waren auch sehr bemerkenswerte Menschen, die es aus verschiedenen Gründen in diese Waldorfschule verschlagen hatte. Der Lateinlehrer Kreuz, der Ovid so lebendig machte, die Französischlehrerin Emptaz mit ihren vollgekritzelten Gedichtbänden als Kopiervorlagen, Kunstlehrerin Resch, die im Zweitstudium Mathematik studiert hatte, weil sie es nie verstanden hatte, und eine irre gute Chemielehrerin, die kurz vor der Pension etwas anderes ausprobieren wollte und von allen Elementen sehr lebendige Hintergrundinformationen gab, in stendhalschem Stil … dann gab es noch einen charismatischen jungen Sänger, der als Ersatzlehrer jobbte, der ganz mitreißend von Magellan erzählen konnte.
MT – Ah ja. Gibt es auch Einflüsse von literarischen Werken, von anderen Autoren, von amerikanischen Autoren? Welche beeindruckenden Autoren hast du gelesen, als du angefangen hast, dich mit Literatur zu beschäftigen?
AC – Hab ich also klassische jugendliche Sachen geschätzt, wie Steppenwolf, Max Frisch, Handke; Handke liebte ich wegen dieser Langstreckenpoesie, diesen »fahlen Feldern« und so, Bewusstseinsstrom beim Gehen – weil ich selber so gerne spazieren gehe, mochte ich diesen Rhythmus. Hab ich also das imitiert und dann … für mich ein wichtiger Erkenntnisschub war, als ich Bücher von Petra Coronato und Friedrich Achleitner im Regal in der Bibliothek gefunden habe, so etwas hab ich noch nie gesehen gehabt.
MT – Könnte man so sagen, dass solche Autoren wie Achleitner eher auf deine poetische Arbeit Einfluss gehabt haben, nicht Handke – Handke hat natürlich eher Roman geschrieben.
AC – Es gibt natürlich das Substrat, das sinnliche Material, und dann gibt es die Erkenntnissprünge, und ich glaube, die konkrete Poesie liefert mehr Erkenntnissprünge, während Handke mir immer noch – es ist kein Bruch mit Handke gewesen, weil diese sinnliche Wahrnehmung genieße ich nach wie vor. Aber ich bevorzuge seit längerem die Sprünge, die Erkenntnisse. Bald wird es sich wieder umkehren, ich hab jetzt immer das Gefühl, Erkenntnisse hab ich genug, aber ich kann sie nicht anwenden.
Bei Petra Coronato war es so, wirklich so: Ich verstehe absolut nicht, was da los ist, also so wirklich gar nicht, und mein Ideal ist geworden, so etwas zu machen, wo man erst mal so »was IST das!??«
MT – Also ein Rätsel eigentlich, ne?
AC – Ja, oder etwas Unerhörtes, wie eine Qualle auf dem Strand, wenn man noch nie eine Qualle gesehen hat. Also da gibts keinen Namen für, und ich weiß nicht, was es soll und woher es kommt und was es ist.
MT – Ah, also variiert immer solche Gründe, warum etwas …
AC – Die Möglichkeit, etwas wirklich – also: Es ist angeblich Literatur, aber es ist etwas ganz anderes als das, was ich bis jetzt gelernt habe, was Literatur ist.
MT – Und dann hast du wahrscheinlich begonnen zu arbeiten. Hast du von Anfang an Gedichte geschrieben? Normalerweise fängt man mit Prosa an, kurze Geschichten, aber bei dir ist es anders, nicht?
AC – Ich habe auch mit Prosa angefangen. (Obwohl es ja umgekehrt auch klassisch ist, dass man in der Jugend Gedichte geschrieben hat und dann später ein vernünftiger Romanautor wird, oder?) Also ich kenn beide Versionen, jedenfalls habe ich mit Prosa angefangen, aber ich glaube, die Sonette haben mir gut gefallen, weil ich drin versuchen konnte, Ovids Techniken zu imitieren und adaptieren.
