Im September 2018 fand in Berlin zu den Schnittstellen zwischen Lyrik und Performance das dreitägige Festival KOOK.MONO: schrift spricht statt. Dank dieses Festivals konnte ich dem Beginn eines längeren Gedichts, an dem ich gerade arbeite, eine Bühnenfassung geben und sie aufführen. Das Gedicht heißt kommen sehen. Das Loblied singen und seine Aufführung besteht darin, dass ich mich auf einen Stuhl setze und es auswendig hersage. Mit dieser Aufführung hat sich für mich etwas erfüllt. Schon meine erste schmale Gedichtsammlung hieß aufsagen. Aber auf der Bühne habe ich vorwiegend mit synchron-polyphonen Verläufen gearbeitet, mit Partituren und Improvisation, Sprachüberschuss und Schweigeperformance. Ich hatte bis zu diesem September nie einfach etwas aufgesagt. Über die Gründe hierfür, meine Erfahrungen mit diesem Aufsagen und darüber, was sie mit den Beziehungen zwischen Lyrik und Performance zu tun haben könnten, werde ich im folgenden nachdenken.
Ich hatte kommen sehen schon drei Wochen lang geübt, als mir auffiel: Es klappt besser, wenn ich die Schädelknochen lockerlasse. Dann tritt der Text aus meinem Kopf heraus; verwandelt sich in eine Welle, die von vorne auf mich zukommt und sich durch mich hindurchspült. Und dann läuft es.
Bis dahin hatte ich von Tag zu Tag mehr gefürchtet, ich würde es nie durch den ganzen Text schaffen. Nicht aus Gedächtnisgründen. Sondern weil die Stimme und der Text immer an irgendeiner Stelle unaufhaltsam auseinander drifteten und nicht mehr zusammenfanden. So dass ein Weitersprechen zwar möglich blieb, aber sich seltsam tot anfühlte.
Ich hatte bis dahin mit einer anderen Vorstellung gearbeitet: der Konzentration. Die es mir schließlich erlauben würde, den Text so auf einen Punkt hin zu zitieren, dass er sich dort bündeln und als Ganzes geordnet aus dem Mund ziehen lassen würde. Wie ein Spruchband auf einem mittelalterlichen Gemälde.
•
Das neue Bild war irritierend. Dafür klärte sich an ihm eine viel ältere Irritation: Warum es auswendig heißt, und nicht inwendig, wirkte plötzlich verständlich. Gleichwohl blieb es irritierend.
Ungestört und vollständig trat ab da das Gedicht aus den Wohnzimmerwänden und durch mich hindurch. Es schien sich seiner sicher. Es gab sich kooperationsbereit, verweigerte sich aber einer kompletten klanglichen Kontrolle. Die (Laut-)Wege, die das Gedicht nun durch die Stimme zog, bildeten sich immer erst beim Sprechen, blieben bedingt vorhersehbar, schienen wild zu flattern. Ich empfand das als beunruhigend. Und auch der Gedanke, dass mein Gedicht nun von den Wänden, der Couch, der Pflanze kam, behagte mir nicht besonders. Du bist mein Gedicht, rief ich ihm hinterher. Nicht das des Sofas.
Das neue Bild hatte jedoch den Erfolg auf seiner Seite. Die scheinbar logische Konzentrationsidee hatte ihre Dysfunktionalität eingestanden und sich aufgelöst, an die Stelle von Kontrolle schwappte Sprechbarkeit. Aus einem auffällig widersprüchlichen Entwurf. Denn unabhängig davon, ob man Knochen nun lockerlassen kann oder nicht – dass es das Sprechen erleichtert, wenn man sich vorstellt, den Schall gegen eine Welle zu schicken, die durch den sprechenden Körper hindurch gurgelt, erschließt sich erstmal nur bedingt. Also müssen die Gründe für seine Produktivität auf einer anderen Ebene liegen als der Oberflächenlogik.
