Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Neulich also starb Udo Jürgens. Auch für mich war die Vorweihnachtszeit hart. Im Dezember war ich hauptsächlich in Frankfurt, und die Tage waren noch exzessiver als sonst vor Weihnachten. Es ist nun einmal sehr wärmend, auch innerlich, in der Dezemberzeit in Frankfurt in den diversen Apfelweinwirtschaften herumzustehen, von allen Beteiligten geht ein Leuchten aus, ähnlich wie jenes, das zeitgleich vom Apfelwein in den Schoppengläsern ausgeht. Jeder ist plötzlich damit beschäftigt, sich mit jedem nochmal »vor Weihnachten« zu verabreden. »Sehen wir uns vorher noch?«, ist die Standardfrage. Das führt auf etwas merkwürdige Weise dazu, dass man vor dem 24.12. eigentlich Tag für Tag in jeder Wirtschaft ständig fast alle Bekannten sieht, die man so hat. Und so war auch der 21.12. ein Tag des Hineinfeierns, des Auf-Weihnachten-Zu-Feierns, des »Sehen wir uns vorher noch?«-Feierns. Wahlweise trifft man sich auch zufällig auf dem Weihnachtsmarkt (meistens beim Bockbierstand oder bei Malou, der Elsässerin) oder auf dem Wochenmarkt auf der Konstablerwache beim Günther Sattler vom Odenwälder Sonnenhof. Nach den Weihnachtstagen sind wir alle einer Kur bedürftig, und je älter wir werden, desto gefährlicher wird all das.
Der 21.12. war zufällig auch noch ein Sonntag. Der Sonntag vor Weihnachten ist sowieso immer die Hölle. Alle Wirtschaften knallvoll. Und überall dieses Licht, das irgendwann eine geradezu russische Atmosphäre erzeugt und einem so lustvoll in der Seele schmerzt, dass es kaum auszuhalten ist. Es ist genau so ein kitschiger Effekt wie jener, als Udo Jürgens’ Großvater im »Der Mann mit dem Fagott«-Film auf dem Bremer Wochenmarkt den Mann mit dem Fagott sieht, wie er diese kleine, stereotype Melodie bläst. Die hat auch diesen Schmerz und dieses Licht. Es ist ein einziges Klischee. Ich glaube, es können sowieso nur Klischees so ein Licht und so einen Schmerz erzeugen, egal ob es eine kleine Melodie auf einem Bremer Wochenmarkt im Jahr 1891 im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehfilm ist oder ein Glas Apfelwein in einer Frankfurter Wirtschaft kurz vor Weihnachten im Jahr 2014. Mir hat mal eine Frau aus der Nähe Dresdens eine russische Liedstrophe ins Ohr geflüstert, ihr Mund etwa drei Zentimeter von meinem Ohr entfernt. Es war ein Säuseln. Das war genauso. Es war zufällig auch noch die schönste Frau auf der Welt. Das leuchtet bis heute und tut immer noch weh. Und ist ein einziges Klischee.
Sonntag wiederum bedeutet Buchscheer, da saß ich um 18.11 Uhr am Stammtisch, es war voll wie die Hölle an diesem vierten Advent. (18.11 Uhr: der Moment, da das Telefon brummt, um mir einen Toten zu verkünden). Meine Frau und ich hüteten diesmal in Frankfurt am Main ein Haus von Bekannten (wir wohnen ja neuerdings in Hamburg). Der Sonntag muss so verlaufen sein, dass wir uns am Mittag bereits alle, also die ganze Apfelweinsaufgruppe Frankfurt-Sachsenhausen, mehr oder minder zufällig im Hof der Buchscheer zum Adventsgrillen getroffen hatten. Da steht man mit dem Schoppenglas im Hof, isst Wurst, trinkt erste Schnäpse und ist noch angeschlagen vom Vorabend. Am Vorabend müssen wir im Gemalten Haus und im Wagner gewesen sein, das heißt, im Wagner war ich wahrscheinlich allein, da geht meine Frau nicht mit. Im Wagner steht man beim Stehschoppen und knobelt. Knobeln ist ein wirklich einfaches Spiel, und am Ende wird Schnaps getrunken. Am Nachmittag war ich wahrscheinlich in der Buchscheer gewesen und hatte dort das Spiel Leverkusen-Frankfurt verfolgt, und am Mittag hatten sich alle (ich kann mich nicht daran erinnern, aber es muss so gewesen sein) auf dem Konstabler Markt getroffen. Davor war ich beim Jens Becker in der Apfelweinhandlung in der Brückenstraße gewesen, da gibt es samstags ab 12.00 Uhr traditionell Weck und Wurst (Worscht). Wiederum am Abend zuvor stand ich spät in der Nacht noch mit dem Büffetier vom Wagner und dem Verleger Joachim Unseld in irgendeiner mir unbekannten Bahnhofswirtschaft herum, nachdem wir gerade meine Frau vom Zug aus Hamburg abgeholt hatten. Als Theologin muss sie ja arbeiten. (Als Schriftsteller muss man nur schreiben.) Vorher waren wir beim Spenglermeister Jörg