MT – Also zum Beispiel Rainer Maria Rilke oder solche Sonettgeschichten, oder? Ja? Hast du damals auch gelesen? Mit dem anderen Rhythmus der Verse auch etwas gut gelesen.
AC – Da ist dieses Andere, Amorphe sehr manifest, zum Beispiel in diesen, den … starken Verben, die sich reimen, das ist fast wie konkrete Poesie manchmal, weil die Reime so seltsam sind. Und so wichtig genommen werden.
MT – Zum Beispiel Sonette an Orpheus. Ja. Und schon jung hast du angefangen, Gedichte zu schreiben, oder so. Wie schreibst du eigentlich? Wenn du Gedichte schreibst, kannst du sofort schreiben, oder hast du zuvor Memoiren oder Einfälle gesammelt und im Notizbuch gesammelt, und plötzlich wird es ein Gedicht?
AC – Manchmal habe ich eine Angst, wenn ich etwas aufschreibe, dann ist es sozusagen gestorben als Einfall. Also meistens drehen und wenden sich solche Gedanken und Einfälle im Glücksfall so lange, bis sie … sich zu einer Zeile formieren oder sich wie in der Ursuppe mit anderen Molekülen von Gedanken verbinden und insgesamt eine Anfangsgedichtzeile ergeben oder irgendeinen Teil eines Gedichtes, das genug Energie hat, um die anderen Teile richtig zu formieren. So würde ich es beschreiben.
MT – Aha. Das sprachliche Moment sehr, sehr wichtig dabei.
AC – Ja.
MT – Yo, ne. Und die Bedeutung oder Substanzen sind ein bisschen etwas daher, hinterher oder so.
AC – Würd ich nicht sagen. Um für mich ein gutes Gedicht zu ergeben, müssen beide quasi gleichberechtigt sein oder sich auf glückliche Weise verbinden. Also es gibt schon auch Gedichte, die ich schätze, wo der sprachliche Stil ganz schlicht ist und der Gedanke interessant, umgekehrt auch, also mit einem schönen, klaren Gedanken kann man auch ein schönes Gedicht schreiben, irgendwie muss aber für mich, damit dieses mhm da ist, irgendwie beide Teile, inhaltlich und sinnlich, stimmen und stark sein.
MT – Also wenn du ein Gedicht schreibst, möchtest du damit die Wahrnehmung, die sinnliche Wahrnehmung oder so, die andere Tätigkeit etwas darstellen. Kann man sagen?
AC – Ja, und es ist wichtig, dass ich glaube, dass es das gibt, also diese pathetische poetische Lust, die Wahrheit zu sagen, die größere Wahrheit oder sowas, also ich halte nicht unbedingt so viel davon, aber ich finde es das essentielle Hilfsmittel, um gute Gedichte zu schreiben.
MT – Du meinst, die Wahrheit in Gedichten ist sprachliche Wahrheit.
AC – Ja, oder: Wenn der Dichter in dem Moment nicht mal selber glaubt, dass er in diesem Gedicht diese Wahrheit, diese TOTALE Wahrheit, diese TOTALE POETISCHE FUNKENHAFTE Richtigkeit einfängt oder darstellt, dann ist es von Anfang an ein schwächelndes Gebilde. Das wollte ich bei dem Vortrag letztens die »topische Psychose« nennen. Dass man es wirklich glauben muss, so wie im Jazz muss man wirklich drin sein, sonst bröckelt das an allen Enden und man kriegt es nicht zusammen.
MT – Und dabei hats auch politische oder Alltagsmomente drin. Ja?
AC – Ja. Kann alles drin sein.
MT – Und dabei ist ein wichtiges Element für dich das der Utopie, dieser Wahrheit? Solche etwas abstrakte Seite etwas hervor? Oder wenn du konkrete Sachen schreibst, stellen sie trotzdem eine Abstraktion dar, oder so?
AC – Ich fürchte, ja, das ist ein Fehler von mir, dass ich immer in die Abstraktion neige. Dass ich mir nur von Abstraktion erhoffe, dass die Verständigung zwischen Menschen möglich ist.