•
Eigentlich ist die Konsternation über das ›Außen‹ des aufzusagenden Gedichts selbst konsternierend. Immerhin gibt es hier Ähnlichkeiten zum Schreibprozess. Der ist ja auch nicht ›innen‹. Oder fällt wie unbelebter Besitz (vermeintlich) unter die Kontrolle einer Person. Er ist auch nicht ›außen‹. Sondern entsteht daraus, dass andauernd Welt durch einen porösen Körper hindurch treibt und bröckchenweise hängenbleibt, und immer sitzt an zu vielen Reibe-, Tast- und Durchschlagspunkten keine Sprache, oder sitzt nicht richtig.
Und ein Gedicht verhält sich ja immer etwas unvorhersagbar und situationsabhängig in der Stimme, auch wenn es vorgelesen wird. Vielleicht schlägt ›graduell anders‹ hier irgendwo in ›qualitativ anders‹ um.
•
Nach einer ersten, wild aufflackernden Freude, dass der Text nun doch aufführbar sein könnte, begann ich zu ahnen, dass die Gleichförmigkeit meiner Wohnzimmerwände an diesem neuen Gelingen einen nicht unerheblichen Anteil haben könnte. Also fing ich damit an, den Stuhl zu drehen. Das Gehirn sollte sich daran gewöhnen, dass Rechts und Links und Vorne, die den Text hergeben sollten, immer wieder anders aussehen konnten. Ich ahnte auch, dass die Pflanzen, Bücher, Sofa, Lampen, die sanft ins Blickfeld hinein und wieder hinaus traten, keine richtige Vorbereitung auf die lebendigen Gesichter sein konnten, die ich bei der Aufführung sehen würde. Boy, was I right.
Hinweise darauf, dass auswendig gesprochene Gedichte irgendwie ›von außen‹ kommen könnten, hatte es im Grunde schon vorher gegeben. Ich erinnere mich an einen Auftritt des slowenischen Dichters Dane Zajc. Er saß auch auf einem Stuhl, sprach seine Gedichte frei, und es sah aus, als würden sie ihm gerade eingegeben. Von oben. Als sei er ein Medium. Zajc‘ Aufführung beeindruckte mich sehr; ungeachtet dessen, dass ich dieses ›von oben‹ für nicht übertragbar auf den gegenwärtigen deutschsprachigen Kontext hielt.
Und ich hielt dieses ›von oben‹ damals für eine bloße Inszenierung. Eine Entscheidung, die auch anders hätte ausfallen können. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Vielleicht war es nur so gegangen.
•
Ich vermute, dass dieses ›von außen‹ beim auswendigen Hersagen die gleiche Funktion erfüllt wie bei der ›gewöhnlichen‹ Lesung das Papier: Das schafft als gelesenes Gegenüber Abstand. Öffnet einen Spalt, in dem sich Fremdheit ausbreiten kann. Flexible Distanzen.
Für mein Verständnis ist dieser Spalt die Bedingung für das Gelingen einer Lyriklesung. Er rückt die sprechende Person vom Text ab. Der Körper wird damit zum Beispielkörper, der das Gedicht an sich zeigen kann. Dieses Abrücken (er-)löst das Gedicht. Es ist nicht Aussage eines spezifischen Individuums. Es flattert frei und es spricht x. X aber ist eine Leerstelle oder Lücke. So fordert dieser Spalt jene Operation heraus, ohne die es ›Gedicht‹ nicht gibt: Dass die Rezipientin sich ins Gehörte einsetzt, die Lücken probeweise ausfüllt, sich über die fremden Wörter hinweg selbst anspricht und die eigene Beziehung zum Gesagten auslotet. Instabile Trennungen, zwischen Autorin und Text und Publikum, die individuell realisierte, phasenweise Berührungen überhaupt erst ermöglichen.
•
Denn das ist der Zwillings-Aspekt von hersagen oder aufsagen. Poetisches Sprechen heißt nicht zuletzt, dass man sich (durchaus zweifelnd, fragend, tastend) etwas (Anderes, Fremdes) hersagt. Sich damit in Anrede- und Antwortmuster verstrickt. Das öffentliche Lesen spiegelt dieses Hersagen nur; bringt es, wenn es gut geht, vielleicht in Gang.
•
Sobald so etwas in Gang kommt, verpasst man manches, was außerdem noch gesagt wird. Das ist bei der Lyrik nicht anders als bei allen anderen Kommunikationsformen. Aber es fällt bei der Lyrik besonders auf, weil sie, anders als sonstige Kommunikationsformen, die unruhige Lücke und dass eine sich mit ihr auseinandersetzt, zur Gelingensbedingung hat.
