Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Neulich (am 27.2.) erhielt ich eine SMS von meinem Bruder aus Berlin. Es handelte sich wieder einmal um eine Todesnachricht. Immer wenn jemand stirbt, brummt es in meiner Tasche.
Mein Bruder ist fünf Jahre älter als ich. An Weihnachten erwischte es ihn diesmal eiskalt, denn er besuchte mich über die Feiertage in Frankfurt, das heißt, vier Tage nachdem es wegen Udo Jürgens in meiner Tasche gebrummt hatte (21.12.). Mein Bruder bekam also den ganzen Frankfurter-Apfelweinwirtschafts-Sermon über Udo Jürgens ab, obgleich er mit Udo Jürgens nichts anfangen kann und dieser ihm völlig egal ist. Zur Erinnerung: Es waren die Tage, als der halbe deutschsprachige Raum an einem Udo-Jürgens-Tinnitus litt, denn nicht nur überall in den Läden, die man betrat, war aus dem Radio Udo Jürgens zu hören, sondern auch nachts dudelte der Kopf stundenlang alles von Udo Jürgens, was man kennt. Bei mir dauerte dieser akute Tinnitus ca. zwei Wochen. In der ersten Januarwoche wurde es langsam besser.
Natürlich baute mein Bruder im Verlauf der Weihnachtstage die übliche Front gegen Udo Jürgens auf. Für ihn war er bloß ein Schlagerstar, und da mein Bruder selbst ausgebildeter Marxist und ein exzellenter politischer Demagoge ist, konnte er auch den sozial- und zivilisationskritischen Kämpferauftritten von Udo Jürgens nur ein müdes Lächeln abgewinnen. Udo Jürgens = Teil des Systems.
Eigentlich hatte sich mein Bruder bei uns in Hessen erholen wollen. Sein Lebensweg bis hin zum Weihnachtsfest 2014 in kurzen Worten: Das früheste Zeugnis aus seinen Händen, von dem mir berichtet wurde, war die Saturnrakete, die mein Bruder zeitgleich zur Mondlandung mit sechs Jahren baute (Revell) und die meine Schwester gleich wieder zerstörte. Frühkindliche Erinnerungen, die ich an ihn habe, zeigen nie ihn selbst, sondern Fernsehfiguren, zum Beispiel Commander Straker aus der Sci-Fi-Serie UFO, der bis heute bekannt ist durch seine wasserstoffblonde Frisur. Mit Lego wurde in unserer Familie die Mondstation aus der Serie nachgebaut. Dann kam der 27. Mai 1972, ein Samstag. Ich habe dieses Datum schon vor Jahren und noch in meiner Vorinternetzeit rekonstruiert, heutzutage geht das natürlich auf Knopfdruck. An diesem Tag gab es ausnahmsweise keinen Bundesligafußball, denn zur Vorbereitung des EM-Turniers und zur Einweihung des Münchner Olympiastadions hatte am Vortag das Spiel BRD-Russland stattgefunden. Deshalb wurde keine Sportschau geschaut, sondern der andere Kanal, das ZDF. Mein Bruder stand damals zehn Tage vor seinem zehnten Geburtstag (Udo Jürgens war damals 38). An diesem Tag sah er ihn zum ersten Mal: Mr. Spock (zu der Zeit 41).
Ab Raumschiff Enterprise hatte mein Bruder einen geraden braunen Pony, wie er heute wieder bei manchen Schriftstellerinnen mit osteuropäischem Einschlag in Mode ist. Er wurde von da an immer mehr zum Techniker und Logiker. Für die Fleischmann-Modelleisenbahn entwarf und lötete er alle Schaltungen selbst. Er schrieb Programme für Taschenrechner, besaß als Erster im Landkreis einen Pet 2001 (das war der erste bezahlbare Homecomputer, noch lange vor dem Commodore 64), gründete mit siebzehn oder achtzehn seine erste Softwarefirma, floh 1981 mit seiner Firma über Nacht nach Westberlin, weil er aus dem Atombunker, in dem er seinen Ersatzdienst leistete, durch Hinweise auf gewisse Missstände wegen Zersetzung rausflog und am nächsten Tag der Gestellungsbefehl für die Bundeswehr kommen sollte. In Berlin startete die Firma durch, Geschäft immer größer, zeitweise Dutzende Angestellte, Filialen in New York, San Francisco. Ich komponierte für seine Computerspiele die Musik und machte gutes Geld, da war ich sechzehn, siebzehn.
