Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen.
Mit diesem Beitrag endet Andreas Maiers »Jahr ohne Udo Jürgens« im Logbuch. Allerdings geht es in Buchform weiter. Der Band erscheint am 23.11.2015 unter demselben Titel wie die Kolumne, »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«, bei Suhrkamp. Neben sämtlichen von Januar 2015 an online publizierten Beiträgen sind darin sechs weitere unveröffentlichte Texte enthalten – mit Ausnahme dieses letzten Beitrags: »Schlussbild« ist ausschließlich im Logbuch zu lesen.
Neulich dachte ich an die Frühromantiker. Sie gruben sich ins Universale ein, um zu schauen, was da überhaupt ist. Der Bergwerker Novalis fand für seine Vorgehensweise zwar nicht das Bild des Minen- oder Grubenarbeiters, aber das des Senkbleis, mit dem man schaut, wie weit es in die Tiefe geht.
Im Grunde stand ich am Anfang des Jahres vor so einem Erdzugang. Da war ein Loch, deutlich sichtbar, aber ich wusste nicht, wie tief es hinunterführen würde. Es war das Udo-Jürgens-Loch. Und ich wusste, ich werde da jetzt hinunterklettern.
Abschließend muss ich noch die Frage beantworten, die mir im Verlauf des Jahres oft gestellt wurde: Warum gerade Udo Jürgens? Warum nicht, sagen wir, Lemmy Kilmister? Oder Bon Scott, sehr postum? Über den musikalischen Udo Jürgens und den öffentlichen Udo Jürgens habe ich hier oft geschrieben, damit lässt sich die Frage nicht beantworten. Es musste noch etwas anderes hinzukommen, damit Udo Jürgens zu Udo Jürgens werden konnte. Es handelt sich um eine weitere Person.
Diese Person ist mein geburtsbehinderter, im Jahr 2001 verstorbener Onkel J. Udo Jürgens ist ganz offenbar mein zweiter Onkel J.
Die Existenz meines Onkels verdankt sich wiederum der Wiener Zeitschrift Volltext. Dort schreibe ich seit nunmehr elf oder zwölf Jahren eine Kolumne unter dem Titel »Neulich«. Auch die vorliegende Kolumne beginnt mit dem Wort »neulich«. (Ich beginne fast alle Texte außer meinen Romanen mit dem Wort »neulich«. »Neulich« ist ein Universalwort.)
Die Kolumne für Volltext schreibe ich immer ad hoc, und ich habe noch beim ersten Wort keine Ahnung, wovon ich gleich schreiben werde. Ist das erste Wort allerdings geschrieben, fällt das zweite schon deutlich leichter. Deshalb ist es vergleichsweise entlastend, über das erste Wort gar nicht nachdenken zu müssen.
Einmal, vor vielleicht acht oder neun Jahren, war unmittelbar vor einem Kolumne-Abgabe-Termin unsere russische Gartenhilfe Hoffmann verstorben. Hoffmann war Russlanddeutscher und früher keine Gartenhilfe, sondern Dozent an einer Ingenieurshochschule in Omsk gewesen (in einem meiner Romane spielt er eine gewisse Rolle). Als er starb, legten sie ihn in einen zu klein ausgeführten Sarg, woraufhin Hoffmann zurechtgesägt wurde, was seine Frau vom Nachbarzimmer aus mitbekam. Als sie vor Schreck in den Raum mit dem Sarg lief, war der Deckel schon zu und wurde nicht mehr geöffnet, so sehr sie es auch verlangte. Darüber schrieb ich dann eine Kolumne, die viel zu lang wurde und mit der letzten Beerdigung begann, die ein Mitglied aus meiner Familie betraf: meinen Onkel. Es war einer dieser typischen »Ich schweife erst mal ein bisschen ab und komme dann zur Hauptsache«-Einstiege, mit denen man sich gleichsam erst einmal ein bisschen locker macht. Noch im Augenblick, da ich den ersten Buchstaben schrieb, wusste ich nicht, dass gleich mein Onkel zum ersten Mal das Licht der Welt erblicken würde. Ich machte dann den Onkel zum Hauptgegenstand und kürzte den im Sarg zusammengekürzten Hoffmann notgedrungen ganz raus, den Armen.
Ich schaute mir meinen Onkel auf dem Papier an und traute meinen Augen nicht, was ausgerechnet er, der sein Leben lang Benachteiligte, dort konnte und wie leicht und zwanglos er sich auf dem Papier bewegte. Lange Zeit war ihm viel mehr möglich als den meisten anderen, und er war einfach aus dem Nichts gekommen.
