Andreas Pflüger und sein Fachberater Bernhard Sabel über die Liaison von Literatur und Hirnforschung, Jenny Aarons Stressfaktoren, toxische Hoffnung, Reparaturmechanismen des Nervensystems und Blindheit als anderes Sehen.
Pflüger: Du hast mir schnell klargemacht, dass deine Therapie nur bei bestimmten Voraussetzungen greift. Darum haben wir für Aarons Schussverletzung ein »Design« entwickelt. Mir war von Anfang an bewusst, dass die Frage, ob sie irgendwann wieder sehen kann, zur Spannung der Romane gehören wird. Also sollte es zumindest theoretisch möglich sein.
Sabel: Das Designen einer Verwundung war eine intellektuelle Herausforderung, etwas kompliziert, würde ich sagen. Mir blieb nichts anderes übrig, als deinen Vorgaben zu folgen. Das mache ich sonst nur bei meiner Frau. Du hattest drei Anforderungen. Erstens: Es musste bei einem Einsatz oder Anschlag passieren, ganz klar also eine Art Neurotrauma. Da war zu entscheiden: Auge, Sehnerv oder Gehirn. Zweitens: Der Schaden musste zu einer kompletten Erblindung führen, von der sich, drittens, Aaron grundsätzlich erholen kann. Ich habe mich dafür entschieden, dass vor fünf Jahren, in Barcelona, ihr visueller Hirncortex von einem Projektil durchschlagen wurde, quer und symmetrisch durch beide Hinterhaupt-Hemisphären. Der anatomische Schaden, ein dünner Kanal, war verhältnismäßig klein …
Pflüger: … um es mit Aarons Worten zu sagen: »So niedlich, wie eine 44er sein kann.«
Sabel: … und das Restgewebe relativ groß, also mit guten Erholungschancen. In der Tat habe ich einmal einen Patienten mit einer ähnlichen Schussverletzung behandelt, dessen siebzigprozentiger Sehverlust sich durch meine Therapie auf ein Drittel verringerte. Die Frage war: Wie erklärt sich bei Aarons »niedlichem Schaden« eine komplette Erblindung? Hier habe ich einen Schockzustand des Gewebes um den Schusskanal herum gewählt, der aus zwei Komponenten bestand: erstens einer »Diaschisis« – bei der es sich um eine Art Übererregung handelt, und zweitens einer stressbedingten Autoregulationsstörung der Blutversorgung. Mit anderen Worten: Lahmlegen des visuellen Cortex ohne massiven Zelltod, jedoch mit funktionellem Stillstand des Cortex. Was hast du mich gepiesackt, bis es passte! Das ist deine Detailverliebtheit, die der eines Wissenschaftlers in nichts nachsteht. Aber die Frage, ob Aaron wieder sehen wird, war bei dir von Anfang an mehr ein Spiel mit Möglichkeiten als ein fester Plan.
Pflüger: Ich kann doch am Beginn einer Trilogie noch nicht das Ende kennen, das muss sich aus dem Erzählen heraus entwickeln, da spiele ich nicht Gott. Ich wollte nur, dass Aaron glücklich wird. Und dazu musste sie erst einmal herausfinden, was Glück für sie bedeutet. Sehen ist sicher kein Patentrezept dafür. Ich halte es mit Lenin und seinem Satz, dass blind zu sein weniger schlimm ist, als nicht sehen zu wollen. Ganz unabhängig von Aaron: Die Welt ist nicht so einfach, dass man vollkommen blind zum Onkel Doktor geht, und der macht dann alles heil.
Sabel: Am liebsten sind mir die Patienten, die realistische Vorstellungen haben und ihre Chancen richtig bewerten. Wir bewirken keine Wunder, völlig normales Sehen ist nicht zu erwarten. Das sage ich gleich vorweg. Sonst entwickelt sich eine »toxische Hoffnung«, die meine Patienten noch mehr stresst, als sie eh schon sind. Am Ende erleben mehr als dreiviertel von ihnen subjektiv oder objektiv Verbesserungen ihrer Sehleistung. Unser Starpatient ist ein junger Mann aus Stuttgart. Auf dem Nachhauseweg nach einer Party wurde er mit einem Baseballschläger fast totgeschlagen. Er hatte ein massives Schädel-Hirn-Trauma, lag für Wochen im Koma und erlitt einen neunzigprozentigen Sehschaden. Als er zu uns kam, wäre er mit der kleinsten Verbesserung zufrieden gewesen. Nach der Therapie hatte sich sein Sehen von zehn auf vierundsiebzig Prozent gesteigert. Dabei hatte sein Augenarzt ihm bescheinigt, dass er ein hoffnungsloser Fall sei. Solche Erfolge haben wir zwar nicht immer – aber oft genug.
