Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Neulich dachte ich über das Altern nach. Nicht über das Altern an sich, sondern über die Phänomenologie des Alterns. Ich hege nämlich neuerdings die Überzeugung, dass das Altern auf eine ganz gemeine Weise funktioniert und phänomenologisch äußerst geschickt vorgeht.
Das fängt schon damit an, dass man überhaupt erst ab einem gewissen Alter begreift, dass es Altern wirklich gibt. All die Wortlaute über das Altern, die man vorher, als junger Mensch, schon kannte, ohne weiter darüber nachzudenken, weil sie ja nichts mit einem selbst zu tun hatten, bekommen erst ab da einen anschaulichen Inhalt. Mit dem Altern verhält es sich insofern wie mit dem Glauben bzw. Nichtglauben. Der Glaubende hat ja auch keine anderen Worte in seinem Sprachschatz als der Nichtglaubende. Aber für Ersteren sind sie mit Sinn erfüllt, für den Nichtglaubenden nicht. Die Wortlaute selbst bleiben völlig gleich.
Und so gab es natürlich das Altern dem Wortlaut und gewissen Erzählungen nach für mich auch schon, als ich Kind war. Ich hatte ja eine Großmutter und darüber hinaus auch noch eine Urgroßmutter, die sich anfänglich um mich gekümmert hat.
Aber genau hier fängt die Gemeinheit an. Wenn du ein Kind bist, gibt es zwar jede Menge alte Leute, aber kein Altern, denn sie sind ja schon alt, und für dich als Kind ist es so, als seien sie schon von Ewigkeit her alt gewesen. »Die Oma war schon immer alt.« Auch wenn du weißt, dass es sich anders verhält, auch wenn du Fotos aus ihrer Jugend siehst, so hast du doch keine lebendige Anschauung davon. Dass die Oma mal jung gewesen ist, ist reine Theorie. Eigentlich ist die Jugendzeit deiner Großmutter so real wie ein Märchen. Für dich ist die Großmutter alltäglich das, was sie ist: alt. Das Altsein gehört personal zu ihr. In der Kindheit ist alles ewig und war schon von immer her so, wie es ist. So auch »die Alten«.
Dass die Alten sterben, ist am Anfang deines Lebens übrigens auch gar nicht so beängstigend, einfach deshalb, weil man ja selbst nicht alt ist. Und da es Zeit eigentlich noch gar nicht gibt, ist der Tod von dir kategorial verschieden.
Das betrifft übrigens nicht nur die konkreten Menschen um dich herum, sondern – und gleich wird es noch hinterhältiger (man kann daran umso mehr erkennen, wie rhetorisch geschickt das Altern vorgeht, um dich zu täuschen und in Sicherheit zu wiegen) – es betrifft auch Kunst, Literatur, Unterhaltung, also einen Hauptteil unserer sogenannten kulturellen Tätigkeiten. Beispiel: Du liest Asterix, und Miraculix, der Druide, ist erkennbar alt (er hat ja einen Bart). Er ist alt schon von Ewigkeit her, denn du kennst ihn nur so. Es ist nun aber so, dass der Kunst-Miraculix im Gegensatz zu den konkreten Menschen um dich herum tatsächlich immer so bleibt, wie er ist. Und nicht nur das: Bist du 50, sind die ganzen Alten aus deiner Kindheit längst weggestorben. Miraculix aber nicht. Er ist in seinem Alter festgefroren. Er wird auch dich überleben! Fast alle Kunstfiguren sind in ihrer Altersstufe festgefroren. Wer stirbt bei Dostojewski an Altersschwäche? Dostojewski-Romane umfassen meist nur den Zeitraum weniger Tage oder höchstens Monate, hierin funktionieren sie ähnlich wie Theaterstücke. Den Fürsten Myschkin sehen wir weder als Acht- noch als Achtzigjährigen, sondern immer nur in der Blüte seiner angekränkelten Jahre. Auch in Theaterstücken oder Opern ist nie Zeit zum Altern. Und ist mal einer moribund, ist er es sozusagen auch wieder von Ewigkeit her, nämlich seit Anfang des Stückes (es sei denn, man stirbt so schnell wie die Kameliendame bei Verdi, dann reicht für das Siechtum auch das letzte Drittel des Stücks). In der Malerei und Bildhauerei ist es noch schlimmer. Bildende Kunst ist ja gleichsam von der Definition her auf den Punkt genau eingefrorene Zeit. Selbst wer da todkrank ist, wird niemals sterben.
Und wo ist der Roman, der einen Menschen durch ein ganzes Menschenleben führte?