Am Reißbrett hätte ich eine solche Figur nicht entwerfen können. Sie kam vielmehr ganz unmittelbar und plötzlich in mein Leben, nahm mich an die Hand und begann mich zu führen. Ohne meinen Onkel hätte ich die Wetterau nicht gefunden, und ohne die Wetterau hätte ich nicht zur Ortsumgehung gefunden. Auch was meinen Onkel – und damit die Wetterau – angeht, verhält es sich wie oben: Eigentlich ist es ein Steinbruch von Fragmenten, den ich abtrage, um zu finden, was da eigentlich sei. (Novalis war Bergmann, meine Großeltern immerhin Steinmetze. Steinbrüche hatten wir zwei.)
Auch Udo Jürgens kam bei mir zum ersten Mal in Volltext vor, zwei, drei Monate vor seinem Tod. Dann schrieb ich eines Tages für die FAZ über eines seiner Konzerte und war erstaunt darüber, was dabei herauskam.
Und im Augenblick seines Todes wusste ich, dass ich in Udo J. einen zweiten Onkel gefunden hatte. Mein Kopf kam ins Erzählen, und ich hatte das Gefühl, dass auch Udo Jürgens sich sehr gut würde auf dem Papier bewegen können, nicht festgelegt, ganz vielseitig und stets unerwartet. Eine sehr freie Figur, wie mein Onkel. Frei vielleicht gerade durch die scheinbare Festgelegtheit: Mein Onkel war geburtsbehindert, Udo Jürgens weltberühmt (man kann das ja durchaus mal vergleichen). Wobei ich meinen Onkel immer in Nahsicht bringe und szenisch denke, Udo Jürgens aber für mich von Anfang an eine Theoriefigur war. Quasi so etwas wie ein soziologischer, kulturgeschichtlicher Schlüsselbegriff. Ein Schlüsselbegriff allerdings, der glücklicherweise im Kern adiskursiv bleibt und daher in verschiedenen Sprachbewegungen umkreist und umspielt werden muss bzw. kann. Du kannst jedes thematische Gewicht an ihn hängen, er trägt es und macht es leicht. Du kannst durch ihn hindurch auf die Welt zugreifen.
Die Welt ist ja meistens versperrt. Zumindest was das Schreiben angeht. Sie öffnet sich einem nicht so leicht, wie man sich das gemeinhin vorstellt. Man kann ihr genauso wenig wie einem Menschen gegenübertreten und befehlen: Jetzt mach mal das und das! Man kann der Welt nicht sagen: Ich will jetzt das und das von dir! Darauf reagiert kein Mensch, und die Welt tut das auch nicht, vor allem nicht beim Schreiben. Beide werden eher unwirsch.
Man muss immer erst lange Zeit umeinander herumgehen, sich anschauen, sich beschnüffeln, sich kennenlernen, wie bei einem Gespräch. Die Welt ist da sehr spröde. Man muss ihr das übrigens zugestehen, wenn sie sich entzieht. Wenn du sie einfach so herbeizitierst wie deinen eigenen Köter, wirst du, gelinde gesagt, Scheißseiten schreiben. Schreiben ohne Wartenkönnen heißt im Regelfall: leblose, gesuchte, auserzählte Dinge schreiben.
Und dann kommt so ein Mensch wie mein Onkel J. oder wie Udo J. auf mich zu. Und wir kommen gleich ins Plaudern. Und ich denke über beide: Ich habe von euch ja gar nichts gewollt, und hätte ich etwas gewollt, hättet ihr das sofort gemerkt und euch zurecht quergestellt. Deshalb heißt ja auch mein Lebensmotto: Nichts wollen.
Das ist doch mal ein schönes Schlussbild: Onkel J., Udo J. und ich. Hätte Udo J. je ein Lied über Onkel J. gemacht, hätte das vielleicht ganz ähnlich geklungen, wie wenn ich über meinen Onkel schreibe. Ich kann ja die schlimmsten Dinge über meinen Onkel schreiben, von seinem unerträglichen Geruch bis zu der Plastiktüte in seiner Hand mit den entsprechenden Magazinen darin, aber eines kann ich nicht: ihn aus der Liebe entlassen. Und genau das hätte das Udo-Jürgens-Lied auch nicht gemacht. Auch er hätte meinen Onkel, als Gegenstand seiner Lieder, nie aus der Liebe entlassen.