MT – Das finde ich etwas schwierig manchmal: Wenn man Literatur so schreibt, normalerweise könnte man so sagen, dass die konkrete Situation, die man beschreibt, die Wahrheit anschaulich machen kann, aber trotzdem im politischen Stil. Es ist etwas Widerspruch dabei. Wie soll man solche Widersprüche zwischen den alltäglichen Aspekten und den politischen …
AC – Politischen oder poetischen?
MT – Politischen.
AC – M. Ja, das ist … Ich versuche, keinen Alltag zu haben, das ist die eine Antwort, hab ich auch nicht, andererseits, das Politische fühlt sich an wie eine Sackgasse, wenn es bedeutet, man nimmt die Diskurse so, wie sie sind. Also ich meine, die einzige Hoffnung, die ich habe in der Politik, ist, dass es auch anders möglich wäre darüber zu sprechen, als darüber gesprochen wird. Weil – jetzt hatte ich die komische Aufgabe, politische Gedichte zu schreiben für den politischen Teil einer Tageszeitung, ich meine einer Wochenzeitung, und das war eben dieses Problem, dass die sprachliche Grenze so stark ist. Wenn man in poetischer Sprache über Politik redet, ist man in den Augen des politischen Diskurses, so wie er real existiert, ziemlich disqualifiziert. Andererseits, wenn man deren Diskurs annimmt, ist man, also, nimmt man damit auch die Schwäche an. Weil gerade die Politiker immer sagen, sie sind hilflos, sie können nichts dafür. Juristische Sprache überwiegt. Es gibt eigentlich keinen Platz für ein Subjekt dort.
MT – Ja, das stimmt. In deinem Florida-Räume, ja, gibt es mehrere interessante Einführungen in die Gedichte, zum Beispiel hier: »Ich hasse Zäune so, wie manche Zeitgenossen eine besondere Begabung haben gegen das andere Geschlecht.« Du meinst also immer die Ver??? verschiedener Zäune oder so? Welche Zäune hast du eigentlich, wenn du schreibst?
AC – Zum Beispiel gibt es – nicht beim Schreiben, aber zwischenmenschlich – den Zaun des fremden Diskurses. Also jetzt bei Fremdsprachlichkeit ist es natürlich noch stärker, aber auch wenn ich auf Deutsch, wenn ich mit jemandem spreche, gibt es einen Eindruck von dieser Person, der manchmal die Kommunikation behindert oder … also so wie man das Kind mit dem Bad werfe ich den Menschen mit dem Zaun weg, wenn mir der Zaun nicht gefällt oder so. Ich weiß auch nicht, wie das leicht zu vermeiden ginge. Im Poetischen natürlich auch, es gibt viele Bücher, die ich nicht lesen konnte, weil mir der Stil nicht eingängig war.
MT – Für die Leserschaft hast du natürlich deine eigene Gedankenweise gut liefern lassen, aber ist es manchmal schwer vielleicht damit oder: Gibt es eine Idealleserschaft, die du dir beim Schreiben vorstellst?
AC – Es gibt eher ein paar Negativbilder, die ich nicht gut finde, zum Beispiel dass man sofort beurteilen muss. In den F-R ging es mir auch ein bisschen darum, zu versuchen, eine Lesart zu provozieren, die nicht sofort auf ein Urteil kommt, die eher das exotistisch oder orientalistisch oder voyeuristisch sieht, ah, seltsame Lebensweisen, seltsame Poetiken gibt es. Die ein bisschen diesen allzu kurzen Raum zwischen Eindruck und Urteil, der im Feuilleton zum Beispiel oft quält, zu … prolongieren.
MT – Du hast auch manchmal an internationalen Dichterversammlungen teilgenommen. Dabei hast du irgendeine Sonderelemente gefunden in verschiedenen Ländern? Gibt es eher gemeinsame Elemente, gibt es Risse und Klüfte?
