Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
»Damals, als er anfing, sechsundvierzig,
war das Werk ein großer Haufen Schutt«
Udo Jürgens, Gefeuert
Neulich versuchte ich mal wieder, eine Udo-Jürgens-Platte zu kaufen. Ich ging in einen Hamburger Laden, die Plattenrille, Grindelhof 29. Ich wohne unweit von da. Es ist überhaupt ein beliebtes Viertel bei uns. Um die Ecke wohnt der Schauspieler Jens Harzer, und selbst Günter Grass soll hier eine Wohnung gehabt haben. Tagsüber ist alles voller Studenten, abends ist alles leer. In der Nähe gibt es eine Musikhochschule, die sich vor zwei, drei Monaten eminent gegen die Idee wehrte, die Straße, in der sie beherbergt ist, könnte in »Udo-Jürgens-Straße« umbenannt werden. Ich fand den Gedanken eigentlich ganz charmant, denn es handelt sich um die zum Alsterufer führende Milchstraße, in der die allerteuersten Restaurants hier in der Gegend angesiedelt sind. Das Gebiet ist übrigens auch unweit der Ecke, wo Hamburg mitten ins Ultra-Reichen-Gebiet ein Flüchtlingslager bauen will. Das hat die AfD-Anteile in unserem Stadtteil bei der letzten Wahl natürlich hochgetrieben. Ich habe allerdings nicht AfD gewählt (hätte Udo Jürgens auch nicht gemacht). Ich habe auch nicht CDU gewählt (das hätte Udo Jürgens gemacht). Ich habe Protest gewählt. Mehr noch, ich habe diesmal (sonst gehe ich ja nicht wählen) nicht nur ausschließlich Protest gewählt, sondern auf den Listen dieser Parteien dann auch nur ausländisch klingende Namen. Also nicht französisch oder so klingend, nein. Türkisch oder arabisch. (Ich habe also politisches Blackfacing betrieben.)
Neulich, es war noch vor Udo Jürgens‘ Tod, saß ich mit dem Leiter des Wiener Literaturhauses zusammen auf einen Heurigen. Wir kennen uns schon ewig, das heißt auch aus der Zeit, als ich mit Udo Jürgens noch nichts zu tun hatte. Ich wusste, dass Robert Huez, so heißt der Leiter, früher mal ein Peter-Maffay-Projekt gemacht hat. Damals saß er noch im beschaulichen Lana in Südtirol, dem Land, aus dem solche Giganten wie Reinhold Messner oder Markus Lanz stammen. Messner soll einmal auf einer Party gesagt haben, die einzige Extremerfahrung, die ihm noch fehle im bunten Strauß seiner Extremst-Erfahrungen, sei das XXXXXXXXXXXXXXXXXXX. Aber ich weiß gar nicht, ob ich das schreiben darf. Von Markus Lanz könnte man das nicht sagen, obgleich er inzwischen sicherlich auch gewisse Extremerfahrungen hinter sich hat. Robert Huez also gab es sich damals in Lana extrem mit Maffay. Er hatte eine Peter-Maffay-Coverband, spielte selbst die Westerngitarre und sang mit seinem tiefen Bass Maffay. Ich habe ihn als Maffay zwar nie gehört, und Maffay singt ja auch eher Bariton, aber es muss beeindruckend gewesen sein, denn Robert Huez hat eine noch tiefere Stimme als Gunter Gabriel. Als ich zum ersten Mal mit Robert Huez telefonierte, dachte ich: Mann, was für eine Stimme! Er ist übrigens nicht viel größer als Maffay, der seinerseits wiederum ein Gigant ist verglichen mit Freddy Quinn. Freddy Quinn ist körpergrößenmäßig der Zwillingsbruder von Kylie Minogue. Wenn Freddy Quinn mit Udo Jürgens aufgetreten wäre, hätte man wohl mit einem Podest arbeiten müssen.
