Ein kurzer Abriss des professionellen Lebens von Otto Neurath
»Dies ist eine Zeit der Planung«, schreibt Neurath spät im Leben, »der Planung, damit dort etwas geschieht, wo ohne Planung die Mängel augenscheinlich sind, wie etwa die Vernichtung von Kaffee, Arbeitslosigkeit usw. Aber wir können all dies ohne Regionalplanung, ohne Stadtplanung abschaffen; wir können uns eine Nation mit geplanter Produktion vorstellen, soweit Rohstoffe betroffen sind, die aber auch ›Planung für Freiheit‹ aufbaut, was absichtliches Nichteingreifen bedeutet. Vieles in der Stadtplanung ist voller Prunk, mit einem totalitären Beigeschmack, der eine bestimmte Lebensweise forciert. Vielleicht wollen die Menschen das, aber die Diktatur der Planung ist eine Gefahr an sich und steht nicht mit Planung gegen Not in Verbindung. Man kann in Sicherheit sein, aber frei, die eigene Lebensform innerhalb dieser Sicherheit zu wählen.«1
Otto Neurath wurde 1882 geboren und war der Sohn des aus kleinen Verhältnissen doch an die Universität gelangten Wilhelm Neurath. An der Wiener Volkswirtschaftsuni war dieser ein bisschen ein Guru aufgrund seiner Ansicht, dass man beim Sprechen über Volkswirtschaft die Naturalien nicht in Geld umrechnen sollte. Diese Ansicht wurde vom Sohn Otto Neurath weiterverfolgt. Er beobachtete, wie im Krieg große Steigerungen der Produktivität und auch der Verteilungsgerechtigkeit stattfanden durch planmäßiges, an der Versorgung – nur leider von Vernichtungsmaschinerien – orientiertes Wirtschaften. Seine Hoffnung war es, diese Leistungen für die Friedenszeit fruchtbar zu machen, wo ihr Ziel dann die Gewährleistung einer möglichst guten Lebenslage für die Bevölkerung wäre.
»So wie man die Volkswirtschaft durch ein Hindenburgprogramm dem Kriege dienstbar machen konnte, müßte man sie auch dem Glück aller dienstbar machen können.«2
Nach dem Ersten Weltkrieg gab es viel Interesse am Projekt der damals so genannten Sozialisierung.
Während Otto Neurath seine der generellen Volksbildung gewidmeten Kriegswirtschaftsmuseen in Wirtschaftsmuseen umwandelte, wurde er 1919 von der plötzlich durch einen Zufall ermöglichten Bayerischen Räterepublik und kurz darauf auch von Sachsen gebeten, die Sozialisierungskommission zu leiten. Die Kombination des Agrarstaats Bayern mit dem stark industrialisierten Sachsen erschien dabei ideal. Leider rissen nach ganz kurzer Zeit die Faschisten in Bayern die Macht an sich und Neurath wurde verhaftet und wegen »unehrenhafter Gesinnung« verurteilt. Durch Intervention von Kollegen wurde er schließlich nach Österreich abgeschoben und musste versprechen, niemals wieder über deutsche Politik zu publizieren.
In Österreich organisierte er die bis dahin als Selbsthilfegruppen illegal squattende Siedlerbewegung und entwickelte Konzepte gegenseitiger Hilfe, zusammen mit Architekten. Sein Institut für Bildgestaltung und Statistik machte Ausstellungen zur Siedlersituation, zu volksmedizinischen Fragen, zur österreichischen und zur internationalen Wirtschaft. Das System, das er entwickelte, und das später als Isotype international berühmt wurde, beruhte auf drei Arbeitsschritten: Die erste Abteilung sammelte vertrauenswürdige Daten, die zweite, die sogenannten Transformatoren unter Marie Reidemeister, entwarf pädagogisch wirkungsvolle, intelligente und skrupulös auf mögliche falsche Eindrücke geprüfte grafische Darstellungen; die dritte, unter Gerd Arntz, fertigte die Schablonen an.
»Es ist wichtig, daß der Mann auf der Straße sich in einer visuellen Gesundheitsausstellung zu Hause fühlt. Selbst Dinge, die im Ausland vor sich gehen, sollten nicht als etwas Fremdartiges hingestellt werden, sondern als etwas Vertrautes und Heimisches. Das menschliche Leben hat durch Jahrhunderte hindurch und in der ganzen Welt genügend gemeinsam.
In der Bildpädagogik sollten wir an die emotionalen Einstellungen des Betrachters denken, aber das heißt nicht, daß Tafeln und ihre Überschriften gefühlsbetont sein müssen. Die Menschen wollen gern die Gelegenheit bekommen, für sich selber zu urteilen und ihre Entscheidungen zu treffen, ohne sich von ›visuellen Diktatoren‹ eingeschüchtert zu fühlen, die die ›visuelle Ernährung‹ des Publikums in die Hand nehmen.