•
Definiert man Performance (in Anlehnung z.B. an Erika Fischer-Lichte) so, dass deren Bedeutungsbildung ohne die aktive Beteiligung der Rezipienten nicht stattfinden kann, die erzeugten Bedeutungen ganzkörperlich zu verstehen sind und den Rezipientinnen eher widerfahren, als dass sie bewusst zugewiesen würden, dann liegt die Vermutung nahe, dass die Lyrik als sprachliche Form näher an der Performance steht als an der Narration. Dass sie vielleicht die sprachliche Kunstform der Performanz ist.
Der Spalt, der sich auftut, wenn Lyrik vorgelesen wird, würde dann auch dazu dienen, dass sich eine spürbare Trennung von anderen sprachlichen Formen vollzieht. Und dieser Spalt muss sich nicht am Papier öffnen. Andere, zur Zeit gern genutzte Medien (Film, weitere Klänge, Bewegung etc.) können die gleiche Funktion übernehmen.
•
Natürlich können diese Medien auch Schnickschnack sein. So wie alles auf einer Bühne und in Texten. Sind sie es nicht, halten sie die Grundstruktur der gesprochenen Lyrik intakt, während sie ihr weitere semantische Felder erschließen.
•
Auch ein Wasserglas kann Schnickschnack sein. Überhaupt scheint mir die zu beobachtende Oppositionsbildung zwischen ›Wasserglas-Lesung‹ und irgendwie besserer, weil performativer, medienbewusster Lesung nicht an der richtigen Stelle anzusetzen. Es ist wenig relevant, ob der Körper, der sich für das Gedicht zur Verfügung stellt, zwischendurch getränkt wird oder nicht. Was gemeinhin über das Wasserglas identifiziert wird, würde vielleicht besser die »Ich bin’s, Euer Autor«-Lesung genannt: eine Lesung, bei der die Autorin, der Autor, eine Kumpelei mit dem Publikum unternimmt und versucht, der aufwabernden Sympathie das eigene, nun extern legitimierte Gedicht unterzuschieben. Das wiederum wäre sicher nicht Performance, aber auch keine Lyrik.
•
Vor der Aufführung in Berlin beschäftigte (piesackte) mich die Frage, ob ich mit meinem frei gesprochenen Gedicht nicht auch eine Variante der »Ich bin’s, Eure Autorin«-Lesung erschaffen würde. Eine Situation, in der ›das Publikum‹ von meinem fabelhaften Gedächtnis-Schnickschnack so bezirzt wäre, dass das mit dem Text – der einer zukünftigen ökologisch-sozialen Katastrophe hinterherspricht – irgendwie nicht mehr so wichtig wäre. Dass ›Hersagen‹ und Text durch die Fokussierung aller Aufmerksamkeit auf mich in mir kleben bleiben würden, die Hörenden nicht fremd und frei Kontaktflächen suchen und betreten könnten und damit gerade der poetische Aspekt am Sprechen kollabieren würde.
Bei und nach der Aufführung hatte ich nicht den Eindruck, dass das Befürchtete eingetroffen sei. Ich meine, dass dafür drei Faktoren verantwortlich sind. Einmal, dass die geschilderte Empfindung, der Text komme von außen, und der damit einhergehende Kontrollverlust die lyrische Kommunikationssituation stabilisieren (was ich aber erst in den Wochen nach der Aufführung erkannt habe). Zum zweiten der Text selbst – mit Blick auf ihn hatte ich mich vor der Aufführung beruhigt: Wie das Gedicht zwischen direkter und indirekter Rede, zwischen Mono- und Dialog, verschiedenen Anredefiguren, zwischen narrativem, dramatischem und lyrischem Sprechen gleitet, wie es sich in der Zukunft verortet, werde verhindern, dass sich alle von den Hörenden zu verhandelnden Lücken schließen, dass ich als Sprechende mit ›meinem‹ Text zu einer Figur verschmelze, die sich ohne weiteres aus bequem-abwägender Distanz von außen betrachten lässt. Die Struktur des Gedichts wiederum erfordere, dass es auswendig gesprochen wird, weil sonst die Distanzverhältnisse in die andere Richtung ausschlagen würden. Diese Einschätzung erwies sich als richtig. Und dann gab es diesen dritten Faktor, der sich erst im Tun auf der Bühne zeigte, und dem ich seither gedanklich hinterherzukommen versuche.