Pflüger: Ist das die Standarddiagnose von Augenärzten: Hoffnungslos?
Sabel: Leider ja. Die meisten haben immer noch die pessimistische Haltung, dass sich nichts erholen kann und die Erblindung fast immer unweigerlich fortschreitet. Das ist fatal, weil diese Prognose den Patienten Angst macht und das Problem noch verschlimmert, denn der Stress stranguliert die Mikrozirkulation, die feinen Blutgefäße in Gehirn und Auge, und legt so die Nervenzellen lahm. Das ist es, was bei Aaron unaufhörlich die Erholung blockiert: maximaler Dauerstress.
Pflüger: Vor allem schaut sie nur auf das, was sie verloren hat. Andere hingegen betrachten einen Sehverlust nicht als Gebrechen, sondern als anderes Sehen. Das habe ich zum ersten Mal aus den Texten von Jacques Lusseyran erfahren, der als Kind sein Augenlicht verloren hatte und später sagte, dass sein Sehen sich dadurch verändert hat, aber nicht ausgelöscht worden ist. Er schrieb: »Wenn Blindheit als Entbehrung angesehen wird, dann wirkt sie auch wie eine Entbehrung. Wenn wir an die Blindheit nur denken, als sei sie ein Mangel, den man um jeden Preis kompensieren muss, dann öffnet sich ein Weg, aber er führt nicht weit. Wenn man hingegen die Blindheit als einen anderen Zustand der Wahrnehmung, als einen anderen Bereich der Erfahrung betrachtet, dann wird alles möglich.« Und dann gibt es jene, die ihren Frieden damit machen. Der Kameramann Michael Ballhaus war so jemand. Als er erblindete, sagte er: »Ich habe so viele Bilder in mir, die reichen für ein Leben.«
Sabel: Einer meiner Patienten war Klavierbegleiter in einer Ballettschule in Hamburg. Nach der Therapie hat sich sein Augenlicht nur unwesentlich verbessert, dafür bildete sich sein Riechsinn zurück. Er meinte, ich solle das nicht als Kritik verstehen, seine Nase sei nach der Erblindung so hypersensibel geworden, dass ihn der Schweiß der Tänzerinnen extrem gestört hatte und er eine offene Flasche Wein am anderen Ende des Raumes riechen konnte. Die Therapie habe das normalisiert, dafür sei er dankbar.
Pflüger: Ist das Erkennen nicht viel wichtiger als das Sehen? Es gibt Studien über Menschen, die nach langer Blindheit wieder sehen konnten, es aber nicht vermochten, eine Banane von einem Telefon zu unterscheiden, einen Ball von einem Hund.
Sabel: Oliver Sacks nannte das »Wahrnehmen ohne Bedeutung.« Zwar ist es selten, doch von den Betroffenen wird es als Alptraum erlebt. Sehende werden vom Sehen dominiert. Mehr als fünfzig Prozent des Nervengewebes unseres Großhirns sind mit der Verarbeitung von Sehimpulsen befasst. Wenn dort ein Zellabbau stattfindet, bricht etwas weg, und viele denken dann, das Leben sei zu Ende. Doch das ist nicht der Fall, ganz unabhängig davon, ob eine Therapie greift oder nicht. Da ist Lusseyran ein gutes Beispiel.
Pflüger: Was ist die häufigste Ursache für Sehverlust? Ich nehme an, dass eine Kugel bei Tempo 260 eher die Ausnahme ist.
Sabel: Das ist unterschiedlich; sowohl die Netzhaut im Auge, der Sehnerv oder das Gehirn können das Problem sein. Am häufigsten sind das Glaukom und Schädigungen des Sehnervs. Es fehlt dann ein Teil des Gesichtsfeldes. Da ist nichts schwarz, es ist einfach nichts da, auch kein Bewusstsein einer Abwesenheit. Darum wird das fehlende Sehen oft nicht bemerkt. Evident wird der Gesichtsfeldausfall dadurch, dass man gegen Dinge stößt, immer wieder stolpert oder kleine Gegenstände nicht registriert. Viel tiefgreifender können Schäden im Gehirn sein …
Pflüger: … was zu Doppelbildern oder visuellen Echos führen kann.