Schauen wir uns die Buddenbrooks an (immerhin der Verfall einer Familie). Auch hier findet kein wirklich komplett durchgeführtes Altern statt. Der Roman teilt von Anfang an in die Jungen und die Alten. Konsul Johann Buddenbrook (Jean) und sein Vater gehören auf die Seite der Erwachsenen und Alten, zumindest hatten sie im Buch nie eine Jugend. Der Leser ist bei den Kindern. Diese werden zwar älter, aber werden sie alt? Thomas wird nach einem Zahnarztbesuch dahingerafft, und Christian ist am Ende zwar abgehalftert, aber keineswegs schon ein Greis. Für Christian interessiert sich der Erzähler übrigens recht zentral, aber schauen wir mal auf den alten Johann Buddenbrook. Er sitzt von Anfang an gleichsam nur als greise Mümmelfigur staffagenhaft in der Ecke und darf höchstens mal mit den Enkeln spielen. Die meisten Alten werden von den Literaten als Mümmelgreise in die Ecke gesetzt und bekommen nie eine Jugend und nie ein Leben.
Proust: Bemerkt man nicht den seltsamen Zeitsprung, der am Ende der Recherche geschieht? Die ganze Zeit ist der junge Marcel der junge Marcel, auch bei der Liebschaft mit Albertine wird er wohl kaum vierzig oder fünfzig Jahre alt sein. Zum Schluss des Mammutwerks läuft er aber durch eine plötzlich greisenhaft gewordene Gesellschaft und gehört selbst zum alten Eisen. Das hat zwar einen hübschen Abhalfterungseffekt (hierin den Buddenbrooks verwandt), aber wie soll das zeitlich möglich sein?
Auch Jesus Christus hat sich das Altern erspart. Vielleicht fing der ganze Jugendwahn ja mit ihm an.1
In der Kindheit und Jugend wie in der Kunst und Literatur gibt es also eigentlich kein Altern, sondern fast immer nur ein Altsein, das jeweils der Person zugerechnet wird wie eine Eigenschaft, wie die Körpergröße oder die Nasenform.
Wenn die Alten dir von ihrer Kindheit, ihrer Jugend und ihrem Leben erzählen, dann stimmt dich das zwar immer etwas wehmütig, und es kommt dir auch stets interessant vor, aber du verlagerst es in eine Frühzeit zurück, die so weit weg ist, dass sie Gegenstand der Paläontologie sein könnte. Als ich, sagen wir, zwölf Jahre alt war, im Jahr 1980, kam mir das Dritte Reich zeitlich in etwa so weit entfernt vor wie das Römische Imperium unter Augustus. Die fuhren unter Hitler zwar alle schon Auto und telefonierten, aber dennoch. Dabei endete das Dritte Reich gerade einmal 22 Jahre vor meiner Geburt. Das heißt zugleich aber auch, dass die Kindheit meiner eigenen Eltern mir »irgendwie« so weit weg vorkam wie das Römische Imperium. Sie sind ja gerade einmal zwei Jahre jünger als das Dritte Reich, Jahrgang 35. Du gewinnst also keine Anschauung von Zeit und Altern aus den Erzählungen deiner Vorfahren, denn du verortest sie in fernster Vergangenheit und hast »Zeit« noch gar nicht gelernt. Und es dauert lang, sehr lang, bis man Zeit lernt, denn solange man sie noch nicht gelernt hat, befindet man sich quasi noch in der Ewigkeit.
Irgendwann kommt dann der Punkt, wo dein Leben den Ewigkeitscharakter verliert (vorausgesetzt, du bist halbwegs durchgekommen und nicht schon längst dahingerafft). Du schaust jetzt auf eine Strecke zurück, die, von mittendrin betrachtet, eigentlich ewig war, die aber jetzt ganz kurz geworden ist. Ich z.B. schaue jetzt auf 47 Jahre zurück. Das war eine ziemlich kurze Ewigkeit. Das weiß ich aber erst jetzt. Dem Wortlaut nach wusste ich es auch vorher schon, weil Leute ab einem gewissen Alter ja davon anfangen zu reden, wie kurz das hier alles ist (so wie ich es hier auch gerade tue). Aber der Wortlaut hatte eben keinen erlebten Inhalt, auch noch vor einigen Jahren nicht. Mir fällt hierzu immer folgender Vergleich ein:
Wenn du jung bist, wird dir Ewigkeit angeboten, das ist in etwa so, als würdest du dauernd von Sterneköchen bekocht und kulinarisch wie im Himmel verwöhnt. Nur leider funktionieren deine Geschmacksnerven nicht. Du kannst absolut nicht schmecken, was dir kostenlos dargeboten wird, und frisst es achtlos in dich hinein.