Schnitt. Von all dem ist nichts geblieben. Heute lebt mein Bruder auf dem Existenzniveau eines Fahrradkuriers. Microsoft etc. konnte er nicht überleben. Und als aufklärerischer Marxist und permanenter Optimierer von Betriebsabläufen macht man sich auch in Berlin nicht unbedingt beliebt. Mundus vult decipi.
Es ist nun so, dass sich dieser ganze Lebenslauf eigentlich von Spock her erklärt. Mein Bruder ist sozusagen die realweltliche Ausformulierung dieser Figur. Mein Bruder ist die Beantwortung der Frage: Was wäre aus Mr. Spock geworden, wäre er hier und jetzt geboren, das heißt, genauer gesagt, im Juni 1962 in Bad Nauheim in der Wetterau, und zwar an der Stelle meines Bruders. Die SMS, die mir mein ansonsten ganz und gar unpathetischer Bruder am 27.2. schrieb, lautete: „spock ist tot. der wichtigste mensch meines lebens.“
Um zu ermessen, was diese SMS aus den Händen meines Bruders bedeutet, muss man sich nur Spock beim Schreiben einer solchen SMS vorstellen. Sicher würde er diese SMS, und zwar aus zwingend logischen Gründen, nur einmal in seinem Leben schreiben, denn der Superlativ würde von ihm, dem Sprachkorrekten, natürlich ernstgenommen. Vor allem erwartet man eine so empathische SMS nicht alle Tage von einem Spock. Man weiß: Schreibt Spock so eine SMS, dann hat das nichts mit unserer normalen Gefühlsduselei zu tun. Sondern es ist ein Faktum. Und als Faktum ist es beweis- und analysierbar.
Analyse: Lassen wir Logik, Technik und Distanz zu Gefühlen mal außer acht, das sind ja die gängigen Spock-Klischees (übrigens auch die des neuen BBC-Sherlock, der sehr spockig geraten ist), sondern gehen wir gleich zum richtigen Gegenspagat über: Mein Bruder ist durch Spock Marxist geworden. Natürlich ist er in erster Linie durch Marx zum Marxisten geworden. Aber als er kurz vor seinem zehnten Geburtstag stand, kannte er Marx noch nicht, außer vielleicht als Schimpfwort (wir kommen aus einem CDU-Haushalt).
Das Erste, was meinen Bruder prägte, war technische Machbarkeit. Es wurde ihm durch die Serie Raumschiff Enterprise, sagt er, zwar keine utopische sozialistische Gesellschaft vorgeführt, aber eine Gesellschaft, deren technische Möglichkeiten so weit waren, dass sie a) sich selbst versorgen konnte und b) Arbeit dafür weitgehend überflüssig geworden war. Die Ressourcen standen allen zur Verwertung offen, und der Umweg über Geld, Schaffung von Mehrwert und Arbeitskraft war nicht mehr nötig. (Hm, und was ist mit all den Minenarbeitern auf den fremden Planeten, machten die das freiwillig?)