Sabel: Richtig. Ein eben betrachtetes Objekt erscheint gleich mehrmals nebeneinander, wie in einem Kaleidoskop. Oder es werden durch die mangelnde Löschung des letzten Bildes zwei Dinge gleichzeitig gesehen. Dann kann es passieren, dass man aus dem Fenster einem fahrenden Auto nachschaut, man sich umdreht und das Auto durch das Zimmer und durch die Wand fährt.
Pflüger: Ich war öfter bei dir in deinem Magdeburger Savir-Center, habe die Tests absolviert und Patientengesprächen beigewohnt, sowohl bei der Aufnahme als auch nach der Therapie. Da habe ich viele glückliche Menschen gesehen.
Sabel: Sie kommen aus der ganzen Welt zu uns und nehmen den weiten Weg auf sich, weil es sonst kein vergleichbares Angebot gibt.
Pflüger: Wie nimmst du diese Menschen wahr?
Sabel: Für viele ist unsere Therapie die einzige Hoffnung. Sie sind unsicher und glauben, nur als Sehende könnten sie wieder glücklich sein. Ein solches Denken führt zu nichts, außer zu Angst und Depression. Wie du ganz richtig angemerkt hast: Auch mit Sehverlust gibt es viele Wege zum Glück. Ich erzähle diesen Patienten von Menschen, die trotz Erblindung zu Zufriedenheit und innerer Ruhe gefunden haben; das ist kein Privileg für Geburtsblinde.
Pflüger: Die haben es natürlich in mancherlei Hinsicht einfacher, weil ihr kognitives System keinen Verlust erlitten hat; sie kennen es ja nicht anders. Ihr Gehirnsystem hat schon früh die besondere Fähigkeit entwickelt, über hypersensibles Hören und Fühlen die Welt wahrzunehmen; dazu zählt selbst die räumliche Orientierung in 3D.
Sabel: Ja. Und was nie da war, hinterlässt keine Wunde.
Pflüger: Elektrostimulation des Gehirns hat sich für mich am Anfang wie Science Fiction angehört. Das spricht Aaron auch in Geblendet an. Dort antwortet dein Alter Ego Professor Reimer: »Tatsächlich wurde das Verfahren bereits im frühen 19. Jahrhundert erfunden. Zuerst hat man es als medizinische Revolution gefeiert, doch dann kam Mary Shelley mit Frankenstein, und die Elektrotherapie galt für lange Zeit als Scharlatanerie.«
Sabel: An der Stirn der Patienten werden Elektroden platziert, über die Mikroströme in die Augen und entlang der Sehnerven ins Gehirn geschickt werden. Es ist eine Art Hirnschrittmacher, der die Zellen der Retina zu synchronen Impulsen zwingt und so das Muster der Hirnwellen verändert. Um Aarons Professor in Geblendet zu zitieren: »Stellen Sie sich Ihren Cortex als einen abgestürzten Rechner vor, bei dem wir den Reset-Schalter drücken. Zehn Tage lang, immer eine halbe Stunde.«
Pflüger: Wenn wir schon bei deinem Alter Ego sind: Wie ist es für dich, eine Romanfigur zu sein?
Sabel: Das hätte ich mir nie träumen lassen. Es ist ein wunderbares, unerwartetes Geschenk. Und deine Recherchen haben mir für meine Wissenschaft etwas gebracht, weil du dich auch auf Feldern umtust, auf denen ich weniger versiert bin: Traumabewältigung, Mobilitätstraining, Alltagsbeherrschung. Vor allem das Klicksonar fasziniert mich, dieses Zungenschnalzen, mit dem Aaron sogar weit entfernte Objekte orten kann.
Pflüger: Dass sie sich, ähnlich wie Fledermäuse oder Delphine, aktiv am Schall orientiert, halten manche meiner Leser für reine Fiktion, doch das ist es mitnichten. In Berlin kann man das beim Verein Anderes Sehen lernen, für den ich bei jeder Gelegenheit werbe, weil ich von dem Engagement dieser Leute total überzeugt bin. In Deutschland waren sie Vorreiter und lassen schon blinde Kinder in Klicksonar unterrichten, ein großer Schritt auf dem Weg zur Selbständigkeit. Im Herbst werde ich in ein Seminar von Juan Ruiz reinschnuppern. (lacht) Allerdings muss ich dafür noch kräftig üben, bis jetzt bin ich ein jämmerlich schlechter Schnalzer.