AC – Ich fand eigentlich, dass es große Unterschiede gibt, eher, und dass es problematisch ist, zu versuchen, international die Poesie zusammenzubringen, über einen Kamm zu scheren, was bei so einem Festival organisatorisch offenbar notwendig der Fall ist. Es ist aufgrund der sehr unterschiedlichen kulturellen und politischen Situationen in den verschiedenen Ländern und deren rezenter und älterer Geschichte und Sprachgeschichte so, dass Literatur ganz unterschiedliche Funktionen erfüllt. Andere Arten von Leuten schreiben Gedichte aus anderen Gründen. Deswegen lässt es sich schon von den Grundfragen her nicht vergleichen, die man sich ja oft nicht stellt, weil alle so tun, als wären sie von vornherein einer Meinung.
MT – Du hast auch ein Buch über die KP geschrieben. Hast du dich selbst auch als konkrete Poetin gefühlt, oder interessierst du dich nur als Wissenschaftlerin für die konkrete Poesie? Welches Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Arbeit und deinem eigenen schöpferischen Werk suchst du?
AC – Ich würde mich nicht als konkrete Poetin sehen und war es auch niemals, glaube ich, habe aber davon gelernt, Techniken gelernt. Möglichkeiten. Den Gestus übernehme ich nicht, aus verschiedenen Gründen, zum Beispiel dem, dass die Situation, in der ich aufgewachsen ist, eine ganz andere ist als Österreich in den Fünfzigerjahren. Also das, was da zu viel war an Romantik, an geschlossenen, muffigen, grauslichen Altvorderen, das fehlt mir sogar ein bisschen, etwa jemand, der sich unsympathisch macht, indem er Autorität übernimmt, den man dann bekämpfen kann, Lust an Kampf, offene Antagonismen. In den fünfziger Jahren war es Provokation genug, Gedanken zu präsentieren, weil sich die Leute über Gedanken noch richtig aufgeregt haben. Heute habe ich das Gefühl, ich muss die Leser körperlich, sinnlich packen, nackte Gedanken jucken keinen mehr, sie werden als langweilig und anstrengend aufgefasst. Daher die Unattraktivität der linken Studentenbewegungen für breite Massen zum Beispiel, weil sie so redlich versuchen, rein gedanklich oder mit moralisch-gedanklichem Pathos zu überzeugen, ohne im Körperlichen der Psyche zu wühlen. Der damit manchmal solidarische schwarz-rot-weiß geprägte Punk hat ja auch mit seiner rhythmischen, farblichen und dietätischen Monokultur etwas extrem Hygienisches, zumal für Piercings auch noch faktische Hygiene notwendig ist. Ebenso ist die deutsche Antifa-Bewegung im Grunde eine Hygienebewegung: kein Dreck bitte in unseren Gedanken. Die Obrigkeit heute ist von einer Hilflosigkeitsrhetorik geprägt, die einem wirklich eine Sehnsucht nach irgendwas Definitivem einpflanzt, nach Leuten, die sagen, was sie denken, die ihre grauslichen Meinungen äußern und nicht vertuschen, die Verantwortung übernehmen und zu ihren verpeilten Ansichten stehen, mit denen man überhaupt reden kann. Gerade im Kulturbetrieb fehlen Leute, die Ideen ernst nehmen. Die sich nicht immer flüchten in dieses hilflose »Es ist die Rechtslage«-Gesäusel. Es haben Leute zu mir gesagt, sie fühlen sich wie in Watte eingeschlossen. Man kann boxen und zetern, seitens des Literaturbetriebs lächelt man wohlgefällig, und es passiert nichts weiter.
MT – Hast du im Literaturbetrieb Tendenzen gefunden, wo junge Leute Unzufriedenheit mit der Lage äußern? Oder gibt es noch etwas Schwierigkeiten dabei?