Als ›Treuhänder des Publikums‹ mögen wir uns fragen, warum ein Passant auf der Straße sich für Tuberkulose interessieren sollte, wenn er denkt, daß er und seine Familie ganz in Ordnung sind. Manchmal veranlaßt eine eher hypochondrische Stimmung die Menschen zum Besuch einer solchen Ausstellung. Manchmal entwickelt sich eine Neigung zur ›Selbstdiagnose‹, und wir müssen sie durch besondere Anstrengungen verhindern.
Vielleicht wäre es ratsam, öfter vom ›Gesamtleben‹ auszugehen. Wenn eine Familie ein Haus mietet, dann interessiert sie sich für einen Komplex, der aus Räumen und Fenstern, Bäumen und Blumen, Blick auf die Straße und vielen anderen Einzelheiten zusammengesetzt ist. Sie will wissen, wo der Kamin ist, ob der Garten genügend Privatsphäre zuläßt, wie die Nachbarn aussehen; selbst die Katze auf Besuch, die gerade durch eine Hecke schlüpft, kann wichtig sein. Man kann diese Menschen dazu veranlassen, über das Klima im Allgemeinen und über (…)
(…) Natürlich kann man Gesundheitserziehung in wirkungsvollster Weise betreiben und dabei doch an die tägliche Routine denken, schwachen Kindern, Lahmen, Behinderten und Alten zu helfen, ohne ihnen das Gefühl zu geben, daß sie von der Großzügigkeit ihrer Menschenbrüder gerade geduldet werden. Die Bildpädagogik kann eine freundliche und mitfühlende oder eine starre visuelle Umgebung schaffen.
Eine Atmosphäre gegenseitiger Hilfe, unabhängig von der Beurteilung in einem Gesundheitswettbewerb, kann die Menschen nicht nur glücklicher, sondern durch eben dieses Glück vom medizinischen Standpunkt aus auch gesünder machen.«3
»Ein Teil der Menschen neigt dazu, sich vielleicht noch gewisse statistische Einzelheiten zu merken, die ihm zufällig begegnet sind, aber es fehlt die Möglichkeit, derlei Zahlen mit anderen zu vergleichen, sie einem größeren Gebäude einzufügen. Der Sinn für soziale Proportionen, vor allem für Menschheitsdimensionen muss erst bei den meisten geweckt werden.«4
Zur gleichen Zeit bemühte sich Neurath zusammen mit Rudolf Carnap, Philipp Frank und anderen vom Wiener Kreis um Moritz Schlick um die Entwicklung und Vermittlung einer sogenannten Einheitswissenschaft – gemeint war ein Überbrücken der alten kategorischen Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Durch umsichtige und radikale Begriffsarbeit, insbesondere die Ausscheidung oder Reparatur von Begriffen, die man nur verstehen kann, wenn man ein ganzes System von Annahmen akzeptiert, also religiöse und metaphysische sowie ganz einfach schwammige und notorisch unklare, sollte ermöglicht werden, dass Materialisten und Idealisten miteinander reden können, ohne bei unentscheidbaren Meinungsfragen zu enden. Durch die anwesenden genialen Physiker und Logiker war das logische Niveau kristallin, durch Praktiker wie Neurath mit seiner Perspektive der Volksbildung und Zugänglichmachung von exzellentem Wissen blieb eine gewisse Erdung im Projekt.
Nicht nur Horkheimer und Adorno reagierten mit repressiven Maßnahmen (in ihrem Fall: ständige Seitenhiebe und krasse Denunziationen in ihren Vorlesungen und Publikationen, in denen sie Erwiderungen nicht druckten) auf die wissenschaftliche Reformbewegung des logischen Empirismus, die den Möglichkeiten des Obskurantismus, von denen ihr Ruhm abhing, gefährlich zu nahe trat. Die Austrofaschisten verbaten bei ihrer Machtübernahme sofort den Wiener Kreis – dessen Kopf ohnehin bereits ermordet worden war. Neurath, der sich mit seinem Isotype Institute gerade bei der Moskauer Izostat aufhielt, kehrte nicht nach Österreich zurück, sondern wanderte in die Niederlande aus.
1Otto Neurath: Visual Education: Humanisation versus Popularisation. In: Empiricism and Sociology, ed. by Marie Neurath and Robert S. Cohen, Vienna Circle Collection,Vol. 1, Chapter 7, Section 5, D. Reidel, Dordrecht-Boston 1973, S. 227-248, übersetzt von Marie Neurath. In: Otto Neurath: Gesammelte bildpädagogische Schriften. Hg. von Rudolf Haller und Robin Kinross. Wien 1991, S. 665.
2Otto Neurath zit. nach: Paul Neurath, Elisabeth Nemeth (Hg.): Otto Neurath oder Die Einheit der Wissenschaft und Gesellschaft. Wien, Köln, Weimar 1994, S. 214.
3Otto Neurath: Der humane Zugang zur Bildpädagogik. In: Ders.: Gesammelte bildpädagogische Schriften. Hg. von Rudolf Haller und Robin Kinross. Wien 1991,., S. 625ff.
4Otto Neurath: Bildstatistik nach Wiener Methode. A.a.O., S. 184.