Dieser dritte Faktor hat, grob gesprochen, damit zu tun, dass Menschen keine Pflanzen sind. Und auch keine Wände.
Nach der Veranstaltung in Berlin gab es ein Gespräch mit allen Aufgetretenen, das der Literaturwissenschaftler Peer Trilcke moderierte. Peer Trilcke tippte die Frage an, ob die Zuschauer bei der Aufführung nicht in erster Linie Störfaktoren gewesen seien. Ich wollte daraufhin »Ja!« rufen und war mir zugleich sicher, dass die richtige Antwort, nicht nur aus Höflichkeitsgründen, »Nein« lautet.
•
Ich weiß nicht mehr, ob Peer Trilcke deshalb auf diese Frage kam, weil ich angedeutet hatte, wie es gewesen war, bloß dazusitzen und zu sprechen.
•
Ich hatte auf der Bühne erst einige wenige Zeilen gesprochen, als mein Blick auf eine Frau fiel, die recht zentral und recht weit vorne saß. Sie saß mir, zurückhaltend formuliert und wie mir schien, sehr aufmerksam aber ohne die geringste Zustimmung gegenüber.
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war kraftvoll; er fegte durch meinen Kopf und ließ die Impulse alltäglicher Kommunikation anspringen – bei der man in einer solchen Situation sich selbst unterbrechen und zunächst die Bedingungen der Kommunikation thematisieren würde – und bis ich sie fortgeschoben hatte, war mein Text schon weitergezogen, die nächste Zeile weg und ich konnte erst bei der übernächsten wieder aufspringen.
Ich verstand erst da, dass es bei dieser Aufführung, anders als bei einer Lesung, nicht genügte, die Bühne zu betreten, anzufangen und die Sache dann laufen zu lassen. Sondern dass ich mich immer wieder neu dafür entscheiden musste, weiter zu sprechen.
Das Aufsagen, scheint es, produziert entweder auf ewig arretierte Spruchbänder – an denen sich entlang zu sprechen sinnlos ist, weil man sie ja auch lesen könnte. Oder es entstehen sich überlappende Muster an Störungen. Der Text von außen stört die Gelassenheit stimmlicher Kontrolle. Die aktive Präsenz der Zuhörer stört den ruhigen Durchfluss des Texts durch Kopf und Stimme. Die Impulse schießen ineinander, reiben und verweben – werden elektrische Aufstörungen potenziell toten Stoffs.
•
Die ›zentrale‹ Zuhörerin jedenfalls saß mit mir in keinem sanft plätschernden »Ich bin’s, Eure…«-Boot. Sie sah auch nicht so aus, als fühlte sie sich gebeten, in einem solchen Platz zu nehmen.
•
Und ich verstand, dass die Spielräume für die Zuhörerinnen in diesem Format anders zugeschnitten waren. Wir saßen alle fest. Ich, da, ohne irgendwas, woran ich mich halten oder wohinter ich mich verstecken konnte (Tisch, Text, Mikrofonständer, o.ä.). Und mein Blick musste irgendwo hin. Sie wiederum konnten sich vor diesem Blick nicht verstecken. Es gab für sie nur diesen Körper mit Augen und Stimme, von der – wie für Stimmen oft beschrieben wurde (etwa durch Dieter Mersch) – ein Imperativ ausging, ein »Hör mich an!«. Dem sich offen zu verweigern ein Bruch sozialer Übereinkunft wäre.
Es gab nicht nur für mich keine Figur, in die ich mich retten konnte, wie in die nächstgrößere Matrjoschka-Puppe. Es gab auch für die Zuhörerinnen keine stabile Figur (oder ein Buch), die sie hätten ablehnen und mich dabei unberührt lassen können.