AC – Was sehr, sehr viel vorkommt, ist, dass man sich beklagt, aber weiß nichts anderes, macht weiter mit, sucht die klassischen Protestformen, die nicht viel helfen, oder zieht sich zurück, macht wirklich etwas anderes, sucht das Landleben, sucht mit einer Familie eine schöne Art zu leben zu finden. In Berlin kann man gut mit Harz-IV hadern, während man irgendwie durchkommt, da hat man nicht mehr so viel Energie für grundsätzlichere Aktionen. Die Kookbooks-Leute haben sich »Poesie als Lebensform« an die Fahnen geschrieben, noch ohne von vornherein zu wissen, was es bedeutet, aber die Suche ist auch wichtig, und dass man nicht gleich gegen den Betrieb ist, hat auch mit persönlichen Beziehungen zu tun, es sind doch die Freunde und Kollegen, und man zögert, wirklich große Streite anzufangen, mit Leuten zu brechen, was vielleicht wirklich ganz gut ist, weiß ich nicht.
MT – Du hast diesen Betrieb ganz gut mit Erfolg geschafft. Hast du für die Zukunft Karrierepläne, oder willst du weiterhin deine eigenen Vorstellungen verfolgen?
AC – Ich weiß nicht, meine Einstellung zur Poesie ändert sich jährlich. Ich weiß nicht, wie weiter. Immer gibt es die Tendenz zum Gedanken, aufzuhören damit, also ich mag den Gedanken nicht, ewig als Poetin von Festival zu Festival zu jubeln, aber das ging eigentlich noch nicht so lange so, eine solide Schreibweise hab ich auch noch nicht entwickelt, ich merke gerade, dass der Bewusstseinsstrom oder die écriture automatique, also die ganzen Techniken, wo man nicht weiß, wie man zu Ergebnissen kommt, seine Limits erreicht, und es interessiert mich, mich ein bisschen ernsthafter mit der Methode der Produktion literarischer Werke auseinanderzusetzen, ein bisschen kontrollierter zu arbeiten, lach nicht.
MT – Gut. Interessantes Gespräch. Hast du vielleicht etwas für die japanischen Leser zu sagen. Oder anders, du hast jetzt Eindrücke über Japan selbst, wirst du in Zukunft vielleicht etwas japanische Sachen als poetischen Sprung vielleicht hineinschreiben?
AC – Ich habe ein paar japanische Schriftsteller auf Englisch gelesen, Shusaku Endo, Naoya Shiga, und ein wiederkehrendes Merkmal ist, dass es sehr präzise sinnliche Details gibt, ganz selbstverständlich, also eine solide Art, etwas zu schildern, und oft die Begründungen im Denken oft sehr klar, ruhig und intelligent gewesen sind. Davon würde ich mir eigentlich viel erwarten. Von der japanischen Gegenwartslyrik habe ich wenig gefunden und lesen können, und ich denke, dass es für die Dichtung international gesehen eine Bereicherung wäre, wenn japanische Dichtung mehr – es ist eine schwierige Forderung –, mehr aus sich herausgehen würde? Also: nicht stehenzubleiben bei der Formel, Japan und Europa sind ganz anders. Es stimmt natürlich, aber es gibt viele gemeinsame Dinge. Etwa das Verhältnis zur Internationalität oder zu Amerika. Endo und Shiga waren für mich ganz schlicht und über Vernunft und Gefühl lesbar. Es ist ein bisschen doof, dass in Europa Haikus das Einzige sind, was von japanischer Literatur bekannt ist. Und davon wird eher eine Anleitung dazu, mit der eigenen Spiritualität rumzustrotzen, rezipiert, finde ich, als die Forderung oder das, was auch drin steckt, die Forderung zur Selbstkritik, zur humorvollen Selbstkritik, zum Gedanken, zur ironischen Beobachtung von intelligenten Verhältnissen, die Bildkomposition, die eigentlich erst beginnt, wenn man die Regeln zu einem Teil des eigenen Körpers metabolisiert hat, das kommt eigentlich selten in europäischen Haikus vor.
MT – Hast du auch einige interessante Punkte die Übersetzung betreffend? Du hast ja einige Übersetzungen ins Deutsche gemacht. Nicht? Was fehlt dabei, bei der Übersetzung, und wird es manchmal eher ganz poetisch interpretiert? Wenn du zum Beispiel banales Gedicht in anderer Sprache schreibst, dann wenn man dieses Gedicht in eine Fremdsprache übersetzt, dann wird es manchmal poetische Wirkung oder so. Wie ist es, solche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten?