Mit der Zeit festigte sich bei meinem Bruder die – wie wir heute wissen – nicht ganz falsche Einsicht, dass wir die Stufe der technisch machbaren Vollversorgung von Gesellschaft oder gar Menschheit spätestens in den Siebzigerjahren erreicht hatten. Allein, es hapert bei der Verteilung. Wieso hapert es bei der Verteilung? Es hapert aufgrund von Partikularinteressen. Partikularinteressen sind bei kompletter Versorgungsmöglichkeit allerdings was? – genau: unlogisch. Eine ganze Reihe humaner Affekte sind unlogisch: Machtstreben, Streben nach außergewöhnlichem Reichtum etc. Mit Spock gedacht, sind es also die menschlichen Seiten am Menschen, die dem Menschen Probleme bereiten (!). Da laut dem Spock‘schen Gesetz der Einzelne weniger wichtig ist als die Allgemeinheit, ist es also was, wenn der Einzelne sich selbst, aber nicht die Allgemeinheit zur Maxime macht? Richtig. Unlogisch.
Seitdem verfolgte mein Bruder zwei Wege in seinem Denken. Ersten war sein Sci-Fi-gestützter Geist ständig damit beschäftigt, vernünftige Konzepte für dies und das zu entwickeln. Etwa für den Individualverkehr (der so, wie er jetzt läuft, was ist? Richtig! Unlogisch!). Geld lehnt er ohnehin ab, das kann man ja auch verstehen. Im Geld sind all die schönen unlogischen menschlichen Affekte aufgehoben, eingekapselt und quasi steril verwahrt. Aber sie sind eben drin. Und kommen irgendwann wieder raus, und zwar ziemlich geballt.
Der andere Weg war der politisch-ökonomische, mein Bruder wurde zum Spezialisten in Sachen Marx. Heute kann mein Bruder wunderbar jeden Fehler dieser Welt erklären. Dass die Welt weiterhin ständig alle ihre Fehler begeht, und darunter auch den größten ihrer Karriere, den Kapitalismus, kann er allerdings nicht erklären, denn das ist nichts anderes als – unlogisch.
Das ist mein Bruder. Ein einziger Vernunftappell an die Menschheit, allerdings vorläufig noch ohne realpolitische Auswirkungen. Auch auf dem Raumschiff ist Spock ja nur Erster Offizier, aber nicht Chef. Der Chef des Raumschiffs ist ein egobesessener, halbwegs sexsüchtiger, adrenalingesteuerter Haudrauf. Das könnte man jetzt wiederum auf die gesamte Menschheit beziehen. Aber darüber hat Rainald Goetz neulich schon einen Roman geschrieben, das muss ich hier nicht nochmal tun.
Spock ist also ein nicht gerade vieldimensionales Wesen. Mit Heidegger und Geworfenheiten etc. hätte er nicht viel am Hut haben können. Das wäre ihm zu unlogisch gewesen. Das Laster hat er nicht hochleben lassen. Doch nun ist er tot.
Hier muss nun Udo Jürgens ins Spiel kommen. Udo Jürgens ist der komplette Anti-Spock. Er ist auch kein Captain Kirk, also der rotzfreche Draufgänger, der die Macht hat. Er ist natürlich auch nicht Doktor McCoy, obgleich er auch von ihm gewisse Züge trägt. Udo Jürgens hätte sich sicherlich nicht mit Sulu überworfen, und es ist vermutlich jedem klar, dass er von Uhura nicht die Finger hätte lassen können. Er hätte sowieso von den ganzen Kurzrockdamen im Raumschiff nicht die Finger gelassen. Und das nun ist eine erste Annäherung an Udo Jürgens als das außergewöhnliche Kulturphänomen der letzten Jahrzehnte. Raumschiff Enterprise funktionierte wie die griechische Mythologie. Die Rollen in der Antike waren verteilt, abgegrenzt, die Welt war zwar chaotisch aufgrund der unterschiedlichen Temperamente der Götter, aber zumindest doch leicht fassbar. Enterprise war ähnlich strukturiert: Irgendwann wurde Spock mal wieder logisch, McCoy warf ihm daraufhin Gefühlskälte vor, Kirk entschied am Ende, und die Rothemden waren schon nach fünf Minuten alle tot.