Sabel: Literatur inspiriert Forschung. Es hat meinen Horizont erweitert und mir neue Ideen geliefert. Ich bin dankbar für diese Zusammenarbeit und dankbar für die Freundschaft, die sich daraus entwickelt hat.
Pflüger: Genau wie ich. Im Nachwort von Niemals habe ich Groucho Marx zitiert: »Es gibt kein schöneres Geräusch als das Zähneknirschen eines Kumpels.« Aber du bist auch ein gutes Beispiel dafür, was meine Romanfiguren so umtreibt: Seit ich dir beiläufig erzählt habe, dass Reimer im nächsten Roman sterben könnte, kommst du mit immer neuen Gegenargumenten, mit Vorschlägen, wie ich ihn auch in Zukunft in die Handlung einbauen kann.
Sabel: Gegen das Sterben habe ich im Prinzip nichts. Aber bitte nicht so bald und vor allem nicht in deinem Roman. Mein Traum ist, dass meine Ideen und meine Therapie weiterleben und etlichen der weltweit einhundertsechzig Millionen Blinden und Sehbehinderten helfen, ein Stück Lebensfreude zurückzuerlangen. Meine Wissenschaft und mein Buch Wieder sehen sind da ein erster Schritt. Und weißt du, was mich richtig freut: Dass so viele blinde Menschen zu den Fans deiner Bücher zählen. Was bedeutet Aaron für sie?
Pflüger: Das ist ganz unterschiedlich. Manche mögen einfach die Action, andere das Freundschaftsthema, die Philosophie oder meine Sprache, da unterscheiden Blinde sich nicht von Sehenden. Für andere ist Aaron ein Vorbild, weil sie ihr Schicksal meistert, sich in jeder Situation wehren kann und keins der gängigen Blindenklischees bedient. Die wissen natürlich, dass Aarons Leben von dem eines »normalen« Blinden meilenweit entfernt ist. So wie eben Jack Reacher von meinem. Manche sorgen sich auch, dass Sehende von Aaron auf die Leistungsfähigkeit von Blinden im Allgemeinen schließen könnten. Aber das liegt denen fern, wie ich aus Leserbriefen und von Gesprächen bei meinen Veranstaltungen weiß; alles andere wäre auch absurd. Dennoch gibt es in der wirklichen Welt durchaus blinde Menschen, die einige von Aarons Fähigkeiten besitzen, und durch dich habe ich gelernt, dass die Neuroplastizität unseres Gehirns der Grund dafür ist.
Sabel: Was bei Geburtsblinden schon früh der Fall ist, entwickelt sich auch bei Späterblindeten nach relativ kurzer Zeit: Der auditive Cortex und der sensomotorische Cortex vermehren die Zahl ihrer Synapsen und nutzen die freigewordenen Zellen zur Ausbildung super-normaler Fähigkeiten. Die sind messbar und wissenschaftlich zweifelsfrei nachgewiesen. Es ist ein besonders beeindruckendes Beispiel, wie unser Gehirn Potential aktivieren kann, das sonst nicht zur Verfügung stehen würde. Jenny Aaron mag Fiktion sein, aber Superblinde gibt es tatsächlich, wie etwa Homer, Ray Charles, den Surfer Derek Rabelo oder den Extrembergsteiger Andy Holzer, von dem du ja ein großer Fan bist.
Pflüger: Sensationeller Typ. Er hat die »Seven Summits« erklommen, die höchsten Gipfel aller Kontinente, und durchstieg unter anderem die Nordwand der Großen Zinne in den Alpen, was schon für jeden Sehenden eine Glanzleistung wäre. Zwar ist Holzer geburtsblind und hat das traumatische Erlebnis eines Sehverlusts nie erfahren. Aber wie wunderbar wäre es, wenn auch Späterblindete ohne Heilungschance sich seine Worte zu eigen machen könnten: »Ich führe ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben. Ich bin ein glücklicher Mensch. Es ist gut so, wie es ist.«