•
Eines allerdings sei an dieser Stelle betont. Obwohl die Räume für die Zuhörer anders waren, als bei der üblichen Lesung, bin ich überzeugt, dass keinerlei Gewaltsamkeit im Spiel war. Es gab für sie weiterhin genügend Handlungsoptionen: Augen schließen, wegschauen, gehen, zustimmungsfrei zurückschauen, um nur einige zu nennen. Und selbstverständlich befanden wir uns weiterhin in der Spielanordnung Kunst: Ich hatte keine hierarchisch höherstehende Position inne, von der aus ich irgend jemandem irgend etwas hätte sagen können, und für die Person hätte das dann eine Konsequenz gehabt, die sie ablehnt aber nicht verhindern kann.
Auch ich fühlte mich keiner versuchten Gewalt ausgesetzt.
•
Trotzdem. Wenn die Räume für die Zuhörerinnen durch das auswendige Sprechen ein bisschen weniger fremd und frei werden. Wenn vor allem Dinge, die man am besten Störung nennt, selbst wenn man dieses Wort für falsch hält, verhindern, dass die Sprechende mit ihrem Text verschmilzt und so auch von dieser Seite Freiheit und Fremdheit und mit ihnen die poetische Kommunikationssituation kollabieren – Wozu dann das Ganze? Nur für den Kitzel, dass es auch echt schiefgehen kann?
•
Ich vermute, das Ganze hat mit Benutzbarkeit zu tun. Für mich war dieser Text auf der Bühne nur als auswendig gesagter schlüssig nutzbar. Umgekehrt war er selbst für diese Form nur benutzbar, weil er die eine, aus sich sprechende Stimme durch seine inneren Dynamiken aufbricht. Die eine, meine Stimme wiederum konnte sich auf den Text bloß anwenden, indem sie ihre Kontrolle über stabile Lautformen aufgab. Sich vom Verlauf des Texts benutzen und aufstören ließ – und durch die jeweiligen Bedingungen von Raum und Licht, Atmosphäre, von Menschen. Dadurch wird aus einem Arrangement Entwicklung. Die Zuschauer sind an ihr konkret und für sie wahrnehmbar beteiligt. Das Geschehen verliert damit an Determiniertheit, Intaktheit, wird durchlässig, ungewiss und damit ein potenzielles Interaktionsfeld für die Hörenden. Die ungefähr so die Sache stören wie Bibliotheksbenutzer eine Bibliothek – wo erst in der vorübergehenden Störung einer Ordnung überhaupt Bibliothek mit all ihren Zufälligkeiten entsteht. Sonst hat man nur ein Bibliotheksmuseum. Genauso bei der Aufführung eines Gedichts: wenn Zuhörerinnen am Gesprochenen nutzen, was für sie benutzbar ist – es für sich umordnen, sich darin umordnen – erzeugen sie Gedicht. Sonst hätte man erneut: etwas Museales; verfügbar, stabil und unberührbar, hinter Glas.
•
Ein letztes Trotzdem noch. Aber wenn die Lyrik ohnehin jene Sprachform ist, die eine aktive Beteiligung der Rezipientinnen für ihre Realisierung voraussetzt – was ist dann der qualitative Unterschied für die Rezipienten, wenn ihnen eine halbe Stunde lang eine Frau gegenüber sitzt und auswendig spricht?
Graduell jedenfalls ist es so: Die Rezipienten sehen – deutlicher als bei anderen Lesungen – einen eigenartig atmenden Filz aus Angreifbarkeit und Souveränität. Sehen, was sonst nur implizit ist: Wie das der sprechenden Person wichtig ist. Weil sie sich immer wieder neu entscheidet, weiter zu sprechen, immer wieder »Ja!« sagt zur Situation und sie damit weiter treibt, entfaltet sich diese Bedeutung aktuell.
Damit wird in dieser Aufführungsform doch noch einmal die Dichterin greifbar. Nicht als mit ihrem Text verschmolzene Sprecherin. Sondern – wenn es der Störungen genug gab – als Person, die sich beobachtbar und bewusst dafür entscheidet, das so zu sagen. Zum Text tritt dann noch eine weitere Ebene, zu der eine bewusste Beziehungnahme möglich und nötig wird: die der Haltung als Person.
Ob dies im gegenwärtigen deutschsprachigen Kontext nötig und sinnvoll ist? Ich tendiere dazu, diese Frage zu bejahen.