Ich fragte Robert Huez damals in Wien, wie er denn zu Udo Jürgens stehe. Und siehe da, da trat mir wieder einmal der Sponti-Links-Jürgens entgegen. Ich habe ja die Theorie, dass Udo Jürgens so vielfältig existiert, in so verschiedene Udo-Jürgens-Teile aufgespalten ist, die alle ein eigenständiges Leben im Kopf der verschiedenen Zuhörer führen können, dass es fast nicht angeht, von dem einen Udo Jürgens zu sprechen. Meine Großmutter väterlicherseits z. B. hat Udo Jürgens auf folgendem Niveau gehört: Sie schaute jedes Jahr die Peter-Alexander-Show und dachte bis an ihr Lebensende, Die kleine Kneipe in unserer Straße sei von Udo Jürgens. Die kleine Kneipe warf sie immer mit Griechischer Wein zusammen. Sie trennte da nicht so genau. Und Lieder wie Lieb Vaterland nahm sie überhaupt nicht zur Kenntnis. Mein Vater erzählte immer, dass ihm, wenn draußen in Frankfurt die Deportationsmärsche durch die Stadt geführt wurden, seine Mutter gesagt habe, er solle sich umdrehen und da nicht hinschauen. So verhielt sich eine zukünftige Peter-Alexander-Hörerin. Und nur als Peter Alexander war für sie Udo Jürgens möglich. Ganz anders Robert Huez (der in Hamburg bei der Bürgerschaftswahl wahrscheinlich genau so gewählt hätte wie ich). Für ihn war Udo Jürgens der Sozialkampf-Udo. Der politische Aktivist. Sozusagen der Einbruch der 5. Kolonne ins bürgerliche Leben, noch vor Wolf Biermann. Mit solchen Songs wie Gefeuert saß Udo Jürgens damals sogar bei Ilja Richter in der Disco-Sendung. Schon bei der Vaterlandsbeschmutzung Lieb Vaterland hätten ihn gern einige erschossen, den Udo Jürgens, der vorher doch Everybody‘s Darling gewesen war, als er den Grand Prix d’Eurovision für Österreich geholt hatte, gerade einmal vier Jahre zuvor, 1966. Und dann beschmutzt dieser Rest- und Rumpf-Österreicher auch noch unser Vaterland (das Cover der Originalsingle zeigt eindeutig bundesdeutsche Farben) und singt von den dicken Managerbossen auf genau dieselbe Weise, wie es zehn Jahre später die in der westdeutschen Linksalternativbewegung so beliebte Gruppe Bots tun würde mit den etwas ironischen Zeilen: »Wir träumen von einer Revolution hier / doch wer will schon, daß dabei Blut fließt.«
Robert Huez muss zur Zeit von Gefeuert etwa elf Jahre alt gewesen sein. Da kommt einen plötzlich durch Udo Jürgens die Realität aber ganz hart an, auch wenn man in dem Alter von diesen brisanten Themen vermutlich genauso wenig verstanden haben dürfte wie von solch anderen brisanten Themen wie in Siebzehn Jahr, blondes Haar. Das ist ja das Wesen der Musik: Man hört sie früh, sie ist einem immer voraus, und wenn man sie später eingeholt hat (weil man selbst gefeuert ist oder auf einer siebzehnjährigen Blondine herumliegt), kann man sich vielleicht fragen, ob man nicht durch die frühgehörte Musik so vorprogrammiert wurde, dass alles weitere nur eine Konsequenz aus dieser ist. So wie meine Mutter ja immer zu sagen pflegte, man solle nicht Nietzsche lesen, weil der so negativ ist und einen verderbe. Über Schopenhauer sagte sie dasselbe. Und seit Lieb Vaterland hat sie vermutlich auch Udo Jürgens nicht mehr gehört. Vielleicht war sie ja schon immer von Udo Jürgens beleidigt und auf dem falschen Fuß erwischt, denn als Siebzehn Jahr, blondes Haar herauskam, war sie bereits 31, blond war sie sowieso nie gewesen, hatte bereits zwei Kinder (mich noch nicht), und mein Vater hatte schon eine Sekretärin, also kurz: Es war sowieso schon alles vorbei im Jahr 66.
Ich habe mich schon wieder um die Ecke geschrieben. Ich wollte eigentlich über die Schwierigkeiten schreiben, sich Udo-Jürgens-Platten zu kaufen. Es hat etwas mit dem Vollständigkeitszwang zu tun. Der Wunsch nach Vollständigkeit und Udo Jürgens – beides steht in einem problematischen Verhältnis zueinander und hat auch etwas mit dem Suhrkamp Verlag zu tun. Stichwort Suhrkamp-Archiv! Aber das kann ich erst beim nächsten Mal ausführen.