Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Für Conny Heuser
Neulich traf ich C. C. ist eine Frau, wir begegnen uns immer nur zufällig. Die besagte Begegnung fand diesmal am Rand des Marktes auf der Konstablerwache statt, es war noch winterlich kalt, es muss also im Februar oder März gewesen sein, nicht lange nach Udo Jürgens’ Tod.
Unsere Begegnungen sehen immer so aus, dass wir uns mehr oder minder in die Arme laufen. Ich sehe C. nie aus der Ferne kommen, sondern wir stehen immer plötzlich unvermittelt voreinander.
Kennengelernt haben wir uns folgendermaßen: C. sitzt im Stadion (Eintracht Frankfurt) drei Reihen unter mir, seit ewigen Zeiten, was zur Folge hat, dass ich sie schon seit Jahren vom Sehen kenne, sie aber mich nicht, denn ich sitze ja hinter ihr. Immer sehe ich sie mit ihrem Freundeskreis zum Platz gehen, manchmal sind sie auch nicht da, dann stehen sie, denn sie haben, wie ich inzwischen weiß, auch ein paar Stehplatzdauerkarten.
Eintracht Frankfurt ist ein Verein, über den man nicht viele Worte verlieren muss. Er ist nicht gerade besonders beliebt. Und es gab eine Zeit, da waren wir nicht nur ans Siegen nicht mehr gewöhnt, sondern teils auch ans bloße Toreschießen. Ja, vor ein paar Jahren gab es diese Zeit, da saß ich im Stadion, es fiel ein Tor, und ich überlegte, wann eigentlich zum letzten Mal ein Tor für diesen Verein gefallen war. Manchmal fiel es mir gar nicht mehr ein.
Udo Jürgens hätte in folgenden Zeilen fast Eintracht Frankfurt porträtiert, wenn er nicht zwei Worte darin verwendet hätte, die nicht auf Eintracht Frankfurt passen. Es sind die Worte »scheint« und »diesmal«:
»Ein Raunen geht durchs Stadion / du holst den Ball nicht mehr ein. / Da kommt der Gegner / und er scheint stärker zu sein. // Ein Schrei sagt dir, du bist geschlagen / ihr lasst die Köpfe hängen / diesmal hast du verloren.« (Udo Jürgens, Libero)
Der Gegner ist stärker, und du bist nicht diesmal geschlagen, sondern diesmal schon wieder – dann ist es Eintracht Frankfurt. (Zumindest war es in den letzten zwanzig Jahren meistens so.)
Udo Jürgens dagegen war ein Siegertyp. Niederlagen kannte er, klar, aber auch Bayern München kennt Niederlagen. Bei den Bayern scheint der Gegner manchmal stärker zu sein, und die Bayern sind hin und wieder sogar auch geschlagen (= diesmal). Und bei Libero dachte Udo Jürgens natürlich an Franz Beckenbauer. Über einen Eintrachtspieler (Gert Trinklein?) hätte er nie ein Lied geschrieben. Denn er war, wie gesagt, vom Naturell her eben ein Siegertyp.
Eines Tages, vor Jahren, ich hatte ein halbes Jahr zuvor geheiratet, saß ich im Stadion, wie immer leicht nach vorn gebeugt und nichts Gutes ahnend. Eine nervöse Kutschbockhaltung – eine Haltung, in der wir alle mit den Jahren zu alten, nervösen, schlechtgelaunten Männern geworden sind. Man könnte uns malen, wie wir da sitzen. Ich hatte im April geheiratet, nun war es kalt geworden. Neben mir hatte wie immer mein Freund Stefan Götz Platz genommen, daneben Ekkehard Nahm. In der ca. 80. Minute fällt ein Tor für Eintracht Frankfurt. Wir alle explodieren aus unserer Lethargie heraus und bejubeln das Tor, das auch tatsächlich spielentscheidend werden sollte.
Tor: Man sitzt, übel gelaunt, Kutschbockhaltung, plötzlich ein Angriff aus dem Nichts, Ball im Netz, alles springt auf, jubelt, klatscht sich ab, anschließend sitzt man wieder, noch ängstlicher als zuvor.
Ich sitze also wieder da und betrachte rein zufällig meine Hände. Etwas macht mich stutzig. Mein Ehering fehlt. Wie kommt das zustande? Habe ich ihn gar nicht angezogen? Manchmal ziehe ich ihn nämlich nicht an. Ich versuche mich an den Morgen zu erinnern und daran, ob ich den Ring heute überhaupt in den Händen gehalten habe. Ich kann mich aber nicht erinnern.
Währenddessen wird Stefan Götz darauf aufmerksam, dass ich etwas seltsam dasitze. Ich schaue nämlich meine Hände immer entgeisterter an. Wo ist dieser Ring? Er fragt mich, was los ist, aber ich denke so eilig nach, dass ich nichts sagen kann. Ich habe doch diesen Ring jetzt nicht etwa verloren??