Binder gewesen. Jörg Binder hat blondgefärbte Haare und sieht aus wie eine Mischung aus Campino und einem Frankfurter Spenglermeister. Jörg Binder ist einer dieser Menschen, die alles selber machen. Zum Beispiel baut er sich in den Hof einen Ofen. Seit er diesen Ofen hat, backt er am letzten Freitag vor Weihnachten immer Pizza. Seine Freundin heißt Carmen und ist ebenfalls blondgefärbt. Zusammen heißen die beiden »die Blondies«. Kurz gesagt, wir waren also an diesem Tag alle bei den Blondies, und den schönsten Auftritt hatte H. Er stand am Tisch (wir knobelten und tranken Schnaps), und irgendwann fällt H., steif wie eine Latte, nach hinten um, hält sich am Stehtisch fest und nimmt diesen mitsamt allen Schnapsgläsern mit.
Bei mir fing dieser Tag übrigens damit an, dass in meiner kleinen Frankfurter Restwohnung ein Fenster kaputtging. Ja, jetzt fällt es mir wieder ein, denn vor den Blondies war ich bereits im Gemalten Haus gewesen, da mich mein Cheflektor am Morgen angerufen und gefragt hatte, ob wir uns nicht im Gemalten Haus treffen könnten. Des Fensters wegen kam ich zu spät. Zu den Blondies wollte er nicht mit. Ich war übrigens angeschlagen vom Vorabend. Am Vorabend hatte Wolfgang Wagner, der Wirt meiner Lieblingsgaststätte Zu den Drei Steubern, seinen letzten Abend gehabt, bevor er für Weihnachten zusperrte, da waren wir natürlich auch alle. Ein Jahr vorher, an Wolfgangs letztem Tag vor Weihnachten 2013, hatte ich noch in Frankfurt gewohnt und den schweren Fehler begangen, mir nachts um zwölf noch den letzten Fünfliterkanister Apfelwein an den Fahrradlenker zu hängen. Als der Chirurg im Krankenhaus mir für das Nähen eine Betäubung geben wollte (ich habe neuerdings eine etwa 7 cm lange Narbe über dem linken Auge), habe ich verblüfft gefragt: Wozu? Er nähte dann unter Protest einfach so. Der Apfelweinkanister war leider bereits im Notarztwagen ausgelaufen, den irgendwelche Passanten ohne mein Zutun gerufen hatten.
Am nächsten Tag war übrigens Pizza bei den Blondies (und am Tag danach Adventsgrillen in der Buchscheer). Die Fotos sehen lustig aus.
Kurz gesagt, Weihnachten ist eine üble, gefährliche Zeit, und bei gewissen Gemütern legt sich gegen das Jahresende sowieso ein bleiernes Gewicht auf die Seele. Ein Gegenbild war natürlich immer Udo Jürgens. Der Mann lebte ja sozusagen ewig, und ewig war er von der Zeit unangreifbar. Ich muss übrigens sagen, dass um 18.11 Uhr für einen winzigen Moment auch mein erster Gedanke war, dass es sich nur um einen Selbstmord handeln könnte. Das war für mich in dieser Sekunde spontan die einzig logische Erklärung (ich hatte ja bereits wieder neue Konzertkarten in der Tasche). Für einen Moment stand die Person Udo Jürgens auf der Kippe. Es ist wie mit Zinedine Zidanes Kopfstoß, mit dem dieser 2006 seine Karriere beendete und zugleich ins Absurde und irgendwie nachträglich Schiefe entrückte. Mit diesem Stoß wurde eine ganze Karriere umgedeutet, man liest Zidane seitdem vom Stoß aus rückwärts. Hätte sich Udo Jürgens umgebracht, achtzigjährig, körperlich top in Schuss (er wirkte nur ein bisschen müde und stets wie leicht angetrunken zum Schluss), dann hätte man das als Fahnenflucht auslegen können, die ganze Karriere hätte nicht als die des ewig jungen Göttergeliebten dagestanden, also nicht als die eines Menschen, der einfach vor allen anderen von Natur und Schicksal aus den Vorzug bekommen hat, nicht als die eines Menschen, der irgendwie wie Aeneas oder eine ähnliche Figur aus der Antike mit halbem Fuß in der Götterwelt steht und schon auf Erden irgendwie stets im Himmel aus- und eingehen darf. Nein, sie hätte als die Karriere eines bloßen Hedonisten dagestanden. Für einen Moment dachte ich das, für einen Moment war dieser Zweifel da. Das heißt nichts anderes, als dass ich in diesem Moment nicht mehr wirklich glaubte. Ich hatte ihn im Verdacht. Ich sah für einen Moment einen Tod vor mir, den wenige Monate später Fritz J. Raddatz dann tatsächlich sterben würde. Ich saß um 18.11 Uhr in der Buchscheer und sah für eine Sekunde einen Fritz-J.-Raddatz-Tod als Udo-Jürgens-Tod (auch wenn ich ihn noch nicht so nennen konnte, Raddatz war ja noch nicht tot). Das war, als ziehe man mir den Boden unter den Füßen weg.