In Udo Jürgens ist nichts geschieden. Er hat sich auch nie für eine Seite entschieden. In Udo Jürgens wurde alles das immer zusammengedacht und zusammengelebt. Weil der Person Udo Jürgens nicht an Zersplitterung von Sein und an Parteiungen gelegen war, hat diese auch die sogenannte Mitte nicht aufgegeben. Mitte ist eigentlich unmöglich. Mitte steht für gar nichts. Mitte sind die Mitläufer. Ein Biermann nahm entscheidend Partei. Der wagte was, der sagte was. Hannes Wader kämpfte auch auf den Barrikaden. Udo Jürgens dagegen sang Lieb Vaterland, („Konzerne dürfen maßlos sich entfalten“), im nächsten Augenblick aber schon wieder Es wird Nacht, Senorita („Nimm mich mit in dein Bettchen“). Andere wurden Wissenschaftler, entwickelten Theorien, oder sie wurden mächtig, gingen in die Wirtschaft, in die Politik und in andere Bordelle. Bei Udo Jürgens ist das alles zeitgleich zu denken, aber nicht so, dass die Gegensätze sich dadurch aufheben und unsichtbar werden bzw. austarieren, sondern im Gegenteil. Im guten Sinne steht Udo Jürgens für alles und nichts zugleich und ist damit das unextreme, weil nicht ins einzelne Extrem gehende Abbild unserer Menschenwelt. Und weil er nicht in ein einzelnes Extrem geht, was ja Vereinfachung, Strukturierung und Sublimierung bedeutet, sondern in alle Extreme zugleich, ist er mehr als alles andere das extremste Abbild dieser unserer selbstgeschaffenen Menschenwelt. Um zu verstehen, wie Udo Jürgens als Erzählung über uns funktioniert, können wir ihn zum Beispiel in eine Raumschiff-Enterprise-Szene übersetzen. Erst das ganze Rollenspektrum würde ihn abdecken.
Kirk-Jürgens: Sollten wir nicht diesen Planeten da unten retten, er wird von einer zutiefst inhumanen, mörderischen Rasse besiedelt, die dazu noch die ganze Luft vergiftet und den Boden verpestet etc.?
Spock-Jürgens: Captain, wir müssen einsehen, dass die Menschen so sind, wie sie sind. Jeder hat ein Recht, zu sein, wie er ist. Das ist die oberste Direktive.
McCoy-Jürgens: Sie gefühlloser, ausgetrockneter Automat, sehen Sie nicht, dass es sich um fühlende Wesen handelt, die da unten zugrunde gehen?
Sulu-Jürgens: Captain, neuer Kurs?
Scotty-Jürgens (über Bordfunk): Der Antrieb ist kaputt, aber ich tue, was ich kann. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Heute beginnt der Rest unseres Lebens.
Chekov-Jürgens (sagt nichts, schaut Uhura auf die Beine, summt Siebzehn Jahr blondes Haar).
Na ja, so ganz geht das doch nicht auf. Wenn ich mir den so aufgesplitterten Udo Jürgens auf der Enterprisebrücke vorstelle, habe ich seltsamerweise eine ganz andere Vorstellung. Das Raumschiff würde dann einfach seinen Betrieb einstellen. Jeder würde nur noch tun, wozu er gerade Lust hätte. Ich habe da tatsächlich so eine 68er-Vision, mit ziemlich viel Party, ein paar Drogen, alle sind ziemlich leicht bekleidet, und es wird alles ziemlich bunt zugehen. Auch das ist Udo Jürgens: Mit ihm wäre niemals ein Staat zu machen gewesen, und erst recht kein ordentlicher Raumschiffbetrieb. Aber das ganze Chaos hätte er wunderbar und vor vielen Tausenden Leuten bei stets ausverkauften Konzerten auf die Bühne gebracht und dabei ziemlich viel Geld verdient. Mein Bruder wäre an ihm verzweifelt. Er wäre nach Vulkan zurückgekehrt.