Dann kommt der Punkt, wo deine Geschmacksnerven plötzlich ihre Tätigkeit aufnehmen. Im selben Augenblick aber ändert sich mit intrinsischer Gemeinheit der Küchenplan, und du bekommst nur mehr Wasser und Brot. Jetzt kannst du nur noch mit Stielaugen verfolgen, wie die anderen, Jüngeren die dir einstmals dargebotenen Köstlichkeiten achtlos verschlingen, und dass es ihnen genauso egal ist, wie es dir war, ist dir kein Trost, weil du jetzt zum ersten Mal weißt, was da vor ihnen steht.
Nächste Gemeinheitsstufe: Jetzt, wo du deine Ewigkeit verloren hast, bist du dauernd von Leuten umgeben, die in der Ewigkeit leben (die Jüngeren, die achtlos an der Sternetafel sitzen). Und alle anderen, die aus Kunst und Literatur, bleiben wie sie sind und altern einfach nicht weiter. Du wirst auch an ihnen vorbei nach hinten durchgereicht, das geht immer schneller.
Und weil du nun weißt, wie kurz deine Ewigkeitsjahre waren, ist dir natürlich um so klarer, was die Jahre bedeuten, die noch vor dir liegen: geradezu nichts.
Aber die Gemeinheit geht noch weiter. Zu deinem Personsein hat Altsein nie dazugehört, und es gehört jetzt auch nicht dazu, weil du ja inzwischen begriffen hast, dass das nur der phänomenologische Fehler der Jüngeren ist. Aber ein leider absolut allmächtig wirkender Fehler: Du bist jetzt nämlich einfach für die alt. Das heißt nicht, dass du für sie jetzt alt geworden bist. Nein, nein! Es heißt einfach, dass du alt bist. Du = alt. Ich bin jetzt für die Jungen einer von denen, die von Ewigkeit her alt waren, denn sie haben Zeit nicht gelernt und genauso wenig eine innere Anschauung davon wie ich früher. Hören sie mein Geburtsjahr 1967, klingt es für sie wie für mich das Geburtsjahr meiner Großmutter. Das ist keine Vergangenheit, das ist schon Vorvergangenheit. 1000 Jahre her, auch wenn wir immerhin damals schon Auto gefahren sind und telefoniert haben wie Adolf Hitler wiederum weitere 1000 Jahre zuvor.
Auf diese Weise führt uns das Altern phänomenologisch an der Nase herum, um uns dann von einer Sekunde auf die nächste auszulachen. Denn plötzlich zieht es von allem den Vorhang weg, und du bist alt.
Aber auch das ist noch nicht alles. Schauen wir beispielsweise auf zwei bekannte Gestalten der europäischen Mythologie bzw. Kulturgeschichte, um zu zeigen, dass das Alter selbst die zu quälen versucht, die von ihm gar nicht erreicht bzw. nicht von ihm hinweggerafft werden können.
Da ist zum einen der unglückliche Tithonos, der Mann der wunderschönen Eos, der Göttin der Morgenröte. Die Geschichte läuft so: Eos liebte Tithonos, was sie den Gesetzen der griechischen Mythologie nach natürlich nicht getan hätte, wenn er nicht äußert attraktiv und vermögend (nach Sappho: jung und schön) gewesen wäre. Sie erbat für ihn bei Zeus ewiges Leben, und Tithonos wurde ewiges Leben gewährt. Tithonos dürfte gejubelt haben: Mit der ohnehin unsterblichen und ewig jungen, rosenfingrigen Göttin würde er nun für immerdar leben und sie lieben können. Das stelle man sich mal am eigenen Leibe vor, ein unfassbares Gefühl: Du bist, sagen wir, 20 Jahre alt, und du weißt, du wirst niemals sterben wie die anderen. Du kannst nun ewig so leben. Tithonos wuchs, vermute ich, zumindest vom Muskelbau noch ein wenig heran, wurde zu einem wirklichen Mann, immer imposanter, und schließlich stand er in der vollkommensten Blüte seiner Jahre – als perfekte Ausgabe seiner selbst (hatte ich etwa mit 34 Jahren). Später kommt dann das eine oder andere weiße Haar, und an den Ellbogen wirst du leicht faltig. Tithonos wird das mit einer gewissen Verwunderung hingenommen haben, denn nun war er schon merklich einige Jahre älter als Eos in ihrem ewig jungen Zustand. Die junge, schöne Frau und der reife Mann. Tithonos betrachtet nachdenklich seine Haut und weiß: Das ist doch gerade das Bindegewebe, das da bei mir nachlässt?! Was soll denn das?
