Zum 30. Mauerfall-Jubiläum am 9. November 2019 versammeln wir im Logbuch Suhrkamp Beiträge zu diesem Themenschwerpunkt. Eröffnet wird die Reihe mit Fotografien von Andreas Rost, die vor allem im Frühjahr 1990 in Berlin, Leipzig und Dresden entstanden sind. Es folgen ein Text von Emma Braslavsky und ein Langgedicht von Angela Krauß. Steffen Mau blickt anschließend auf seine Lektüre von Lutz Seilers Kruso zurück, Bodo Mrozek führt mit Ilko-Sascha Kowalczuk ein Gespräch über den »Sound der Wende«, und mit den Beiträgen von Deniz Utlu und Wolfram Höll beschließen wir die Serie.
Nachtrag zu den Fotos von Andreas Rost
von Nina Peters
Die Fotos sprechen für sich. Doch ist auch ihre Vorgeschichte, die Bilder entstanden im Frühjahr 1990 in Berlin, Leipzig oder Dresden, erhellend. Im Verlag, wo wir eine Auswahl aus seiner umfassenden Fotoserie treffen, fallen Andreas Rost zunächst die Bücher von Einar Schleef auf, mit dem er den gleichen Lehrer teilte. »Arno Fischer war sein Leben lang stolz darauf, dass Schleef bei ihm in Berlin an der Kunsthochschule Weißensee Fotografie gelernt hatte.« Andreas Rost erzählt, das Tonband läuft:
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»Seit meinem 14., 15. Lebensjahr war ich in oppositionellen Kreisen in der DDR. Zunächst viel in Dresden in der Weinbergskirche, da gab es ab 1982 die Friedensgebete, ich habe das Symbol ›Schwerter zu Pflugscharen‹ getragen oder war in Umweltgruppen aktiv. Ab September 1989 habe ich den Kontakt zwischen dem Neuen Forum in Leipzig und dem Neuen Forum in Berlin gehalten. Damals habe ich in Leipzig studiert, aber in Berlin gelebt. Am Ende dieser Beschäftigung stand, dass ich Mitglied des ›Runden Tisches‹ der Stadt Leipzig war. Was eine wahnsinnige Erfahrung war, weil die SED-Leute aufgegeben hatten und nicht fähig waren, irgendwas Sinnvolles zu veranlassen. Vom „Runden Tisch“ aus haben wir die Stadtpolitik organisiert – ich sag mal ›Gas, Wasser, Scheiße‹, wie ein Klempner –, die Müllabfuhr organisiert etc. Nach dem Mauerfall hauten noch immer ganz viele Leute ab in den Westen, die Kliniken hatten kaum noch Personal. Mit unserer Partnerstadt Hannover haben wir vereinbart, dass Ärzte rüberkamen, all so was haben wir gemacht.
Das hatte zur Folge, dass wir als oppositionelle Gruppen gleich nach Mauerfall eingeladen waren in die Konrad-Adenauer-Stiftung. Zur Schulung, zum Rhetoriktraining. Und jetzt mach mal ein Rhetorik-Training mit sächsischen Oppositionellen! Das war schon sprachlich eine Barriere. Neues Forum, SDP (Sozialdemokratische Partei in der DDR, am 7.10.1989 gegründet, vereinigte sich am 26.9.1990 mit der SPD, Anmerkung der Redaktion), das fühlte sich für die an, als würden Linksradikale einreiten. An dieser Stelle hatten wir schon gemerkt, dass es die ersten politischen Missverständnisse gab. Es war klar, dass das nicht übereinzubringen war. In Westdeutschland gab es die Demokratie natürlich schon 40 Jahre lang. Ich hatte den Eindruck, dass die Westdeutschen politisch so geschult waren, dass sie mit dem Begriff Demokratie schon zynisch oder operational umgehen konnten. Bei uns ging es aber immer radikal um die Sache, so sehr, dass wir uns sogar mit unseren Feinden verständigen konnten. Wir saßen am ›Runden Tisch‹ mit Leuten zusammen, die uns ein paar Wochen vorher noch in den Knast bringen wollten. Das war eine schöne philosophische Übung.