AC – Klassische Übersetzungstopoi, entweder, dass die Übersetzung besser ist, oder, dass sie geschlichtet ist.
MT – Man sagt oft, dass viele Sache verloren ist, oder so?
AC – Schwierig natürlich, wenn man den Autor nicht kennt und sich manchmal den Geist von der Sache … Zum Beispiel von Judith Zanders Sachen habe ich versucht, zwei, drei zu übersetzen, und es war schwierig, weil eigentlich, obwohl wir uns sogar kennen, haben wir uns nie über solche grundlegenden Dinge unterhalten. Ich musste sie also später fragen, etwa, was ist für sie eigentlich ein Wortspiel oder warum Neologismen, was hat das für sie für eine Funktion, und darauf gab es eine Antwort, und das hat mir geholfen, oder es hätte mir geholfen, weil ich habe die Übersetzungen vorher übersetzt. Also wenn ich noch welche übersetze, geht es vielleicht leichter, weil es dann so eine Konstellation gibt von Theorie und Material, also so einen Algorithmus zum Übersetzen, wo ich nicht so blind tappe und nur versuche, die Wortspiele GETREU zu übersetzen, ohne zu verstehen, was sie sollen. Dann bin ich nur dem Text getreu, und es wäre besser, wenn ich gleichzeitig dem Text und einer Philosophie getreu sein könnte, das würde Triangulation ermöglichen.
MT – Manchmal sagt man, dass man bei der Übersetzung von Gedichten viele Anmerkungen hinzufügen sollte oder so. Andererseits ist es unnötig.
AC – Ich denke, es kommt darauf an, ob man das gut kann, die Probleme so schildern, dass sie pointiert sind, nicht bloße Anhäufung von Material: Ohne eine »starke Hand«, die es pointiert, ist das sinnlos. Oft gibt es dieses rein Dokumentarische – »in diesem Wort gibt es den und den Aspekt« –, und was man eigentlich bräuchte, wäre eine Einschätzung, in welchem Geist oder wie es klingt, oder was für einen Schwung es hatte, was es verloren hat; manchmal gelingt das sehr gut, es gibt Übersetzer, die darin sehr geschickt sind.
MT – Ja, die Arbeit der Übersetzer ist immer sehr schwer eigentlich. Tja, das stimmt. Aber wirkte die Übersetzung für dich eigentlich sehr fruchtbare Arbeit vielleicht, oder? Du könntest vielleicht neue Aspekte der anderen Sprache natürlich gut erkennen oder so. Damit du auch die neue Wahrnehmung kennen oder so. Geht es so?
AC – Ja. Und zwar vor allem, seit ich nicht so schüchtern bin und – also schüchtern hätte ich einfach ein Gedicht genommen, und wenn ich es nicht verstehe: Problem. Ich habe nicht gewusst oder mir nicht zugetraut, die Frage zu stellen, die notwendig ist, um zu verstehen, was da läuft. Und jetzt finde ich es interessant, weil das Übersetzen mich tatsächlich auf die Fragen bringt, auf die ich eine Antwort brauche, um das übersetzen zu können, und dann versuche ich diese Frage zu stellen, und dann habe ich schließlich eine Einstellung dazu. Vorher war nur diese Panik, keine Einstellung dazu zu haben, neutral bleiben zu wollen, man kann aber nicht »neutral bleiben«.
MT – Immer rosane, also farbige Brillen etwas tragen. Ja. Hast du jetzt noch Projekt, konkrete Sachen vor?