Der klassischen Eos-Tithonos-Erzählung nach geht es so weiter, dass Tithonos immer älter wird, einschrumpft, immer kleiner wird, bis zum Schluss nur noch eine Art Zirpen von ihm zu hören und er auf die Größe einer Zikade eingeschrumpelt ist. Eos hatte einfach vergessen, neben ihrem Wunsch nach ewigem Leben für ihren Geliebten auch noch explizit dessen ewige Jugend mit einzufordern. Ich finde, das müsste man auch gar nicht unbedingt, man kann auch Verträge auf Treu und Glauben machen. Aber das Altern kam sofort herbeigesprungen, rieb sich die Hände und sagte sich: An diesem Objekt werde ich meine Gemeinheit aber mal so richtig demonstrieren. Und da er (Tithonos) nicht gestorben ist, so leben sie noch heute.
Die andere Gestalt aus der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte, die zu nennen wäre, ist Udo Jürgens. Auch mit ihm versuchte das Altern auf hinterfotzige Art umzugehen, wobei Udo Jürgens eher als der umgekehrte Fall, der Anti-Tithonos zu betrachten ist. Da das Altern Udo Jürgens nicht direkt erreichen konnte (da waren die Götter vor: er war mit achtzig noch so jung, dass sein jäher Tod überraschte wie bei einem viel jüngeren Menschen), piesackte ihn das Altern auf andere, nämlich auf philosophische Weise. Er wusste ja: Bald müssen doch endlich Alter und Tod kommen, jetzt habe ich schon so viele Jahre auf dem Buckel, fühle mich eigentlich pudelwohl, aber diese Zahl: 80! Da muss man sich doch mit dem Tod auseinandersetzen! Da muss man sich doch mit dem eigenen Altern auseinandersetzen! Udo Jürgens begann also, ohne eigentlich zu altern, in diversen Interviews über das Altern zu reden. Er reflektierte es, beschäftigte sich damit, erwartete es, philosophierte sich in es hinein und hielt das für seine altersgemäße Aufgabe, zumal er ja auch dauernd danach gefragt wurde. Er pflegte in den letzten Jahren auch stets zu sagen, er wolle dann nicht mehr auf der Bühne stehen, wenn es lächerlich würde. Er wollte nicht als Zikade auf der Bühne herumzirpen wie Johannes Heesters.
Das Absurde dabei ist: Udo Jürgens ist einfach so gestorben, ohne rechtes Altern. Er starb genauso plötzlich wie ein Zwanzigjähriger. Ein Zwanzigjähriger aber lebt in der Ewigkeit und muss sich über den ganzen Mist keinerlei Gedanken machen. Ergo hätte auch Udo Jürgens, hätte er gewusst, wie er sterben würde, sich keinerlei Gedanken machen müssen. D.h., de facto musste sich Udo Jürgens mit dem ganzen Komplex Altern gar nicht befassen. Er starb einfach vorher. Aber das hinterfotzige Altern hat ihm doch genau diese Gedanken in den Kopf gesetzt, denn alles andere wäre ja auch eine ziemliche Hybris von Seiten des österreichischen Sängers gewesen. Das heißt, das Altern hat, wenn nicht körperlich, so doch wenigstens mental versucht, auch ihm das Leben zu vermiesen. Auch ihm hing es in den letzten Jahren im Ohr und flüsterte und flüsterte: Zeit vergeht … Zeit vergeht … nimm dich in acht … pass nur auf! … du wirst schon noch sehen! …
So sehe ich Udo Jürgens in den letzten Jahren dasitzen und darauf warten, alt zu werden, weil ihm niemand sagte, dass er gar nicht alt werden, sondern jung sterben würde, wenn auch mit achtzig.
Das ist die Phänomenologie des Alterns. Mieseste Strategien, ekelhafteste Bauernschläue, dreckig und verworfen. Alle verarscht es, dich, mich, die griechische Göttin mitsamt Gatten, selbst einen Udo Jürgens. Und dennoch ist Udo Jürgens der Einzige von uns allen, der dem Altern eine Nase gedreht hat. Am 21.12.2014 ist er ihm auf grandiose Weise – und wie nur er es konnte – einfach von der Schippe gesprungen.
1Sein Nachfolger Wojtyla hat dieses fehlende Element dann immerhin medial am eigenen Leib nachzureichen versucht.