Mich hatte damals der sozialdemokratische Gedanke interessiert. Es sollte doch möglich sein, für eine sozial gerechte Gesellschaft einzutreten, ohne diese Krücke Marxismus-Leninismus zu bedienen. Wir hatten die SDP, auch die hatten Schulungen, und ich war dabei. Der Plan war, dass ich Juso-Vorsitzender von Sachsen werden sollte. In Bonn kam es schließlich zu einem für mich denkwürdigen Treffen mit Oskar Lafontaine. Es gab Diskussionen um die Wiedervereinigung, wie das zu laufen hatte. Und den meisten Bürgerrechtlern war klar, dass wir keinen Anschluss wollten nach Artikel 23 Grundgesetz (Beitritt der ehemaligen DDR als „neue“ Bundesländer, Anmerkung der Redaktion), sondern nach Artikel 146 (gemeinsame Ausarbeitung einer neuen Verfassung, Anmerkung der Redaktion). Uns war vor allem wichtig, eine Verfassungsdiskussion zu führen. Und die Probleme, die daraus entstanden sind, dass wir sie nicht geführt haben, sehen wir heute. Das haben wir damals durchaus prognostiziert. Genau diesen Standpunkt habe ich damals sportlich vorgetragen. Ich war 23 und war absolut davon überzeugt: Diese Verfassungsdiskussion ist wichtig, aber auch aus dem Grund, weil wir auch über Europa nachdachten: Wenn die Wiedervereinigung kommen würde, dachten wir, dann würde das in Europa kritisch gesehen. Uns war wichtig, dass wir uns in Europa deutlich positionierten. Oskar Lafontaine reagierte mit einem Tobsuchtsanfall. Er argumentierte, solange Kohl an der Macht sei, würden wir keine Verfassungsdiskussion führen.
Im Dezember 1989 nach diesem Treffen war mir klar: Andreas Rost in der westdeutschen Politik, das wird nicht funktionieren. Und auch, dass wir nicht in der Lage sein werden, diese Ideen des ›Runden Tisches‹ – und ich halte das heute noch für eine große Idee – umzusetzen. Und dass ich nicht kandidieren werde.
Arno Fischer hat in diesen Monaten intensiv mit mir gesprochen, sein Onkel war im kommunistischen Widerstand gewesen und hat als Teil der Schulze-Boysen-Gruppe Flugblätter gegen die Nationalsozialisten gedruckt. Fischer war nicht in der Partei, aber in seinem Herzen war er Kommunist. Und er sagte: ›Andreas, mit der Politik und dir, das wird nichts.‹ Er hat sich ins Zeug gelegt dafür, dass ich wieder studierte und die Politik aufgebe. Dennoch war das für mich als Bürgerrechtler das große Problem: Ich habe nicht verstanden, wie diese Stimmung so schnell kippte. Wir hatten mit dem Neuen Forum und der SDP zunächst eine immens hohe Zustimmung erfahren. Und bei der Volkskammerwahl im März 1990 hatte das Bündnis90 nicht einmal drei Prozent.
Im Grunde sind meine Fotos der ganz naive Versuch: Ich dachte, ich gehe jetzt auf die Straße, ich gucke mir die Leute an, ich höre mir das alles an. Ich war damals der festen Überzeugung, dass wir irgendeinen Fehler gemacht haben müssen. Insofern folgen die Fotos keinem künstlerischen Konzept, die Kamera war ein Transportmittel und Anlass, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Das war pure Neugierde, pure Fassungslosigkeit.«
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Die Fotos von Andreas Rost sprechen für sich. Sie erfassen Situationen oder sind Kontexten oder Veranstaltungsformaten entnommen, die heute nur noch wenige kennen: Das gilt nicht für das Bild von der Mauer am Brandenburger Tor und den Mann, der in den frühen Morgenstunden im Februar 1990 »in die falsche Richtung« kletterte. Und vielleicht auch nicht für das aufgebockte, eingepackte DDR-Auto ohne Räder: »Es war die Zeit der totalen Entwertung eines jeden Gegenstandes, der aus der DDR kam«, so Andreas Rost. »Das traf natürlich erst recht auf die Autos zu, auf die man zehn Jahre warten musste.« Möglicherweise kennt nicht jede*r die »Bigfoot«-Show, die im Frühjahr 1990 vor der Werner-Seelenbinder-Halle in Berlin gastierte, wo man u.a. mit größeren Autos kleinere kaputt fuhr oder mit Motorrädern über Autos sprang (Foto 3 und 4). »Der Osten hat das erst mal staunend aufgenommen«, kommentiert der Fotograf. Andreas Rost dokumentierte die Proteste vor der Einführung der gemeinsamen Währung am 1. Juli 1990 (Foto 8) und Leipziger Szenen direkt nach Einführung der D-Mark. Oder eine Wahlkampfveranstaltung der SPD auf dem Berliner Alexanderplatz (Bild 9). »Der Sommer 1990«, sagt Andras Rost mit Blick auf das Foto mit Reiterinnen in der Nähe des Engelbeckens in Berlin-Kreuzberg, »war der schönste Sommer. Die DDR gab es nicht mehr, das vereinte Deutschland gab es noch nicht. Und wir haben damals einfach alles gemacht, auch Reiten auf dem Mauerstreifen.«