AC – Es gibt ein Projekt Botanik, das ich seit vielen Jahren irgendwie dabei bin zu machen, es ändert aber dabei seinen Charakter, nach und nach. Am Anfang war es eher eine Gagsammlung, dann eine hölderlinisch-dadaistische Sache, wo halt immer auf abstrakte, weltschmerzliche Scherze gezielt wurde, von allen Pflanzen her, und zuletzt hatte ich etwas vor, was das Dokumentarische etwas wichtiger nimmt, Informationen über Pflanzen, damit das Ding auch ein bisschen nützlich ist, jetzt em … weiß ich nicht, wenn ich aus Japan zurückkomme, also wenn es darum geht, die physische Morphologie der Pflanzenwelt philosophisch zu deuten, kann ich die japanischen Schriftzeichen nicht ignorieren, mit denen ich mich natürlich ein bisschen beschäftige, mit denen ich mich schon mal beschäftigt hatte, es aber dann wegen Kitschgefahr gelassen habe.
MT – Ah das finde ich sehr schön. Die japanischen Schriftzeichen repräsentieren natürlich Bedeutung selbst, als Zeichen.
AC – Sie haben auch dieses konstante Selbstbewusstsein wie Pflanzen: »Schreib mir zu, was du möchtest, aber ich bin einfach da.«
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MT – Es ist schon ziemlich lange – also: Danke für das Gespräch.
AC – Hat sich die japanische Germanistik in den Jahren, wo du dabei bist, geändert?
MT – Ja, in den zwanzig Jahren, seit ich dabei bin, hat sich die japanische Germanistik geändert. Weil man früher besonders über die Werke selbst, werkimmanent interpretiert hatte, aber jetzt sollte man in verschiedenen anderen literarischen Methoden verwenden, zum Beispiel Zeichen oder Symbole. Besonders von dem großen Einfluss vom Medienwissenschaft, damit man sogar die visuellen Werke neu interpretieren könnte. Das ist heute ganz anders. Früher sollte man ganz philologisch und philosophisch das Werk selbst gut analysieren. Jetzt ist es etwas erweitert, besonders beeinflusst von der amerikanischen Literaturwissenschaft. Da verwendet man literarische Werke auch als Beweis für andere Theorien, etwa Zeichentheorien. Oder Medienwissenschaft. Jetzt kann man nicht nur die literarischen Werke, sondern auch Zeichen und Komiken/Zeichnungen und Comics oder visuelle Sachen zusammen interpretieren. Das finde ich ganz anders. Deswegen sind besonders die jungen Germanisten besonders daran interessiert, wie man Neuinterpretationen der klassischen und neueren Literatur finden könnte. Das wäre vielleicht etwas anders.
AC – Synchronistisch gesehen – was unterscheidet die japanische Germanistik vielleicht von anderen Auslandsgermanistiken international?
MT – Die japanische Germanistik hat besonders viel Einfluss von der deutschen Germanistik erfahren. Während die andere Germanistik in anderen asiatischen Ländern eher ganz selbstständig ihre Germanistik entwickelt hat. In Japan hat man immer deutsche Wissenschaftler als Muster übernommen, während die anderen asiatischen Germanistiken selbstständig die Werke eher asiatisch interpretiert haben. Etwas modernisiertere Germanistik kann man vieleicht in Japan finden. In Japan gab es viel vergleichende Literaturwissenschaft zwischen dem Orient und Asien. Es gab zum Beispiel eine Forschungsrichtung, die sich mit den orientalischen Elementen bei Hesse beschäftigt hat. Hesse hat wirklich orientalische Einflüsse, aus japanischer Perspektive ist das sehr interessant.
AC – Ja, woran liegt es eigentlich, diese große Hesse-Vorliebe?
MT – Hesse war besonders vom japanischen Buddhismus beeinflusst, etwa Lebenslauf oder andere buddhistische Lehren sind da zu finden. Es ist weniger ichzentriert. In europäischer Literatur steht das Ich im Vordergrund, aber bei Hesse ist es etwas anders. Ich und das Objekt wird da einigermaßen verschmolzen; in Siddhartha oder Unterm Rad ist das Gefühl etwas orientalisch ausgeprägt, sagt man. Deswegen sind die Japaner interessiert an Hesses Literatur.
AC – Wie sehr ist denn eine freie Auswahl aus allen deutschsprachigen Werken möglich? Denkst du, das wird sich jetzt ändern mit dem Internet, oder wird es so bleiben, dass ein Kanon weitergegeben wird, der sich nur langsam erweitert?