Da Stefan Götz aber Latinist und Mathematiker ist, erfasst er die Situation recht schnell und weist mich auf eine Person drei Reihen vor mir hin, die ihre rechte Hand hoch hält. Die Hand ist mit einem schwarzen Handschuh versehen, und über den Zeigefinger ist ein goldener Ring gestülpt. Sie schaut sich suchend um und zeigt dabei den Ring. Offensichtlich meinen Ring. Die Person ist C.
Ich hatte ihn beim Torjubel verloren. Ich ließ ihn sofort in der nächsten Woche kleiner machen. C. habe ich seitdem ein bisschen kennengelernt. Immerhin ist sie die einzige Person außer mir, die jemals meinen Ehering getragen hat. So etwas verbindet. Wir haben schon ein Bier und auch bereits einen Apfelwein zusammen getrunken. Und bei der Begegnung an der Konstablerwache fragte ich sie natürlich die Udo-Jürgens-Frage: Wie hast du den 21.12.2014 erlebt? Ich habe bereits erwähnt, dass ich diese Frage wahllos so gut wie allen Personen stelle, manche erinnern sich gar nicht, viele erzählen dasselbe: nämlich dass sie davon um 18.00 Uhr in den Nachrichten gehört haben.
(Nota bene: Es brauchte wohl schon einen Tod wie den von Udo Jürgens, um unser Medienzeitalter auf Normalmaß zurechtzurücken. Fast alle erzählen nämlich, dass sie von seinem Tod im Radio gehört haben. Fernsehen und Internet werden nicht erwähnt. Selbst die Tagesschau wird nie genannt. Der zeitgenössische Mensch der Bundesrepublik Deutschland hört also an einem 21.12.2014 um 18.00 Uhr, Sonntag und 4. Advent, tatsächlich nach wie vor einfach Radio.)
C. erzählte die kurioseste aller Geschichten. Sie war also an jenem Nachmittag in ihrem Keller, um dort ein bisschen aufzuräumen, vielleicht suchte sie auch etwas. Irgendwann stößt sie auf eine Kiste oder eine Schublade, aus der zwei rote Tücher zum Vorschein kommen. Eines der Tücher gehört ihrer Mutter oder ist ihr einmal von ihrer Mutter geschenkt worden, das andere der beiden roten Tücher hatte sie einmal bei einem Konzert von Udo Jürgens in die Hand gedrückt bekommen. Das eine der beiden roten Tücher war also eines jener berühmten roten Udo-Jürgens-Einstecktücher. C. stand also im Keller mit den beiden Tüchern in der Hand, aber sie wusste nicht mehr, welches das Tuch ihrer Mutter und welches jenes von Udo Jürgens gewesen war. Im Keller stehend, überlegte sich C. Folgendes: Um die Provenienz der Tücher zu klären, sollte sie sich einmal an das Schweizer Management von Udo Jürgens wenden, die müssten das eigentlich zweifelsfrei klären können.
Ich selbst habe mich auch schon einmal an das Management von Udo Jürgens gewandt, telefonisch. Ich bin sogar durchgekommen und sehr freundlich empfangen worden, auch wenn es nur um eine Kleinigkeit ging. Eine deutsche Tageszeitung hatte, unabsichtlich, in einem Udo-Jürgens-Konzertbericht von mir einen Satz so umformuliert (mein Satz war zugegeben etwas komplex), dass er einen Sinn wie folgt bekam: »Es muss jetzt endlich einmal Schluss sein mit Udo Jürgens.« Eigentlich hatte der Satz gesagt: »Es müsste jetzt mal Schluss damit sein, dass man Udo Jürgens immer nur für einen Schlagersänger hält.« Der Satz sagte ursprünglich also genau das, was ab dem Tod von Udo Jürgens alle sagten, bis hin zu Dicken, dem Sänger von Slime (siehe vorige Kolumne). Mein umformulierter Satz aber wünschte Udo Jürgens schlicht und ergreifend das Ende herbei, und das auch noch 51 Tage vor seinem wirklichen Tod! Ich rief also das Management von Udo Jürgens an, weil mir das wirklich peinlich war, aber sie beruhigten mich, indem sie mir sehr glaubhaft versicherten, Udo Jürgens lese solche Berichte sowieso nie. Ich sagte das dann auch der Zeitung, also dass Udo Jürgens so etwas nie lese. Sie druckten dennoch eine kleine Richtigstellung.
C. kam also mit den Tüchern aus dem Keller, es war der 21.12.2014, und oben sagte man ihr, dass übrigens gerade Udo Jürgens gestorben sei.
Das erzählte sie mir am Rand der Konstablerwache, wir waren beide in Eile, aber ich drückte ihr dennoch beim Fortgehen schnell die Hand. Diese Hand hatte jetzt nämlich eine neue Bedeutung für mich bekommen. In dieser Hand, an der sie meinen Ehering getragen hatte, hatte einstmals auch ein rotes Udo-Jürgens-Einstecktuch gelegen, von ihm überreicht. Der Ring, den ich an meiner Hand trage, steckte auf einem Finger, der auch eine Udo-Jürgens-Reliquie berührte.
Der alleinige Grund dafür ist ein Tor, das Eintracht Frankfurt geschossen hat.