Aber nein, Udo Jürgens starb einen exakten Udo-Jürgens-Tod. Einen Tod, der ihn haargenau wiedergibt und auf den Punkt bringt, so wie etwa Schopenhauers Tod Schopenhauer auf den Punkt bringt, und seine ganze Philosophie mit dazu. Schopenhauer setzte sich einfach aufs Sofa und starb. Es war, als habe er sich entschlossen, jetzt mal in seiner Vorstellung ganz von der Welt und seinem Willen Abstand zu nehmen. Sein Tod war eine quasi buddhistische Gelassenheit. Udo Jürgens dagegen starb einfach beim Leben. Er lebte und starb. Er geht essen, dann ein bisschen spazieren, und es hätte noch Jahrzehnte so weitergehen können, und es hätte genauso gut auch zwanzig Jahre vorher passieren können. Gestorben beim Lebensvollzug.
Um 18.11 Uhr brummte also mein Telefon. Ich bekam zwei Nachrichten. Die erste lautete: »Er ist tot.« Die zweite lautete: »Udo Jürgens ist tot.« Die erste Nachricht hätte gereicht. Sie kam von Nina, der Lehrerin aus dem Gießener Raum, mit der ich zu den Konzerten zu gehen pflegte. Beim letzten Konzert standen wir nebeneinander, und sie sagte plötzlich aus dem Nichts: »Es ist diese radikale Emotionalität.« Sie sagte es nach etwa einer Stunde Konzert und hatte damit eigentlich die Udo-Jürgens-Formel gefunden. Udo Jürgens als völlig gelebte Gegenwart. Das große Ja. Der Tod spielte in seinen Liedern keine Rolle. Auch mein verstorbener Verleger war kein Todesmensch. Goethe angeblich auch nicht.
Am 21.12.2014 verließ mich etwas. Irgendetwas Konstantes, immer Vorausgesetztes, eine Art Präsupposition. Mein Leben ging stets davon aus, dass es Udo Jürgens gibt, und ich war absolut überzeugt davon, dass der Mann es ins Heesters-Alter schafft. Aber siehe da, auch das wäre nicht Udo Jürgens gewesen. Udo Jürgens ist der sofortige Abtritt ohne Verzug und Wehmut, ein Tod einfach so. Ungewollt. Und als solcher sozusagen nicht einmal ungewollt. Eher völlig indifferent. Mit einem solchen Tod ist man begabt. Vielleicht liest man nun Udo Jürgens doch auch in gewisser Weise rückwärts. Diese radikale Emotionalität, die, wie wir jetzt wissen, von Anfang an begabt war mit diesem Tod. Der endgültige Gewinn von Leichtigkeit im einundachtzigsten Jahr. In einem Alter, in dem andere einfach alt werden. Bevor er alt wurde, starb er. Wofür andere nur 27 Jahre haben, dafür hatte er 80 Jahre. Udo Jürgens ist vermutlich der älteste Mensch auf Erden gewesen, auf den der Spruch zutrifft: Wen die Götter lieben, den holen sie früh zu sich. Man kann den Mann drehen und wenden, wie man will, irgendwie ist die ganze Konstruktion der Person Udo Jürgens unangreifbar.
In der Buchscheer begannen sie dann an den Tischen die Lieder zu singen. Es war historisch, und jeder wusste es. Jeder der Buchscheergäste wird immer wissen, dass er in der Buchscheer saß, als Udo Jürgens starb. Im Augenblick seines Todes war es jedem unzweifelhaft geworden: Etwas Großes war gegangen.