MT – Kanon bleibt, ja, natürlich. Etwas schade. Der Kanon der deutschen Nationalliteratur. Thomas Mann oder Günter Grass sind Beispiele dafür, dass typisch deutsche Probleme behandelt werden. Aber ich interessiere mich zum Beispiel besonders für die Migrantenliteratur, wo es möglich erscheint, dass die Nationalliteratur etwas zerstört werden könnte. Andere Aspekte durch die Sichtweise der Migranten empfinde ich als eine Erweiterung.
AC – Mir scheint, wenn du dich mit Migrantenliteratur beschäftigst, ist es freier von dieser dualen Dialektik, die die deutschsprachige Beschäftigung damit leider ziemlich stark prägt, diese Schuld, dieses »Migranten sind schlecht«/»Nein, Migranten sind nicht schlecht«, »langweilig«/»nicht-langweilig«, dass man nicht, dass man das einfach fortlassen kann in der Beschäftigung damit, da finde ich, dass eine Auslandsliteraturwissenschaft da bessere Zugänge haben könnte.
MT – Die Migranten haben im Deutschen immer Fremdheit, und diese könnte die Nationalsprache Deutsch etwas erneuern. Das könnte produktiv sein. Özdamar, Zaimoglu und andere türkische Schriftsteller haben die Sprache exotischer verwendet. Während man andererseits, könnte man sein, die gemischte Sprache wäre nicht so schön für Einheimische, also schwankend, kann man nicht so einfach sagen.
AC – Und zum Schluss: Ich habe gehört, dass es einen Benjamin-Lesekreis gegeben hat. Was hat euch daran interessiert, und auf was für Schlüsse seid ihr gekommen?
MT – Ah ja. Benjamin hat sehr beeinflusst und interessiert, weil er immer irgendeine Spur, eine Geschichte gut herauskommen lässt. Normalerweise kann man sich schon etwas vorstellen, aber bei Benjamin ist es etwas anders. Zerbröckelnde Ruinen vor Augen sieht, könnte er solche hintergründigen Geschichten hineinkommen und die Spur der Geschichte aus Einbildungskraft etwas erweitern. Deswegen ist Benjamin für uns sehr interessant. Unsichtbare Aspekte der Geschichte könnte man da etwas anschauen. Auch nicht so einen einheitlichen Kanon, sondern einen etwas anderen Blick auf die Brüche der Geschichte, als Montage anschauen kann. Das finde ich sehr interessant an Benjamin. Benjamin oft interessante Gedankensprünge. Benjamin hat nicht so einheitlich geschrieben, so couragehaft.
AC – Anfällig für Einflüsse.
MT – Eigene Einfälle, eigensinnig.
AC – Gab es noch andere Lesekreise?
MT – Nietzsche. Nietzsche, Benjamin und Freud waren für uns sehr interessante Werke.
AC – Was habt ihr über Nietzsche gesprochen?
MT – Nietzsche war etwas anti-christlich, und Nietzsche hat solche europäischen Mythologien etwas zerbröckelt, zerstört, und mich hatte immer interessiert, mit nicht so einfachen Aspekten die Weltanschauung zu relativieren. Und für uns Japaner ist es so, dass man eigentlich die Tatsachen der Geschichte nicht objektiv anschauen kann, sondern von verschiedenen Standpunkten aus. Dabei ist Nietzsche ein gutes Beispiel. Nietzsche hat immer solche Aphorismen, asynchronischen Sprüche aufgebaut, das finde ich gut, nicht einheitlich, sondern eigentlich ganz brüchig dargestellt. In diesem Sinn ist es interessant und sogar ganz literarisch. Nicht so philosophisch sogar.
AC – Also kommt Nietzsche in Japan gar nicht so radikal rüber, anders als im Europa des 19. Jahrhunderts?
MT – Nein – eher wie eine Art Annäherungsversuch. Man bekommt von Nietzsche ein Gefühl der Annäherung, es ist gut.